Teil 3Opferrolle vs. Sprachrohr: Wie sich Wort und Tageblatt in der „Thorn-Ära“ positionierten

Teil 3 / Opferrolle vs. Sprachrohr: Wie sich Wort und Tageblatt in der „Thorn-Ära“ positionierten
Jean Wolter im Jahr 1975 als Journalist beim Luxemburger Wort: „Da gibt es Leute, die die an sich sehr respektable Meinung vertreten, einem christlich motivierten Blatt wie dem Luxemburger Wort stehe die politische Polemik, d.h. die mehr oder weniger kämpferische Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenseite, schlecht zu Gesicht. Foto: Editpress-Archiv

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Die „Ära Thorn“ (1974-1979) war die letzte Phase eines unerhörten Pressestreits zwischen Luxemburger Wort und Tageblatt. Wie gingen beide Medien miteinander um? Welche Rolle spielte der „Luussert“? Und wie ist dieser Pressekonflikt zu bewerten? Der letzte Teil einer Spurensuche.

Das Luxemburger Wort (LW) hat vor allem im Diskurs zur Abtreibung Hunderte von Artikeln gedruckt, die vom Standpunkt des christlichen Menschenbildes für den unveräußerlichen Schutz ungeborenen Lebens ab der „Zeugung“ eintreten. Neben der „Luussert“-Glosse wurden vier Diskurse untersucht: „Abtreibung, Ehescheidung, Strafvollzug und Abschaffung der Todesstrafe“. Das Korpus der Untersuchung setzt sich aus 470 Textzeugen zusammen.

Alle Teile der Serie:
Teil 1: Unerhörter Pressestreit zwischen Luxemburger Wort und Tageblatt: Die „Ära Thorn“
Teil 2: Schadenfreude und konservative Frustrationsentladung: „De Luussert“
Teil 3: Opferrolle vs. Sprachrohr: Wie sich Wort und Tageblatt in der „Thorn-Ära“ positionierten

Dabei kamen neben LW-Journalisten mehrheitlich Akteure aus dem Medizinwesen und andere externe Schreibende zu Wort. Damit darf die „Luussert“-Glosse, so perfide sie auch bisweilen war, nicht als stellvertretend für das Publikationsverhalten des LW im Untersuchungszeitraum gelten. Für progressiv-liberale Rezipienten ist die Reduzierung des LW-Agierens auf die „Luussert“-Glosse eine ebenso willkommene wie reduktionistische Lesart.

Ausschlussmechanismen

In keiner Weise soll jedoch das Luxemburger Wort für die diskursethischen Fehlleistungen, die es auch im Abtreibungsdiskurs gegeben hat, exkulpiert werden. Im Sinne einer nüchtern-nuancierten Bewertung sei jedoch angeführt, dass das LW mit Ausschlussmechanismen konfrontiert wurde. Diese gab es beim Tageblatt besonders im Abtreibungsdiskurs. Man sprach Männern, besonders aber Geistlichen wie bspw. dem LW-Direktor Abbé André Heiderscheid kurzerhand das Recht ab, in diesen Diskurs einzugreifen. Dies wurde vom LW als Beweis dafür gewertet, dass die Mitte-Links-Koalition ausschließlich aus gesellschaftspolitischen Gründen und nicht zum allgemeinen Wohl des Landes zustande gekommen war.

Dazu noch einmal zwei repräsentative LW-Stimmen aus dem Untersuchungszeitraum, zum einen ein Anonymus, zum andern der weltliche Leitartikler und CSV-Mandatsträger Jean Wolter. Beide Aussagen stammen aus der Frühphase des Presse- und Politkonflikts. In einem Leserbrief mit dem Titel „,Konservativ‘, ein neues Schimpfwort“ prangert der anonyme Verfasser eine seiner Meinung nach überheblich-besserwisserische Haltung vor allem in puncto gesellschaftlicher Reformpolitik an, wenn es um „jene verblasene Arroganz, die peinliche Besserwisserei, die anmaßende Überheblichkeit der ‚Progressiven‘, der notorischen Reformer, und ihre Unduldsamkeit gegenüber politisch und gesellschaftlich Andersdenkenden“ („B“ 1974: 3) geht.

Jean Wolter nimmt Stellung

Jean Wolter seinerseits nimmt Stellung zu interner, von Leserseite an das LW gerichteter Kritik am kämpferischen Tonfall, den das Oppositionsmedium in seiner ungewohnten Rolle bisweilen anschlägt: „Da gibt es Leute, die die an sich sehr respektable Meinung vertreten, einem christlich motivierten Blatt wie dem Luxemburger Wort stehe die politische Polemik, d.h. die mehr oder weniger kämpferische Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenseite, schlecht zu Gesicht“ (Wolter 1975: 3). Diese Aussagen versinnbildlichen die Beweggründe seitens des in seinem Selbstverständnis tangierten LW, einen Konflikt auszutragen, der etliche Ressourcen gebunden hat und schlussendlich für keinen der vier Diskurse auf dem politischen Entscheidungsfeld von Erfolg gekrönt war. Mag dies auch für die eigentliche Genese des Konflikts nur peripher zum Tragen gekommen sein, so erinnern diese stellvertretenden Aussagen mutatis mutandis an das für das LW äußerst schwierige 19. Jahrhundert.

Gleichwohl sollte die antiklerikale Grundstimmung, die den Katholiken Luxemburgs und katholischen Presseakteuren wie Ernest Grégoire bzw. dem Apostolischen Vikar in Luxemburg, Jean-Théodore Laurent, widerfuhr, nicht unterschlagen werden. Das wird bei der Lektüre des vierten Bandes der Pressegeschichte von Pierre Grégoire (1966) besonders sinnfällig. Dies bedeutet freilich nicht, dass es seitens des LW keine Anstalten gab, sich als Oppositionsmedium mitunter in einer bequemen Opferrolle einzurichten. Jedenfalls sind die soeben dargelegten Analogien bezüglich des Selbstverständnisses nicht zu negieren.

Sprachrohr der sozialliberalen Koalition

Hervorzuheben ist auch die schwierige Lage des Tageblatt, welches sich gesellschaftspolitisch sowohl von konservativen Kräften (CSV und SdP) als auch von der KPL abgrenzen musste, von Letzterer im Hinblick auf die ökonomische Ausrichtung einer sozialen Marktwirtschaft, die es gegen die Heilsversprechungen einer Planwirtschaft zu verteidigen galt. Quasi über Nacht geriet das Tageblatt in die Rolle des Sprachrohrs einer sozialliberalen Koalition, deren Klammer ambitionierte gesellschaftspolitische Projekte bildeten und der im Zuge der Weltwirtschaftskrise vor allem in der Eisenindustrie ein viel gelobtes Krisenmanagement gelang. In beiden Zeitungen wurden daneben unmittelbar gewerkschaftliche Fronten ausgetragen: Das LW schaltete regelmäßig LCGB-Beiträge, während das TB etliche Stellungnahmen des LAV publizierte, aus dem gegen Ende der Legislaturperiode der OGBL hervorging.

Festzuhalten bleibt schließlich, dass mit einer Latenzzeit von gut sechs Jahren gegenüber dem europäischen Phänomen „1968“ die diskursive Konfrontation zwischen konservativen und linken bzw. linksliberalen Kräften in Luxemburg zwischen 1974 bis 1979 ausgetragen wurde. Anders als jedoch im europäischen Ausland fand der Konflikt trotz einer nicht zu leugnenden Straßendemokratiebewegung in Form eines seit dem Zweiten Weltkrieg in dieser Schärfe und Dauer unerhörten Pressekonflikts statt.

„Guerre des plumes“

Im Hinblick auf die Potenziale von Polemik i.A. können demokratiefördernde Effekte nur dann generiert werden, falls Polemik nicht der Vergegenständlichung, also dem Sprechen über jemanden, sondern der Verständigung mit jemandem, dient. Wird Polemik diesem Ziel überantwortet, kann sie unter gewissen Umständen zur Frontenklärung, Gedankenschärfung und im Kampf gegen politisch korrekte Benennungspurismen eingesetzt werden. In Anlehnung an Heinrich von Kleists Schrift „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ könnte von einer „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Polemisieren“ die Rede sein.

Es wäre jedoch ebenso naiv wie gefährlich, eine wie auch immer geartete Handlungsanweisung für das Polemisieren auszuhändigen. Eine „guerre des plumes“ ist sowohl von der Genese, vom Verlauf als auch von den Folgen für sämtliche Beteiligten kaum schwer einzustufen. In den Händen von Populisten rezenten Typs wird Polemik zur Hetze, in ihrer geistreich-zuspitzenden Spielart hingegen kann sie Diskurse beleben und dem Gegner Argumente abzwingen, die Letzterer ohne den Zeitdruck und die entstandene Erwartungshaltung wohl nicht geliefert hätte. Evidenz- und Zeitmangel generieren bekanntlich auch bei der freien Rede Einfälle, die in Situationen der Ruhe und Harmonie demselben Sprecher nicht ohne Weiteres in den Sinn gekommen wären.

*Zur Person

Eric Bruch wurde 1979 geboren und hat sein Abitur 1999 am LGE abgeschlossen. Danach hat er ein Studium der Germanistik und Romanistik in Luxemburg, Trier, Nancy und Perugia absolviert. Er ist seit 2010 Deutschlehrer in Esch, war von 2012 bis 2017 Sekretär der Sekundarlehrer-Gewerkschaft Apess.
Er hat im November 2019 an der Uni.lu an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften promoviert. Der Titel seiner Dr.-Arbeit: „Polemik ante portas? Die Regierung ‚Thorn‘ im synchronen Spiegel von Luxemburger Wort und Tageblatt. Eine diskurslinguistische und -ethische Untersuchung“.

  • B.: „,Konservativ‘, ein neues Schimpfwort“. LW, 6.7.1974, S. 3.
  • Wolter, Jean: Die Meinung unserer Leser. LW, 8.1.1975, S. 3.
  • Grégoire, Pierre: Drucker, Gazettisten und Zensoren. Durch vier Jahrhunderte luxemburgischer Geschichte. 5 Bände. Sankt Paulus. Luxemburg 1966.