Meta-Diskussionen-Pingpong: Anne Simons Inszenierung von „Stupid Fucking Bird“

Meta-Diskussionen-Pingpong: Anne Simons Inszenierung von „Stupid Fucking Bird“

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Das Kapuzinertheater gleicht derzeit einem wahrhaftigen Wechsel(schwimm)bad der Gefühle. Anne Simons neuste englischsprachige Inszenierung vereint künstlerische Grundsatzdebatten mit alltäglichen Irrungen, Wirrungen und jeder Menge Humor. Sie und ihr Team überzeugen damit auf ganzer Linie.

In der beschaulichen Pampa, auf einem schnieken Anwesen, wird – jenseits des politischen, teils dramatischen Treibens – auf hohem Niveau gejammert. Eine etwas überspitzte Beschreibung, die eigentlich recht gut auf das heutige Luxemburg zutrifft, sich jedoch auf eine fiktive Geschichte bezieht, die in Russland vor mehr als 100 Jahren spielt. In Anton Tschechows „Die Möwe“, einem fast kaputt gespielten Klassiker, wird aneinander vorbeigeliebt, über Schein und Sein diskutiert, sich darum gestritten, wessen Lebensweg denn nun am stärksten von Widrigkeiten gesäumt ist, mehr schlecht als recht rumgestorben und vor allem auch darüber sinniert, was das Theater war, ist und sein sollte.

Während der russische Autor das Stück als Komödie anlegte, inszenierte und uraufführte der Regisseur Stanislawski es als Tragödie. Die luxemburgische Regisseurin Anne Simon stieß auf eine moderne Adaptation mit dem Titel „Stupid Fucking Bird“ (aus der Feder von Aaron Posner), die eher eine Mischung aus beidem, also eine Tragikomödie darstellt. Dem folgend wurde das Stück gemeinsam mit den Assistenten Tom Dockal und Claire Wagner konzipiert und mithilfe einer extrem starken, internationalen schauspielerischen Besetzung umgesetzt.

Obwohl es sich um eine zeitgenössische, von reichlichen „Fucks“ und „Fuckings“ gespickten Interpretation eines alten Stoffes handelt und bei vielerlei Mono- wie Dialogen Anpassungen vorgenommen wurden, welche die geführten Debatten in einen aktuellen Kontext setzen, so besticht doch die Tatsache, dass zahlreiche Passagen aus Tschechows Original von 1895 beigehalten werden konnten, da sie nicht an Aktualität verloren haben. Ob dies nun bedeutet, dass bestimmten Themen (wie unerfüllter Liebe oder Träume) eine durch das Wesen des Menschen bedingte Zeitlosigkeit innewohnt oder doch eher manche Debatten über Kunst ausweglos sind und sich trotzdem immerfort wiederholen, sei vorerst dahingestellt.

Dualismus im Theater

Auf jeden Fall erinnert jener Diskurs über die Notwendigkeit neuer Formen im Theater, der im Stück vom Hauptdarsteller Con (meisterhaft gespielt vom amerikanischen Schauspieler Isaac Bush) angeführt wird, an die mittlerweile zum dritten Mal in Luxemburg erschienene, selbstreflexive „Rede vom Theater“. Der erste von drei Autoren, nämlich der junge luxemburgische Kulturschaffende Olivier Garofalo (auf ihn folgten Rafael David Kohn sowie Daniel Dumont), spricht in seiner Publikation von einem Dilemma, bei dem man sich einerseits einer Situation gegenübersähe, bei der es gelte, „ein Programm zu entwickeln, das möglichst attraktiv ist und viele Zuschauer anzieht“. Anderseits würde man aber als Theatermacher „in seiner Kunst frei bleiben (…) beziehungsweise das Publikum mit neuen Diskursen und Ästhetiken, die vielleicht sperrig, aber auch nicht komplexer als die gesellschaftliche Realität sind“, konfrontieren wollen.

Dieser Dualismus wird von Con und dem erfolgreichen Schriftsteller Trigorin (Owen Shape), dem ihm verhassten Partner seiner Mutter Emma (Rita Reis) und angehendem Liebhaber seiner Auserwählten Nina (Elisabet Johannesdottir), verkörpert. Con sind seine Werke, aber ebenso auch die Zuneigung, die er durch ihre Popularität erfährt, zuwider. Er selbst bleibt dennoch auf ganzer Linie erfolglos.

„Site-specific performance event“

Beide stellen grundverschiedene Haltungen, gar Extreme dar, zwischen denen sich fast alle anderen Charaktere – mit Ausnahme des philosophierenden wahlweise tiefenentspannten oder angetüdelten Onkels Sorn (überzeugend und nüchtern gespielt von Raoul Schlechter) – sich hin- und hergerissen fühlen. Allesamt fungieren sie quasi als Bälle im Meta-Diskussionen-Pingpong. Dessen Regeln verstehen allerdings mehr als nur einer – zum Beispiel der treudumme Dev (Matthew Brown) – oder eine – die außerordentlich gut backende und singende Mash (Catherine Elsen) – nicht gänzlich und suhlen sich daher lieber im eigenen Herzschmerz. So paaren sich hochkomplexe Grundsatzdebatten mit eher basischen irrationalen menschlichen Emotionen, was zahlreichen Szenen (fast ohne Zutun der Regie) eine gewisse Komik verleiht und durch die einzigartige schauspielerische Kompetenz jedes Einzelnen auf der Bühne verstärkt wird.

Wer jedoch denkt, er habe zumindest im Publikum seine Ruhe, dem sei hiermit kurz und schmerzlos vermittelt: Pustekuchen! Dies gilt ebenso für jene Zuschauer des gewöhnungsbedürftigen Stücks im Stück, das von Con inszeniert wird, als auch für das Publikum in den Reihen des Kapuzinertheaters. Denn auch Letztere werden zum Spielball. Einzelne Protagonisten bitten sie entweder um Beziehungsratschläge oder konfrontieren sie mit existenziellen Fragen.

Subtil die Wand durchbrechen

Die sogenannte „vierte Wand“ wird in Posners Fassung derart oft durchbrochen, dass das Stück wie eine einzige Abrissparty wirken würde, hätte sich das luxemburgische Regieteam nicht dazu entschlossen, mehrere Monologe wieder nach innen zu verlagern, indem es einen Adressaten innerhalb des Stückes bestimmte. Das nun gewählte Maß ermöglicht eine ausgewogene Interaktion mit dem Publikum, das in der Diskussion um die Zukunft des Theaters (im Stück wie in der Realität) sicher nicht die einzige, aber ohne Zweifel eine wichtige Rolle spielt. Durchbrochen wird die Wand nicht anhand eines Vorschlaghammers, sondern unter anderem auf eine abstrus elegante Art und Weise mithilfe eines Springbretts, das sich von der Bühne bis über die ersten Reihen erstreckt. Es ist fester Bestandteil eines Bühnenbilds, das von einem Talent zeugt, das ebenso herausragt wie das Brett selbst. Die luxemburgische Künstlerin Clio Van Aerde (die ebenfalls für die Kostüme zuständig war) entwarf und fertigte es mithilfe der handwerklich begabten Mitarbeiter der städtischen Theater an.

So spielt die Handlung hauptsächlich in einem Schwimmbecken, in dessen imaginärem Wasser fast erstickend innegehalten, egozentrisch inmitten eines aufblasbaren Flamingos gesessen oder zu einer von Genie zeugenden Choreografie (Isaac Bush) Wasserballett getanzt wird. Sogar der allseits bekannte „Treplev-Monolog“, in dem es heißt, „sie liebt mich, sie liebt mich nicht …“, erfährt hier eine wahrscheinlich zuvor nie gesehene Umsetzung, da sich zum Abzählen der Alternativen der Kugeln einer Trennleine bedient wird, welche die Schwimmbahnen voneinander abgrenzt.

Anne Simons „Stupid Fucking Bird“ zeichnet sich zudem durch einen humorvollen und ironischen Umgang mit dem symbolträchtigen und namensgebenden Tier aus. Die einst für Freiheit stehende, kraftvolle Möwe degeneriert zu mehr als nur einem schrägen Vogel. In der Inszenierung taucht ähnlich wie im antiken Theater mehrmals ein die Situation kommentierender Sprechchor auf, der aus Möwen besteht. Auch in diesem Punkt beweist Clio Van Aerde Liebe fürs Detail, da sie anhand minimalistischer Schwimmbad-Accessoires die Badegäste zu unpläsierlichen Tierchen werden lässt. Nebst dem ein oder anderen popkulturellen Einsprengsel haben sich auch einige luxemburgische Referenzen eingeschlichen, durch die auf mehr oder auch weniger wohlwollende Art und Weise beispielsweise Sylvia Camarda, Désirée Nosbusch und der „Filmpräis“ zu Ehren kommen. Einige Passagen erinnern sogar unverhofft an einzelne fast tragikomische Debatten zum Kulturentwicklungsplan.

Kurzum: absolut sehenswert!