ForumMind the Gap: Die Vermessung der Ungleichheit und ihre Grenzen

Forum / Mind the Gap: Die Vermessung der Ungleichheit und ihre Grenzen
 Symbolbild: AFP/Kenzo Tribouillard

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GPG, drei Buchstaben, die für Frauen die Welt bedeuten. GPG steht für „Gender Pay Gap“, sprich die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen. Doch was genau wird da berechnet, warum gibt es immer wieder unterschiedliche Zahlen und warum bleiben strukturelle Geschlechterungerechtigkeiten dennoch im toten Winkel und insofern abseits zahlreicher Gender- und Lohndiskussionen?

Mit den Statistiken zur Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern verhält es sich oftmals wie mit den Covid-Gesetzen: Man/Frau verliert leicht den Überblick und sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Die Benutzung unterschiedlicher Zahlen ohne klare Aufklärung über den Berechnungsmodus und dessen Stärken sowie Schwächen führt zur allgemeinen Verwirrung und kann mitunter Skepsis gegenüber den angeführten Datenlagen bewirken.

Wir wollen deswegen einen Versuch zur Aufklärung unternehmen. Der allgemeine GPG ist eigentlich eine eher simplistische Rechnung, dessen Aussagekraft nur beschränkt ist: Er bezieht sich auf den durchschnittlichen Stundenlohn aller Männer im Vergleich zum durchschnittlichen Stundenlohn aller Frauen. That’s it. Das ergibt eine Lohndifferenz von 1,6 Prozent zum Vorteil der Männer und Nachteil der Frauen.

Die Arithmetik der Diskriminierung

So weit, so gut. Oder eben auch nicht. Der Stundenlohn allein sagt leider nur wenig aus über das reale Einkommen, welches einer Person zum Leben, zum Ausgeben oder Sparen zur Verfügung steht.

Nuancierter ist deswegen bereits der Vergleich des durchschnittlichen gesamten Jahreseinkommens. Auch dieses Kalkül liefert uns eine ausführliche Studie des Statistikinstituts Statec. Mit diesem umfassenderen Berechnungsmodus ergibt sich bereits ein anderes Bild. Der Unterschied beträgt dann ganze 7,2 Prozent. Die Differenz ist größer, das Resultat weniger beschönigend. Doch was bedeuten 7,2 Prozent weniger Jahreslohn? Anschaulicher wird die statistische Zahl bei einer Umrechnung in Tage weniger Arbeit. Das macht man üblicherweise am so getauften „Unequal Pay Day“. Dieser fand 2021 in Luxemburg am 5. Dezember statt. Ab diesem Stichtag haben die Frauen in Luxemburg also rein durchschnittlich umsonst gearbeitet. 7,2 Prozent weniger Jahresgehalt wären nämlich umgerechnet ganz genau 26,28 Tage gratis Arbeit im Jahr 2021.

Wie erklärt sich der erhebliche Unterschied zwischen 1,6% weniger Stundenlohn und 7,2% weniger Jahreseinkommen? Der globale Lohn trägt auch den zusätzlichen Gehaltsleistungen Rechnung: die 13. Monats-Prämie wird mit berechnet, aber auch die variablen Bonus-Systeme. Ein Erklärungsfaktor für die besonders frappierende Lohnunausgewogenheit im Finanzsektor (31 Prozent Lohndifferenz beim Jahresgehalt von Männern im Vergleich zu den Frauen) ist womöglich die ungerechte Verteilung der Bonuszahlungen und Beförderungen.

Bei nicht festgelegten und nicht garantierten Vergütungsmethoden ziehen Frauen schnell den Kürzeren. Wirken sich Präsenzausfälle beispielsweise negativ auf Zusatzprämien aus, sind Frauen eher betroffen, weil sie öfters zu Hause die kranken Kinder versorgen müssen.

It’s a man’s world

Auch bei sogenannten leistungsbezogenen Bewertungssystemen verfälschen mehrere Kriterien die nur augenscheinliche Objektivität. Bei Promotionen gelten nicht notgedrungen Kompetenzen: Networking (einen guten Draht zum meist männlichen Boss) zu haben spielt eine Rolle, Teilzeit oder Babyjahre gelten als unausgesprochene Ausschlusskriterien, während oftmals viel Zeit auf der Arbeitsstelle wertgeschätzt wird (Quantität statt Qualität). Alles Kriterien, die Frauen in unserem heutigen und hiesigen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell nur mühsam erfüllen können.

Spiegeln diese 7,2 Prozent denn jetzt ein realistisches Bild der Einkommensungerechtigkeit in Luxemburg wider? Leider lautet die Antwort wieder nein, nicht wirklich. Ja, aber warum denn nicht? Warum ist ein Vergleich von Jahresgehalt mit Jahresgehalt unvollständig? Weil die Berechnung auf einer realitätsverzerrenden Angleichung basiert. Alle zu vergleichenden Gehälter werden so hochgerechnet, als handele es sich um 40-Stunden-Jobs.

Das mehrheitlich weibliche Phänomen der Teilzeit wird demnach komplett ausgeblendet. Ein Gehalt von 3.000 Euro brutto in der theoretischen Rechnung beträgt bei der Frau in Realität aber nur 1.500 Euro brutto, wenn sie eine Halbtagsanstellung hat. Die Frau wird somit nicht direkt vom Arbeitgeber diskriminiert, trotzdem hat sie weniger Geld zum Leben. Zum Vergleich: Mehr als jede dritte Frau (36 Prozent) ist betroffen, während nur 6 Prozent der Männer auf Teilzeit umstellen.

Ja, aber warum ist es denn ungerecht, dass Frauen weniger Geld erhalten, wenn sie doch laut Arbeitsvertrag weniger Stunden leisten? Es gibt gesellschaftliche Gründe, weshalb vor allem Frauen in Teilzeitjobs zu finden sind. Frauen haben mehr Qual als Wahl. Gerade weil sie in Wirklichkeit mehr Stunden arbeiten als Männer.

She works hard for the money

Frauen verrichten deutlich mehr unbezahlte Care-Arbeit als Männer (Haushalt und Familie), deshalb steht ihnen folglich weniger Zeit für bezahlte Lohnarbeit zur Verfügung. Die ungleiche Verteilung unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern schafft einen gigantischen Nachteil für die Frauen in der Arbeitswelt: weniger bezahlte Stunden beim Arbeitgeber, weniger Lohn, weniger Erspartes, weniger Rente. Ein Teufelskreis.

Hinzu kommt, dass die Arbeitgeber*innen in manchen mehrheitlich weiblichen Berufssparten keine Vollzeitjobmöglichkeiten anbieten und die Arbeitnehmer*innen somit de facto in die Teilzeitfalle zwingen. Hinzu kommt zudem, dass Frauen längere Arbeitsausfälle bei Kindergeburten haben. 20 Wochen sprich 140 Tage Mutterschaftsurlaub gegen läppische 10 Tage Urlaub für Männer, die Väter werden. Die Frage, welcher Partner anschließend mehr und früher Elternzeit nimmt oder längere Arbeitspausen einlegt, fällt fast immer noch zur finanziellen Ungunst der Frauen aus.

Diese Realität bezeichnen wir als strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Diese strukturelle Schieflage ist besonders hartnäckig. Ihre Entstehung ist historisch bedingt, doch ihre Persistenz ist u.a. auch auf eine starke sektorielle Segregation in der Arbeitswelt zurückzuführen. Frauen orientieren sich noch immer mehrheitlich in Care-Berufe und Männer eher in technische Berufe. Die Geschlechterdiversität sollte jedoch in allen Wirtschaftsbereichen und Berufen vorherrschen, auch weil dies erwiesene Vorteile bringt.

Warum soll die Pflegerin weiblich sein und der Arzt männlich? Warum der Industriearbeiter männlich und das Putzpersonal weiblich? Warum der Installateur männlich und die Frisörin weiblich? Warum der Pilot ein Mann und die Flugbegleiterin eine Frau? Objektive Gründe gibt es nicht und dennoch sitzen diese Genderbilder tief in unseren Köpfen und unserem alltäglichen Sprachgebrauch.

We want to break free

Demnach müssen wir uns fragen und die Frage gefallen lassen, ob unsere Wertschätzung und die aktuelle Bezahlung verschiedener Berufskategorien noch adäquat sind oder ob sie nicht durch „unconscious Bias“ traditionell mehrheitlich weibliche Jobs benachteiligen. Das ist sicherlich noch in so manchen Bereichen der Fall. Beispielsweise können wir feststellen, dass unqualifizierte Jobs, die üblicherweise von Frauen durchgeführt werden (z.b. die Reinigung), schlechter bezahlt sind als unqualifizierte Jobs, die fast immer von Männern ausgeführt werden.

Wir haben alle unbewusste Denkmuster, die uns zu Vorurteilen verleiten, ohne dass wir es eigentlich wollen oder überhaupt bemerken. Ein mentaler Programmfehler unseres Gehirns schafft blinde Flecken, die uns zur automatischen Annahme und Weiterführung von Geschlechterungerechtigkeiten bewegen.

Wie kann und soll die tiefliegende Geschlechterungleichheit denn bekämpft werden? Mehrere Lösungsansätze müssten kombiniert zum Tragen kommen: Aufklärung, Sensibilisierung, geschlechtsneutrale Bildung, Abbau von Geschlechterstereotypen, mehr Parität in allen Jobs und allen Wirtschaftsbereichen, Aufwertung schlecht bezahlter Berufskategorien, eine familienfreundlichere Arbeitswelt und Zeitgestaltung, bessere Lohn- und Karrieregarantien durch Kollektivverträge, systematische Bekämpfung der Prekarität. Strukturelle Probleme benötigen ein umfassendes Eingreifen und Verändern der bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Hier sind alle gesellschaftlichen Kräfte, jene „forces vives de la nation“ gefordert, doch allen voran steht die Politik in der Verantwortung zum konsequenten Handeln.

Info

Das Thema Geschlechtergleichheit in der Arbeitswelt interessiert dich? Die Plattform JIF für den internationalen Frauentag organisiert diesen Freitag, 28. Januar, ein offenes Treffen zum Thema „Vers un monde de travail féministe“

Wann? 28.1.2022 18.00-20.00 Uhr

Wo? Maison du peuple. 62, bvd J. F. Kennedy in Esch/Alzette (Eingang durch das Café Streik)
Covid-Check-Event (2G+)

* Michelle Cloos ist die Verantwortliche der Frauenabteilung OGBL Equality