Belgien im Doppel-Schock Niederlage in Katar, Ausschreitungen in Brüssel

Belgien im Doppel-Schock  / Niederlage in Katar, Ausschreitungen in Brüssel
Die schnelle Eskalation der Gewalt wirkt in Belgien nach Foto: AFP/Kenzo Tribouillard

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Die Aufräumarbeiten nach den Ausschreitungen in der belgischen Hauptstadt verliefen zügig. Viel schneller als das Aufarbeiten der WM-Niederlage gegen Marokko und der Hintergründe einer Eskalation von Gewalt und Zerstörungswut von Marokkanern an mehreren Orten.

Am späten Montagmittag halten die ersten Metrozüge auch wieder an der Station Lemonnier. Die schweren Beschädigungen am Eingang sind repariert. Draußen, auf dem Boulevard, erinnern große, in den Asphalt eingebrannte Löcher an den Ort, an dem am Vorabend E-Scooter in Brand gesteckt wurden, Autos brannten. Jetzt fließt der Verkehr, sitzen die Menschen in den Straßencafés, haben die Läden geöffnet, als wäre nichts geschehen. 3,40 Euro kosten die Kaki, 6,90 die Kaktusfeigen. Doch in den Handys scrollen die Bewohner nach weiteren Infos über die Geschehnisse des Vortages und was sie für ihr zentrales Brüsseler Viertel, die marokkanischen Gemeinschaften in der EU und den weiteren Verlauf der WM bedeuten.

Die örtliche Zeitung widmet ihre Titelseite zwei Bildern. Links und kleiner: Ein Kevin De Bruyne, das Gesicht niedergeschlagen und im Trikot verborgen. Rechts und größer: die brennenden E-Scooter vor der Station Lemonnier. „Die Trauer und die Scham“, lautet der Titel. Die belgische Öffentlichkeit ist ebenfalls hin- und hergerissen, welches von beiden Ereignissen des späten Sonntagnachmittags sie mehr schockiert. Die Niederlage wird zwar angesichts des ideenlosen Spiels ihrer Mannschaft allgemein als gerechtfertigt empfunden. Der Fakt schmerzt gleichwohl.

Braut sich da etwas zusammen?

Die schnelle Eskalation der Gewalt wirkt demgegenüber spürbar tiefer nach. An rabiates Auftreten von Demonstranten und überschaubare Sachbeschädigungen sind die Hauptstädter fast gewöhnt. Immer wieder vergreift sich die Empörung am Straßenmobiliar. Auch im Viertel um die Station Lemonnier gibt es nach Auskunft eines Händlers gelegentlich Ärger zwischen der Polizei und „Hitzköpfen“. Aber dass sich das Fahnenschwenken und der Jubel über den „historischen“ marokkanischen Sieg über Belgien binnen weniger Minuten in pure Zerstörungswut mit zertrümmerten Scheiben, umgeworfenen Autos und Flaschenwürfen gegen anrückende Polizisten und Feuerwehrleute verwandeln würde, überrascht dann doch sehr.

Wenn es nur punktuell geschehen wäre, hätte es mit einer kleinen Minderheit typischer Hooligan-Gewalt erklärt werden können. Aber es bricht nicht nur in Brüssel selbst an mehreren Stellen gleichzeitig aus, auch andere belgische Städte mit beträchtlichen marokkanischen Gesellschaften sind betroffen. Liège und Antwerpen melden Ausschreitungen, ähnliche Eskalationen vollziehen sich in den Niederlanden. Braut sich da unter der Oberfläche nur scheinbar gelungener Integration etwas zusammen in der EU?

So wie Deutschland in den 1960er Jahre um Gastarbeiter aus Italien warb, machte Belgien den Marokkanern das Geldverdienen in Europa schmackhaft. Gedacht als vorübergehender Aufenthalt, wurde ein Mehrgenerationen-Projekt daraus. Inzwischen wird in Belgien die zweite, dritte und vierte Generation von Menschen groß, die Belgier dem Pass nach und Touristen in Marokko sind, sich aber nur zum Teil in ihren beiden Bezugsländern heimisch fühlen.

Ein spezielles Problem hat die EU mit dem Migrationsdruck aus Marokko. Denn über die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla gibt es auf dem nordafrikanischen Festland eine direkte Landgrenze zwischen Marokko und der EU. Das birgt Stoff für dramatische Fluchtszenen, zunehmende Gewalt von kriminellen Schleuserorganisationen gegen marokkanische und spanische Ordnungskräfte und stellt die oft als vorbildlich gewürdigten EU-Marokko-Beziehungen immer wieder in Frage.

Über 3,5 Millionen Marokkaner leben außerhalb ihres Landes; 85 Prozent von ihnen innerhalb der EU. Überdurchschnittlich viele sind es in Frankreich, Spanien, Italien und eben in Belgien, wo ihre Zahl auf eine halbe Million geschätzt wird – bei elf Millionen Einwohnern insgesamt. Statistiken sind schwer zu führen, weil die meisten von ihnen als Belgier geführt werden.

Die belgische Polizei will beim nächsten Spiel Marokkos am Donnerstag gegen Kanada die Präsenz an neuralgischen Orten deutlich verstärken. Erst recht, wenn Marokko weiterkommen sollte und Belgien nicht.