Mittelpunkt eines geeinten Europas: Als Schengen Hauptstadt Westeuropas werden sollte

Mittelpunkt eines geeinten Europas: Als Schengen Hauptstadt Westeuropas werden sollte

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Schengen sollte 1961 unter dem Namen „Lake City“ Hauptstadt eines geeinten Europas werden. Seit 1985 steht der Name „Schengen“ jedoch für die Reisefreiheit von mehr als 422 Millionen Menschen. Das ambitionierte politische und städteplanerische Projekt blieb allerdings ein Traum.

Freitag, 8. August 1961, Hotel Continental, Grand-rue in Luxemburg: 14 junge Amerikaner stiegen am frühen Morgen in einen kleinen Autobus, der vor der Tür auf sie wartete. Der Fahrer lud gleichzeitig acht schwere Bausteine in den Gepäckraum. Auf ging die Reise nach Schengen – zur Grundsteinlegung von „Lake Europa“, einer neuen Hauptstadt für ein geeintes Europa. Auch Rosch Krieps war als Journalist mit dabei und berichtete im Lëtzeburger Land vom 15. September 1961 (Ein Grundstein für Europa).

An der Spitze der Gruppe stand der groß gewachsene, leicht kahlköpfige 57 Jahre alte James Marshall Miller (1904-1990), damals kein Unbekannter in Amerika. Er sollte der Gründer der neuen Hauptstadt Europas in Schengen sein, ein Ziel, das er mit Leidenschaft bis in die 1970er Jahre verfolgte.

Politisches Kalkül?

Das internationale politische Umfeld war im August 1961 mehr als gespannt. Die Vereinigten Staaten hatten im April 1961 die Invasion in der Schweinebucht organisiert, um die Revolutionsregierung Fidel Castros zu stürzen. Der Aufstand französischer Streitkräfte in Algerien sorgte für internationale Besorgnis. Das Gipfeltreffen in Wien zwischen Nikita Chruschtschow, Regierungschef der Sowjetunion und Parteichef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, und John F. Kennedy, Präsident der Vereinigten Staaten, im Juni 1961 versuchte, eine „friedliche Koexistenz“ zwischen den Ost- und Westmächten aufzubauen. Doch am 13. August begann der Bau der Berliner Mauer.

„Was Europa jetzt braucht, ist ein konkretes Symbol seiner Einheit, einen Brennpunkt des europäischen Geschehnisses, a capital city, a physical symbol to stimulate the politic of this continent“, fasste Rosch Krieps die Rede James Marshall Millers zusammen. Zu den Vorbedingungen zur Verwirklichung des Projektes gehörte der politische Zusammenschluss, die Exterritorialisierung des Geländes, die Bildung einer „Internationalen Behörde zum Bau einer Europahauptstadt“, die später in die Rolle einer selbstständigen Stadtverwaltung hineinwachsen sollte. Politisch war Miller ein Anhänger Richard Coudenhove-Kalergis, dessen Manifest und Bewegung „Pan-Europe“ (1923) er zutiefst bewunderte. Gleichzeitig war Miller ein bekennender Gegner der sowjetischen Macht und hoffte, Europa könnte sich als Bollwerk gegen den Kommunismus aufbauen. Auch religiös war Miller aktiv und bekleidete das Amt des Programm-Direktors des Protestant Center in New York.

James Marshall Miller bei der Grundsteinlegung auf „Stroumbierg“

Der Gründer

Professionell war Miller sehr daran gelegen, dass sich amerikanische Städteplaner und Architekten über den Wiederaufbau europäischer Städte informierten und gegenseitig austauschten. Diese Erfahrungen konnte Amerikas Städten, welche sich entvölkerten oder in Schwierigkeiten geraten waren, nur nützlich sein. Mit Studienreisen nach Europa hatte er ein Netzwerk an internationalen Städteplanern aufgebaut. Sie sollten ihm beim Verlauf seiner Karriere behilflich sein. Miller unterrichtete an den Universitäten von Kopenhagen und Den Haag und war Associate Professor of Planning an der Columbia University in New York. 1958 hatte er in Den Haag eine internationale Studientagung über Stadtplanung veranstaltet. Er leitete eine internationale Verlagsgesellschaft für urbanistische Literatur (Books International).

Mit seiner Firma „Miller Associates“ leitete er in Ohio den Bau mehrerer Autobahnen und „Motorparks“ mit Shopping- und Freizeitzentren. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft durch die Römischen Verträge (1957) hatten Miller davon überzeugt, das westliche Nachkriegs-Europa bräuchte eine neu zu gründende Hauptstadt. Diese solle weder unter Einfluss noch Konkurrenz zu bestehenden Städten stehen und ausschließlich auf grenzüberschreitendem Gebiet angelegt werden. Dadurch sollten Rivalitäten unter den Nationen Europas vermieden werden.

Zwei Millionen Einwohner

Miller suchte also nach topografisch günstig gelegenen Dreiländerecken, schied aber die von Basel und Aachen aus, weil sie die neue Hauptstadt in Konflikt mit alten, europäischen Städten bringen würden. „Die wirtschaftliche und politische Einheit Europas kann verwirklicht werden, wenn das der Wille des Volkes ist (…) Ich glaube, daß dieser Wille in keiner edleren Weise symbolisiert werden kann als durch eine neue, schöne Stadt“, fasste Rosch Krieps die Rede Millers bei der Grundsteinlegung zu „Lake Europa“ zusammen. „A free economy based on free enterprise, a free representative political system and the freedom of religion will all serve as keynotes to a free society“, schrieb James Marshall Miller 1963 in seinem Buch „Lake Europa – a new capital of a united Europe“.

Miller träumte von einer neuen Hauptstadt mit mindestens 500.000 Einwohnern und Maximal zwei Millionen Einwohnern bis ins Jahr 2000. Die noch nicht kanalisierte Mosel sollte zu einem künstlichen See aufgestaut werden und den Mittelpunkt der neuen Hauptstadt bilden. Die Symbolik des flüssigen Zentrums von „Lake Europa“ sollte darin liegen, dass Europa mit einem See vergleichbar sei, der von nationalen Flüssen gespeist wird. Um den See mit seinen breiten Uferpromenaden sollten Kulturbauten entstehen wie Kirchen, Museen, Theater, Konzerthallen, und Schulen. Die politischen und administrativen Bauten dagegen würden auf die umliegenden Bergeshöhen verteilt. Die legislative, exekutive und judikative Gewalt sollten getrennt auf die umliegenden Bergkuppen verteilt werden. Verbunden werden sollten diese Stadtteile durch Residenzviertel mit Parkanlagen und Fußgängerwegen. Autobahn-, Eisenbahn- und Flughafenanschluss waren in der Planung vorgesehen. Ein Moselhafen in „Lake Europa“ sollte als weitere Zufahrtstraße gelten.

So sollte Schengen im Jahre 2000 aussehen

Die Grundsteinlegung

Die kleine Gruppe aus dem Hotel Continental fuhr hinauf zum „Stroumbierg“. Mit seinem Panoramablick auf Deutschland, Frankreich und Luxemburg war er mehr als geeignet für die Grundsteinlegung. „Und dann entdeckten wir in einem Erdbeerfeld jenen Hügel von zusammengetragenen Steinen, der Marshall Miller als natürlicher Sockel für seinen künstlichen Europa-Grundstein, wie von der Vorsehung aufgeschüttet schien“, beschrieb Rosch Krieps die Szene am 8. August 1961. Jeder half, die Steine hinaufzutragen.

„Was wir da taten, war eine heimliche Beschwörung des europäischen Geistes auf der Zinne des Strombergs!“, schilderte Krieps seine Erfahrung. Den ersten Stein legte James Marshall Miller. Ein großes Schild, das er aus New York mitgebracht hatte, krönte nun das improvisierte Denkmal: Lake Europe. Außer Rosch Krieps wohnten Pierre Wallerich aus Schengen der eigenartigen Zeremonie bei.

 

Von unserem Korrespondenten Robert L. Philippart

Mephisto
24. Juli 2019 - 11.05

Waren das die Pionniere von Scientology ?