EuGHPolen demonstrieren auf Kirchberg: „Viele Leben hängen von Turow ab“

EuGH / Polen demonstrieren auf Kirchberg: „Viele Leben hängen von Turow ab“
Nach der Kundgebung vor dem Europäischen Gerichtshof zogen die rund 1.000 Teilnehmer aus Polen vor die tschechische Botschaft, um auch dort gegen die Schließung des Tagebaus Turow zu protestieren Foto: Editpress/Julien Garroy

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Knapp 1.000 Gewerkschaftler aus Polen haben am Freitagmorgen auf Kirchberg gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes demonstriert. Die Ordnungskräfte waren mit einem Großaufgebot vor Ort. Die Veranstaltung ist demnach auch friedlich verlaufen.

Es sind etwas mehr als 820 Kilometer vom polnischen Bergwerk in Turow zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Bei ruhiger Verkehrslage dürfte die Strecke durch Deutschland in weniger als neun Stunden zu bewerkstelligen sein – ohne Pausen versteht sich. Neun Stunden Autobahn, die am Freitag rund 1.000 Mitglieder der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc auf sich genommen hatten, um auf Kirchberg gegen eine Entscheidung des höchsten europäischen Gerichts zu protestieren.

„Ein Beweis für den Ernst der Lage, in der sich viele Betroffene aus dem Bergwerk befinden“, erklärt eine junge Polin aus Esch. Die Frau war als Übersetzerin von den aus Polen angereisten Gewerkschaftlern angeheuert worden. Bekannte hatten sie als Kontakt im Großherzogtum angegeben. „Über mehrere Ecken kennt man sich immer unter Polen“, scherzt die Sympathisantin in fast einwandfreiem Deutsch.

Am Freitagmorgen kurz vor 10 Uhr steht sie etwas abseits der Demonstranten, die sich mit orangefarbenen Warnwesten, weißen Solidarnosc-Flaggen, Trillerpfeifen und Tröten vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg eingefunden haben. Ihr Groll richtet sich gegen eine Anordnung des EuGH im Mai dieses Jahres, den Braunkohleabbau in besagtem Dreiländereck – Turow befindet sich an der Grenze zu Deutschland und Tschechien – unverzüglich einzustellen.

Wegen der Veranstaltung blieb der Boulevard Kennedy in Richtung Innenstadt mehrere Stunden lang gesperrt
Wegen der Veranstaltung blieb der Boulevard Kennedy in Richtung Innenstadt mehrere Stunden lang gesperrt Foto: Editpress/Julien Garroy

Größter Treibhausgas-Produzent Polens

Turow gehört zu den größten Bergwerken Mitteleuropas und gilt als größter Treibhausgas-Produzent Polens. 1994 erteilten die zuständigen polnischen Behörden der Firma PGE die Konzession für den Betrieb bis zum 30. April 2020. Ein Antrag auf Verlängerung dieser Konzession wurde bereits im Oktober 2019 eingereicht und von den Verantwortlichen genehmigt. Kurze Zeit später entschied sich PGE dazu, die Förderung in Turow bis 2044 zu verlängern. Auch dieser Antrag wurde von den polnischen Behörden gutgeheißen.

Sehr zum Unmut des Nachbarlandes im Süden: Die Regierung in Prag ist davon überzeugt, dass Polen durch die Erteilung dieser Erlaubnis gleich in mehrfacher Hinsicht gegen das EU-Recht verstoßen habe. Die Folge: Am 26. Februar 2021 reichte Tschechien Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ein, nachdem die EU-Kommission bereits im Dezember einer Beschwerde aus Prag stattgegeben hatte. Zur Begründung hieß es damals, die Verlängerung des Betriebes bis 2026 sei ohne die ausreichende Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Umwelt erfolgt.

„Die von der Tschechischen Republik vorgebrachten Tatsachen- und Rechtsgrundlagen rechtfertigen die Gewährung der einstweiligen Anordnung“, hieß es in einer Mitteilung des EuGH im Mai dieses Jahres. So befürchtet Prag etwa, dass der Grundwasserspiegel sinkt und die tschechische Grenzregion unter Lärm und Staub zu leiden hat. Bis zur Beilegung des Streits „über die Rechtmäßigkeit und die Umweltauswirkungen der weiteren Kohleförderung“ müsse die Arbeit im Tagebau eingestellt werden. Eine Anordnung, die von polnischer Seite aber abgelehnt wurde.

Im Gegenteil: Der Betrieb in Turow wurde bis auf Weiteres fortgesetzt, während Warschau Verhandlungen mit dem Nachbarland anstrebte. Polen wurde deshalb am 20. September von der EU-Kommission zur Zahlung von 500.000 Euro pro Tag aufgefordert. Die insgesamt 17 Treffen zwischen tschechischen und polnischen Regierungsvertretern haben allerdings bis heute keine nennenswerten Ergebnisse gebracht.

Die Kundgebung hatte auch das Interesse zahlreicher ausländischer Medien geweckt. Aus Polen waren gleich mehrere Kollegen mit angereist.
Die Kundgebung hatte auch das Interesse zahlreicher ausländischer Medien geweckt. Aus Polen waren gleich mehrere Kollegen mit angereist. Foto: Editpress/Julien Garroy

840 Beamte auf 1.000 Demonstranten

„Die Entscheidung des Gerichtshofs bedroht die Existenz vieler Menschen im polnischen Dreiländereck“, erklärt die Übersetzerin. Tatsächlich verdienen rund 10.000 Menschen ihre Lebensgrundlage mit dem Tagebau in Turow. „Nicht wenige haben deswegen den weiten Weg nach Luxemburg auf sich genommen, um gegen die Entscheidung des Gerichtshofes zu demonstrieren. Sie wollen den Folgen des Urteils ein Gesicht geben und zeigen, dass das Leben vieler Menschen von der Tätigkeit in Turow abhängt“, so die junge Frau. Nicht wenige befürchteten, dass bei einem Stopp der Arbeiten auch eine Stromknappheit im Winter droht.

So hatten sich nach 10 Uhr viele betroffene Kumpels unter die Gewerkschafter gemischt, deren Anführer vor dem Gerichtshof Reden auf Polnisch hielten. Gleichzeitig hatten sich auch ein Dutzend in Luxemburg ansässige Polen zu einer Gegendemo vor der Philharmonie eingefunden, wo sie für mehr Respekt gegenüber den EU-Gesetzen warben. Anschließend marschierten die rund 1.000 Teilnehmer kurz vor Mittag in Richtung Glacis, um vor der tschechischen Botschaft erneut ihr Anliegen öffentlich kundzutun. Kurz nach 13 Uhr war die Veranstaltung vorbei und die Teilnehmer wieder auf dem Weg nach Polen.

„Zwischenfälle hatten wir keine zu verzeichnen, weder vor dem Gerichtshof noch vor der tschechischen Botschaft“, hieß es am Nachmittag vonseiten der Luxemburger Polizei. Diese hatte bereits im Vorfeld in engem Kontakt mit den Veranstaltern der Kundgebung gestanden, sodass die gesamte Veranstaltung friedlich und geregelt ablaufen konnte. So hatten Einheiten der Polizei die Busse aus Polen bereits am frühen Morgen kurz hinter der deutschen Grenze abgefangen, um zusammen mit dem Konvoi zum Kirchberg zu fahren. „Das hat gut geklappt“, so die Einschätzung des Polizeisprechers Frank Stoltz.

Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort. Die Veranstaltung verlief aber friedlich.
Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort. Die Veranstaltung verlief aber friedlich. Foto: Editpress/Julien Garroy

Auch anschließend sei die Veranstaltung friedlich verlaufen. Mit maximal 1.000 Teilnehmern seien auch weniger Demonstranten erschienen, als im Vorfeld erwartet wurden. Tatsächlich waren die Behörden in einer Mitteilung am Donnerstag noch von mindestens 2.000 Anreisenden aus Polen ausgegangen. Entsprechend groß war auch das Polizeiaufgebot ausgefallen: Rund 840 Beamte waren am Freitagmorgen im Einsatz, darunter hundert Polizisten aus Belgien.

Auswirkungen auf den Verkehr habe man allerdings nicht ganz verhindern können. „Da die Veranstaltung aber im Vorfeld öffentlichkeitswirksam angekündigt wurde, konnten sich die Menschen darauf einstellen“, meint Stoltz. So hätten etwa viele Arbeitnehmer auf Home-Office zurückgegriffen, anstatt auf dem Kirchberg zur Arbeit zu erscheinen. Auch der öffentliche Transport wurde am Freitagmorgen stärker beansprucht als sonst. Tatsächlich blieben gleich mehrere Hauptachsen, darunter der Boulevard Kennedy in Richtung Innenstadt sowie der Kreisverkehr Schuman, eine Zeit lang gesperrt. Am frühen Nachmittag hatte sich die Situation in Luxemburg-Stadt jedoch wieder entspannt.

Realist
23. Oktober 2021 - 23.37

Wieso waren an jenem Freitag nicht unsere fff-Studenten vorort, um den polnischen Arbeitern zu erklären, wieso sie Jobs und Einkommen verlieren?

H.Horst
23. Oktober 2021 - 20.24

Polen weiss schon lange, dass die Anlage geschlossen werden muss. Anstatt sich mit EU-Milliarden auf den Strukturwandel vorzubereiten versucht die polnische Regierung aus innenolitischen Gründen die EU madig zu machen.

HTK
23. Oktober 2021 - 14.34

"Größter Treibhausgas-Produzent Polens" - darum hängen viele Leben davon ab!! Wir werden über kurz oder lang,die Kohle liegen lassen müssen.Sonst ist die ganze Klimadiskussion für die Katz. Und wenn diese Jobs verloren gehen,dann muss man die Leute anderwärtig beschäftigen.Was haben unsere Metaller gemacht als der Inder kam und die Hälfte dicht machte? Umschulung und Frührente.