Brexit-InterviewÖkonom Richard Grieveson sieht Briten „erst am Anfang einer langen politischen Krise“

Brexit-Interview / Ökonom Richard Grieveson sieht Briten „erst am Anfang einer langen politischen Krise“
Eine neue 5-Cent-Münze, um den Brexit zu feiern: Das Geldstück geht am Freitag in Umlauf, Ökonom Richard Grieveson zufolge beginnen für die Briten die echten Probleme dann erst recht  Foto: AFP/HM Treasury

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Großbritannien steht erst am Anfang einer langen politischen Krise, sagt der britische Ökonom Richard Grieveson. Wie schon in den 1970ern würde auch beim Brexit besonders die Arbeiterklasse leiden.

Tageblatt: „Take back control“, sagten die Brexiteers, bald haben sie die Kontrolle wieder. Ab kommendem Samstag ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil der Europäischen Union. Die regierenden Tories wünschen sich ein „Singapur an der Themse“ und meinen damit einen deregulierten Finanzplatz für Kapital aus der ganzen Welt und niedrige Steuern. Kann das funktionieren?

Richard Grieveson: Nein, wie sollte es? Großbritannien ist nicht Singapur, schon alleine von der Größe her, hat eine ganz andere Wirtschaft. Weltweit gibt es drei große Wirtschaftsblöcke: China, die EU und die USA. Großbritannien ist nicht mächtig genug, um einen vierten Block zu bilden, also muss es sich in einen der drei bestehenden einfügen. Mit dem Singapur-Modell gingen ein deregulierter Finanzplatz und niedrigere Steuern einher. Die EU aber sorgt sich vor einem Großbritannien mit verwässerten Arbeits- und Sozialstandards, verständlicherweise. Doch je tiefer Großbritannien hier ansetzt, desto mehr verliert es den Zugang zum europäischen Markt. Sollte sich London Richtung Singapur entwickeln, wären die wirtschaftlichen Verluste enorm. Das ist politisch kaum möglich. Wirtschaftlich sinnvoll wäre es, näher an der EU zu bleiben, aber dann stellt sich die Frage, wozu der Brexit überhaupt gut sein soll.

Müssen die Brexiteers also ihr wichtigstes Versprechen, nach dem Brexit wieder alles selbst entscheiden zu können, irgendwann brechen?

Aufgrund der dann drohenden wirtschaftlichen Folgen wird es sehr schwer, dieses Versprechen einzuhalten. Um sich einem Modell wie in den USA oder Australien anzunähern, bräuchte es tiefe Einschnitte, realistisch ist das nicht. Taktisch waren die Tories klug, der Wahlspruch „Get Brexit Done“ hat politisch funktioniert. Doch das zu liefern, ist eine andere Geschichte: Migration kontrollieren, ein Handelsabkommen mit den USA abschließen, sich von der EU lösen – all diese Versprechen können nicht ohne Verluste für Unternehmen eingelöst werden. Am Ende wird wohl eine Enttäuschung stehen.

Was Premier Boris Johnson will, abgesehen von Macht, ist schwer zu sagen

Richard Grieveson, Ökonom

Haben die Tories überhaupt konkrete Ideen, wie ihr Land nach dem Brexit aussehen soll?

Es gibt eine große Gruppierung in der Partei, die wirklich hohe Risiken eingehen will: So weit weg von der EU wie möglich, mehr in Richtung der englischsprachigen Welt, also USA, Kanada und Australien. Was Premier Boris Johnson will, abgesehen von Macht, ist schwer zu sagen. Welche Beziehungen zur EU und zu den USA er anstrebt und was die Tories nun insgesamt liefern wollen und wie, ist völlig unklar.

Man weiß nicht, was Boris Johnson Prinz Harry hier gerade erklären will, ebenso schleierhaft sind die Zukunftspläne des britischen Premiers für die Wirtschaft des Vereinigten Königreiches
Man weiß nicht, was Boris Johnson Prinz Harry hier gerade erklären will, ebenso schleierhaft sind die Zukunftspläne des britischen Premiers für die Wirtschaft des Vereinigten Königreiches Foto: AFP/Stefan Rousseau

Muss Londons Finanzwelt den Brexit genauso fürchten wie große Teile der übrigen britischen Wirtschaft?

Nicht wirklich. Es sollte recht einfach sein, das Äquivalenzprinzip aufrechtzuerhalten (es besagt, dass der Handel in jenen Branchen und Bereichen bestehen bleibt, in denen Großbritannien sich weiterhin an EU-Regeln hält, Anm. d. Red.). Viele Finanzunternehmen haben bereits Personal aus Großbritannien und vor allem aus der City of London auf den Kontinent verlegt. Meine beiden Jobs, die ich früher in London gemacht habe, sind mittlerweile nach Frankfurt abgewandert. Die Finanzfirmen sind besser vorbereitet als kleine Unternehmen, die mit der EU handeln. Für sie wird es schwieriger.

In knapp zehn Monaten muss nun ein Freihandelsabkommen vereinbart werden. Sollten dadurch Zölle und Quoten auf Waren und Gütern verhindert werden, würden Unternehmen dann gar nicht so sehr unter einem Brexit leiden?

Die Unternehmen werden so oder so schwer getroffen. Sogar in einem Szenario, in dem sich London beispielsweise weiter an EU-Regulierungen zu Arbeitsrechten hält, gibt es Verluste für den Handel: Kontrollen an den Grenzen, ein bürokratischer Mehraufwand – das kostet Zeit und Geld. Sollte Großbritannien sich von den EU-Regeln verabschieden, was wahrscheinlicher ist, wird es noch komplizierter. Die Autoindustrie trifft es dann besonders hart. Autos werden ja nicht in einem Land hergestellt. Bis das Produkt fertig ist, geht es bis zu ein halbes Dutzend mal zwischen Großbritannien und der EU hin und her.

Und langfristig?

In London wird unterschätzt, wie wichtig die EU-Mitgliedschaft für das Business-Modell Großbritanniens ist. Dieses basiert auf den Investitionen japanischer, US-amerikanischer und anderer ausländischer Unternehmen. Das taten die aber nicht aus Nächstenliebe zu den Briten. Da war einerseits eine hohe Offenheit gegenüber ausländischen Investitionen, da war politische Stabilität – und das bot vor allem einen reibungslosen Zugang zum riesigen EU-Markt. Ohne EU-Mitgliedschaft gibt es für Japaner keinen Grund, in Großbritannien zu investieren. Doch das Vereinigte Königreich braucht diese Auslandsinvestitionen, um sein Leistungsbilanzdefizit zu begleichen: Es ist mit vier bis fünf Prozent des BIP das zweithöchste nach den USA. Langfristig wird Großbritannien dorthin zurückkehren, wo es in den 1970ern schon einmal war: Das Wachstum wird sehr langsam sein.

Damals kam es zu großen sozialen Protesten. Wird wieder die Arbeiterklasse die Rechnung zahlen?

Hauptbetroffen sind erneut die Industrien, die der Arbeiterklasse Jobs bieten. Die City of London wird immer einen Weg finden. Leiden werden die Städte in Mittel- und Nordengland und in Südschottland, wo die Autofabriken stehen. Exporte werden teurer, ein Teil der Produktion wird in die verbleibenden EU-Staaten auswandern, Jobs werden verschwinden. Das wird auch politisch schwierig. Eine Zeit lang wird die Regierung Brüssel die Schuld geben, aber wie das in 15 Jahren aussieht, ist eine andere Sache. Wir befinden uns erst am Anfang einer langen politischen Krise in Großbritannien.

Nach der Krise in den 1970ern deregulierte und privatisierte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher die britische Wirtschaft und brach so mit dem britischen Nachkriegskonsens. Boris Johnsons Tories versprechen eine Wende zum Guten dank einer weiteren Liberalisierung. Wie soll das gehen?

Es gibt sehr wenig, was man noch privatisieren könnte. Zudem geht die Stimmung in der Bevölkerung in eine andere Richtung. Medien wie Spectator und Telegraph, die auf der rechten Seite stehen, unterstützen die alten Ideen Thatchers, neue gibt es keine. Die Verbindungen ins alte Empire, also zu Kanada und Australien, aufleben zu lassen, zu deregulieren, die Steuern zu senken – das ist die Richtung, in die sie gehen wollen. Johnson verspricht Investitionen in die Infrastruktur Nordenglands, sagt aber nicht, wie das mit niedrigeren Steuern finanziert werden soll. Will Johnson aber die ehemaligen Labour-Hochburgen in dieser Region behalten, dann muss er seine Versprechen einlösen. Und das wird schwierig.

Im Streit mit London hat sich die EU bisher nicht auseinanderdividieren lassen. Nun stehen harte Verhandlungen zwischen Brüssel und London über ein Freihandelsabkommen an. Welche Sprengkraft haben die Partikularinteressen der Mitgliedstaaten?

Die Geopolitik wurde bisher vernachlässigt. Wenn London wirklich schmutzig spielen will, kann Johnson militärische Aspekte einbringen und damit drohen, die in Estland zum Schutz gegen Russland stationierten britischen Soldaten abzuziehen. Johnsons Vorgängerin Theresa May hat das nicht getan, was Johnson angeblich sehr verärgert hat. Das könnte bei den Verhandlungen zum Thema werden, Johnson könnte diese nukleare Option nutzen, um die Mitgliedstaaten auseinanderzudividieren. Die Sache sieht nun einmal von Estland aus betrachtet anders aus als von Frankreich oder Belgien.

Manche Beobachter sehen den beginnenden Zerfall des Vereinigten Königreichs. Die größte Partei Schottlands, die nationalistische SNP, will ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Könnten sich die Schotten ihre Unabhängigkeit überhaupt leisten?

Beide Seiten glauben zu wissen, was Schottland wirklich kostet, aber es gibt unterschiedliche Zahlen. Es könnte kurzfristig schwer sein, aber langfristig kann sich Schottland seine Unabhängigkeit leisten, wobei es stark vom Ölpreis abhängig bliebe. Dass Schottland das neue Norwegen wird, wie sich der ehemalige schottische SNP-Regierungschef Alex Salmond das wünscht, ist nicht realistisch, so reich ist Schottland nicht. Aber das ist auch nicht das Problem. Ich komme von der Grenze, meine Familie lebt auf beiden Seiten. Es ist eine emotionale Frage. Die Menschen fühlen sich von London nicht repräsentiert, sondern im Stich gelassen. Die Schotten haben sich eine neue Identität aufgebaut, sie sind schottischer geworden. War ich als Kind auf einer Hochzeit, trug kein Mann einen Kilt, heute fast alle. Die Unabhängigkeit wird fast sicher kommen, aber nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil die jungen Menschen sie einfach wollen.


Zur Person: Richard Grieveson, geboren 1984 im nordenglischen Hexham, ist seit 2019 stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Zuvor war der Ökonom bei der Economist Intelligence Unit (EIU) als Regionalmanager für Europa sowie Regionaldirektor für Europa bei der Ratingagentur Fitch Ratings in London tätig. Seine Forschung widmet er vorwiegend globalen und europäischen Wirtschaftsaussichten, der Türkei und dem Westbalkan sowie dem Brexit.
Zur Person: Richard Grieveson, geboren 1984 im nordenglischen Hexham, ist seit 2019 stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Zuvor war der Ökonom bei der Economist Intelligence Unit (EIU) als Regionalmanager für Europa sowie Regionaldirektor für Europa bei der Ratingagentur Fitch Ratings in London tätig. Seine Forschung widmet er vorwiegend globalen und europäischen Wirtschaftsaussichten, der Türkei und dem Westbalkan sowie dem Brexit. Foto: wiiw