Obdachlosigkeit ist jetzt in Ungarn illegal – Orban sagt den Armen den Kampf an

Obdachlosigkeit ist jetzt in Ungarn illegal – Orban sagt den Armen den Kampf an

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Seit einer Woche ist es in Ungarn illegal, obdachlos zu sein. Bei wiederholten Aufgriffen durch die Polizei drohen Gefängnis und Zwangsarbeit. Doch es gibt Gegenwind für Orbans Politik. Aus der Presse, aus der Zivilgesellschaft – und von unerwarteter Stelle.

Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar von unserem Redakteur Armand Back. 

Obdachlos sein bedeutet an erster Stelle eines: Stress. Stress, einen Schlafplatz zu finden. Stress, etwas zu essen beisammen zu kriegen. Überlebensstress demnach. In Ungarn kommt ein Stressfaktor hinzu. Seit vergangenem Montag ist Obdachlossein in Ungarn illegal. Polizei und Gerichte ziehen das Gesetz durch. Obdachlose müssen nun auch auf der Hut vor der Staatsmacht sein. Wer dreimal erwischt und verwarnt wurde, muss ins Gefängnis. Oder wird zur gemeinnützigen Arbeit abkommandiert. Wer sich der Polizei widersetzt, wandert gleich vor den Richter.

Während Ungarns rechtsnationale Regierung und Premier Viktor Orban das Gesetz als Wohltat an Obdachlose verkaufen, hagelt es Kritik. „An verschiedenen Orten gibt es viele Obdachlose“, sagt Tessza Udvarhelyi von der NGO „A Város Mindenkié“ (deutsch: „Die Stadt gehört allen“) gegenüber dem Tageblatt, „aber das lässt sich doch nicht so lösen.“ 30.000 Obdachlose gäbe es in Ungarn, aber nur 10.000 Plätze in Heimen. Was dem Problem eine Facette hinzufügt. Der einzige Ausweg für Obdachlose, einer Strafe zu entgehen, ist der Gang ins Heim. Wenn es aber nicht genug Plätze gibt, können sich viele Obdachlose gar nicht an das Gesetz halten.

„Grausam und gegen die Menschenrechte“

Im Juni, als Ungarns Regierung das Gesetz beschlossen hat, ließen die ersten Reaktionen nicht lange auf sich warten. Und sie hatten Gewicht. So bezeichnete Leilani Farha, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für angemessenen Wohnraum, das Gesetz als „grausam und unvereinbar mit den internationalen Menschenrechten“. Im September leitete das Europäische Parlament wegen des Vorwurfs der Verletzung von EU-Grundwerten ein Strafverfahren gegen Ungarn ein. Der Beschluss stützte sich auf einen Bericht der niederländischen Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini. Auch hier wird der Umgang der ungarischen Behörden mit Obdachlosen kritisiert.

Anita Komuves ist Journalistin bei der unabhängigen Online-Zeitung Átlátszó.hu (átlátszó ist ungarisch für transparent). „Seit den 1990er Jahren, seit dem Ende des Kommunismus, gehört Obdachlosigkeit zum Stadtbild der größeren Städte in Ungarn dazu“, sagt Anita Komuves auf Tageblatt-Nachfrage.

Bisher nur vier Verwarnungen

In der vergangenen Woche, sagt die Investigativjournalistin, sei viel mehr Polizei in Budapest an den Orten unterwegs gewesen, wo sich Obdachlose gerne aufhielten, vor allem in den Unterführungen. Bislang seien vier Verwarnungen vor Gericht ausgestellt worden. Nach der dritten hat der Richter keine Wahl mehr – „dann muss er dich ins Gefängnis schicken“, sagt Anita Komuves.

Die Aktivistin Tessza Udvarhelyi weist auf die bereits lange Jahre währenden Anstrengungen der Orban-Regierung hin, Obdachlosigkeit zu kriminalisieren. Im Jahr 2010 gab es demnach eine erste Version dieses Gesetzes. Damals schritt aber das Verfassungsgericht ein. Wie reagierte Ungarns Politik? Sie ließ die Verfassung ändern. Seit 2013 ist dort festgehalten, dass Obdachlosigkeit (oder vielmehr das Leben im öffentlichen Raum) illegal ist. Die Opposition sprach damals von einem Putsch gegen das Verfassungsgericht, dem seitdem in dieser Frage die Hände gebunden sind. Auch ein Gang nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mache da wohl kaum mehr Sinn, befürchtet Tessza Udvarhelyi.

„Nur die Spitze des Eisbergs“

Die Aktivistin sieht noch ein übergeordnetes Problem. „Obdachlosigkeit ist nur die Spitze des Eisbergs.“ Ungarn fehle es an Sozialwohnungen, überhaupt an einer Wohnungspolitik, die diesen Namen auch verdiene und die nicht nur die Wohlhabenden bedenke. „Millionen Menschen in Ungarn leben in prekären Wohnverhältnissen und können sich sogar diese Mieten kaum leisten“, sagt Tessza Udvarhelyi. „Obdachlosigkeit ist nur der extremste Ausdruck dieses nationalen Problems.“ So wundert es auch nicht, dass die meisten Obdachlosen weiße Ungarn sind. „Es gibt natürlich auch Roma und Sinti unter ihnen, aber kaum Migranten“, sagt die Aktivistin.

Unerwartete Unterstützung bekamen Tessza Udvarhelyim, Anita Komuves und alle anderen, die sich gegen das Gesetz auflehnen, Ende vergangener Woche. Vor dem Gericht und als Unterzeichner eines offenen Briefes sprachen Anwälte ihren Unmut aus und forderten die Richter auf, die zur Anzeige gebrachten Ordnungsverstöße nicht zu ahnden. Polizei und Justiz seien nicht dafür da, das Sozialsystem zu ersetzen, heißt es in dem Brief.
Tessza Udvarhelyi freut sich auf jeden Fall über die unverhoffte Unterstützung. Das mache Hoffnung. So etwas habe es noch nie gegeben in ihrem Land, wo der Rechtsbereich traditionell sehr konservativ sei. Im Brief heißt es weiter: „Obdachlosigkeit ist eine der schrecklichsten Situationen, in denen Menschen sein können – der Endzustand der Armut und Hoffnungslosigkeit.“ Und eben keine Straftat.

Arme als Opfer rechter Politik – In Ungarn ist Obdachlosigkeit illegal

roger wohlfart
26. Oktober 2018 - 17.45

Das ist Zynismus pur, mit Strafen gegen die Armut vorgehen! Wann wird Trump in den USA nachziehen? Armut ist illegal, Korruption und Steuerhinterziehung sind normal, genauso wie die Bereicherung auf Kosten der Armen. Diese Welt kann die Hölle sein!

J.C. KEMP
23. Oktober 2018 - 10.41

Ist doch einfach: man verbietet den Menschen arm zu sein und schon hat man die Armut aus der Welt geschafft. Vielleicht klappt das auch mit der Krankheit, Orban?

KTG
22. Oktober 2018 - 6.52

Der Rassismus von Herr Orban ist leider noch nicht illegal.