Parlament im Ausnahmezustand: Luxemburger Politiker berichten aus Straßburg

Parlament im Ausnahmezustand: Luxemburger Politiker berichten aus Straßburg

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Um 20 Uhr fallen am Dienstagabend im Straßburger Stadtzentrum Schüsse. Die Tragödie spielt sich nur zwei Kilometer vom Europäischen Parlament entfernt ab. Über Stunden wird das EU-Gebäude komplett abgeriegelt. Nicht jeder ist mit dem Krisenmanagement einverstanden.

Nachdem ein Schütze um sich geschossen hat, riegelt die französische Polizei das Stadtzentrum von Straßburg am Dienstagabend komplett ab. Und auch das EU-Parlament zwei Kilometer nördlich der Innenstadt wird abgeschottet. 2.000 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt im 17-stöckigen Gebäudekomplex. Abgeordnete, parlamentarische Mitarbeiter, Dolmetscher, Journalisten. „Es kam eine E-Mail, in der erklärt wurde, dass das Gebäude abgeriegelt wird, weil es ein Attentat auf dem Weihnachtsmarkt gegeben hat“, sagt Charles Goerens. Der ALDE-Abgeordnete war bis 20.30 Uhr in einer Fraktionssitzung. Danach wollte er eigentlich in die Stadt zum Abendessen gehen. „Aber ich konnte das Gebäude nicht mehr verlassen.“

Denn Parlamentspräsident Antonio Tajani (EVP) hatte die Sicherheitsprotokolle aktiviert – und damit der internen „Generaldirektion Sicherheit“ (DG Safe) die Kontrolle übergeben. Die DG Safe trägt die Verantwortung für die Sicherheit von Personen, Dingen und Informationen des Politikbetriebs. Nach den Terroranschlägen in Brüssel im Jahr 2016 wurden neue, umfangreichere Richtlinien erarbeitet, stärkere Türen und Barrieren im Eingangsbereich gebaut, genauere Kontrollen und eigenes Sicherheitspersonal eingeführt. Kurz nach 20.30 Uhr ordnet die DG Safe an, dass alle Türen des Parlaments verriegelt werden.

„Dramatische, reale Umstände“

„Wir hatten schon Notfallübungen, in denen das Parlament abgeschottet wurde“, sagt Marjory van den Broeke, stellvertretende Pressesprecherin des EU-Parlaments. „Aber nicht solche dramatischen und realen Umstände.“ Bei mutmaßlichen Terrorangriffen wie der Schießerei in Straßburg stehe die DG Safe in direktem Kontakt mit der Polizei. „Es war die Polizei, die die Anweisung gab, dass das Gebäude geschlossen werden muss“, sagt Van den Broeke. Aber es ist die DG Safe, die dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden.
Und nicht jeder war offenbar über deren Auslegung glücklich.

Um 2.30 Uhr in der Nacht verkündet Antonio Tajani, dass Türen wieder geöffnet werden. Doch zuerst durften offenbar nur die Parlamentarier hinaus – unter schwerer Polizeieskorte. Die parlamentarischen Mitarbeiter mussten laut Tageblatt-Informationen erst einmal bleiben. Bei den im Haus eingeschlossenen regte sich Unmut. Auch der Luxemburger EVP-Abgeordnete Christophe Hansen stört sich an der Entscheidung. „Das kam nicht gut an, schließlich ging es um unsere Kollegen“, sagt er. Hansen ist gleich doppelt betroffen. Denn eine der Parlamentsmitarbeiterinnen, die mit ihm im Gebäude festsitzt, ist seine schwangere Frau.

Van den Broeke erklärt: „Ich war selbst im Parlamentssaal, als der Präsident die Evakuierungsprozedur in die Wege leitete“, sagt sie. „Es war klar, dass auch die Mitarbeiter irgendwann gehen können – aber man muss mit ja mit irgendjemandem anfangen.“ 2.000 Menschen könnten nicht auf einmal ein Gebäude verlassen.

Stadtzentrum blieb länger gesperrt

Als weiteres Problem stellte sich offenbar heraus, dass die Türen zwar wieder geöffnet waren – aber nicht alle zu ihren Unterkünften im Stadtzentrum durften. Denn das war noch von der Polizei abgeriegelt. Diejenigen, die mit dem eigenen Auto dorthin wollten, mussten umdrehen. Auch Menschen, die zu Fuß in die Innenstadt wollten, wurden von der Polizei zunächst ins Parlament zurückgeschickt. Das Viertel Neudorf, in dem die Beamten den Täter vermuteten, war bis in die Morgenstunden gesperrt.

Ausgerechnet dort lag das Hotel von Christophe Hansen und seiner schwangeren Frau. „Wir waren bis 7.30 Uhr im Parlamentsgebäude. Und es gab nicht einmal ein Bett, in das sie sich hätte legen können“, sagt er. „Man hat schon bemerkt, dass der Parlamentspräsident mit dem Krisenmanagement etwas überfordert war.“

Van den Broeke sieht das anders. Für Schwangere habe das Parlament einen speziellen medizinischen Notdienst, der die ganze Nacht über besetzt gewesen sei, sagt sie. Die Sofas, die in jedem Abgeordnetenbüro stünden, könnten zudem allesamt zu Betten umfunktioniert werden.

Gestern nahm das Parlament wieder normal das Tagesgeschäft auf. In der Plenarsitzung wurden ausgerechnet die Vorschläge für eine neue EU-Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus diskutiert – und angenommen.

Charles Goerens findet, dass die Ereignisse von Straßburg eine wichtige Lektion für das Parlament waren. „Das bringt uns auf den Boden der Realität“, sagt er. „Wir müssen uns vergegenwärtigen, wie verletzbar wir sind. Null Risiko ist passé. Wenn das jemals war, jetzt ist es nicht mehr.“

Realist
13. Dezember 2018 - 13.31

Zitat Charles Goerens: "Das bringt uns auf den Boden der Realität". Pardon, Herr Goerens, aber das halte ich trotz näher kommender Einschläge immer noch für ein Gerücht. Weiter: "Null Risiko ist passé. Wenn das jemals war, jetzt ist es nicht mehr.“ Im Grunde begrüssenswert, diese späte Einsicht. Wird die Politik aber jetzt endlich mal etwas gegen diesen Missstand unternehmen oder wird das einfach weiter unter "alternativlos" verbucht?