DebatteMentale Krankheiten enttabuisieren: Parlament spricht über Suizid und die psychischen Folgen der Pandemie

Debatte / Mentale Krankheiten enttabuisieren: Parlament spricht über Suizid und die psychischen Folgen der Pandemie
Gilles Baum (DP) ging auf die mentalen Probleme der Menschen während der Krise ein Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Die Problematik mentale Gesundheit und Suizidprävention hat das Parlament in der Vergangenheit bereits mehrmals aufgegriffen. Die Corona-Pandemie lieferte jedoch einen neuen Anlass dazu, sind doch die Folgen dieser sanitären Krise auf den psychischen Zustand der Bevölkerung offensichtlich. Rund ein Drittel der Bevölkerung gab in einer rezenten Statec-Umfrage an, die Pandemie habe ihr Wohlbefinden beeinträchtigt. 

Das Thema bietet wenig Anlass für parteipolitische Polemik. Der parteiübergreifende Konsens im Parlament konnte demnach nicht überraschen. Einigkeit herrscht darüber, dass die mentale Gesundheit politische Priorität genießen müsse, die Arbeit der Psychiater aufgewertet werden sollte. Die Kosten für die Therapien beim Psychotherapeuten müssten von der Gesundheitskasse übernommen werden. Das Thema mentale Gesundheit und Suizid müsse enttabuisiert werden, so die einhellige Meinung. 

Die aktuelle sanitäre Krise habe viele Menschen in ihrer mentalen Gesundheit getroffen, so Interpellant Gilles Baum (DP) zu Beginn seiner Ausführungen in einem zuerst halbleeren Plenarsaal. Viele Personen haben Berufsängste, sorgen sich um ihnen nahestehende Menschen. Die sanitären Maßnahmen haben die sozialen Kontakte dramatisch reduziert. Die Folgen der Krise werden die Gesellschaft noch längere Zeit begleiten, daher sollte die psychische Gesundheit eine politische Priorität sein. Mentale Probleme sollten als genauso gefährlich wie physische betrachtet werden. 

70 bis 80 Personen sterben jährlich in Luxemburg durch Suizid. Die Zahl der Versuche sei zehn- bis zwanzigmal höher, so Baum. Zu den Ursachen, die die Menschen zu dieser Entscheidung treiben, zählte Baum Burnout und Depressionen. Selbsttod sei keine Frage von sozialer Herkunft, Beruf, Geschlecht oder Alter. Bei jungen Menschen sei Suizid die zweithäufigste Todesursache nach den Verkehrsunfällen.  

Das Thema beschäftigt die Politik konkret seit 2012. Damals wurden die Arbeiten an einem ersten Nationalen Suizidpräventionsplan für den Zeitraum 2015-2019 begonnen. Die Auswertung der darin beschlossenen Maßnahmen sei wegen der Pandemie zeitlich verzögert worden, soll jedoch in naher Zukunft abgeschlossen und vorgelegt werden, so Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) in ihrer Stellungnahme am Ende der Debatte. Die Umsetzung des Plans habe zu einem Rückgang der Suizide geführt.

Fachkräftemangel

Sämtliche Redner gingen auf den Mangel an Fachpersonal ein. Die Zahl der Psychiater könnte in den kommenden 15 Jahren um 80 Prozent zurückgehen, warnte Gilles Baum. Dabei sei die Betreuung der Patienten bereits heute problematisch. Baum sprach von Wartezeiten von mehreren Monaten für einen Termin beim Arzt. Das sei dramatisch für eine suizidgefährdete Person, die sich endlich dazu entschieden habe, auf Hilfe zurückzugreifen. Der Abgeordnete mahnte sofortiges Handeln an. Die Arbeit der Psychiater müsse aufgewertet, die Behandlungstarife angehoben werden. Die Therapiekosten beim Psychotherapeuten müssten endlich von der Gesundheitskasse übernommen werden. Schließlich sollte die Möglichkeit eines Psychiatrie-Lehrgangs in Luxemburg angedacht, in den Schulen die Präventionsanstrengungen verstärkt werden. 

Verbesserungsvorschläge legte auch CSV-Sprecherin Françoise Hetto-Gaasch vor. So sollte Personen, die ehrenamtlich bei Hilfsorganisationen tätig sind und Weiterbildungskurse zur Betreuung von Suizidgefährdeten belegen, ein Sonderurlaub gewährt werden. Auch sollte eine mobile psychiatrische Ambulanz geschaffen werden.

Auf die Problematik mentaler Gesundheit bei jungen Menschen ging insbesondere Francine Closener (LSAP) ein. Sieben bis acht junge Menschen würden sich jedes Jahr das Leben nehmen, so die Abgeordnete. Bereits vor der Covid-Pandemie hätte mehr als ein Viertel der Jugendlichen Probleme gehabt, weil sie ihren Alltag nicht mehr schaffen. Allein auf pubertäre Launen sei dies nicht zurückzuführen. Schon vor der Corona-Krise klagten junge Menschen über Cybermobbing und anderen Missbrauch durch soziale Medien. Ungewiss seien die Folgen von Lockdown und der Reduzierung sozialer Kontakte während der Pandemie. 

Recht auf Urlaub verlängert

Per Gesetz haben die Abgeordneten das Recht auf Urlaub wegen familiärer Ursachen verlängert, wenn die Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen wegen der Corona-Pandemie geschlossen bleiben. Die Regelung läuft vorerst bis zum 2. April.

Das Parlament verabschiedete ebenfalls einen Gesetzentwurf, der die Benutzung der Blockchain-Technologie bei der Emission von entmaterialisierten Wertpapieren erlaubt. Bereits vor zwei Jahren wurden Transaktionen mit Wertpapieren über Blockchain gesetzlich genehmigt. Blockchain ist eine Art digitales Register, das die Nachvollziehbarkeit der Transaktionen ermöglicht und eine nachträgliche Änderung und Verfälschung unmöglich macht.  

Vorurteile und Tabus

Trotz kleiner Fortschritte sei das Thema Selbsttod auch in Luxemburg noch mit vielen Vorurteilen und einem Tabu behaftet, so Marc Hansen („déi gréng“). Dabei würden Gespräche mit Betroffenen helfen, sie aus ihrer Notsituation zu befreien. Eine der Suizid-Hauptursachen seien Depressionen. Dabei könnten diese durchaus behandelt werden. Eine Enttabuisierung der psychischen Erkrankungen sei dringend erfordert. Der Besuch beim Psychiater sollte genauso normal werden wie der Gang zum Hausarzt.

Sowohl Jeff Engelen (ADR) als auch Marc Baum („déi Lénk“) verwiesen auf mangelhafte Informationen zu den Suizidgründen. Leider bestünden auch in Luxemburg keine Studien dazu, so Engelen. Nicht immer sei der Selbsttod auf eine mentale Krankheit zurückzuführen. Der Suizid sei ein Hilferuf, weil ein Mensch überschuldet oder sozial isoliert sei, berufliche Probleme habe. Die Mitteilung der Regierung, die Selbstmordrate sei während der Corona-Krise nicht gestiegen, bezeichnete er als verfrüht. Laut Marc Baum sei eine fundierte Diskussion zum Thema erst nach Vorliegen der Bilanz zum mehrjährigen Aktionsplan gegen Suizid möglich. Die darin festgehaltenen Maßnahmen sollten jedoch bis auf Weiteres fortgeführt werden. 

Schulminister Claude Meisch (DP) kündigte eine Kampagne in den sozialen Medien an, damit junge Menschen ihre Erfahrungen bei schwierigen Situationen austauschen. Derlei Austausch zwischen Gleichaltrigen sei manchmal zielführender als jener mit älteren Gesprächspartnern. Dem Lehrpersonal stellte Meisch einen Leitfaden in Aussicht, um Anzeichen mentaler Probleme bei Jugendlichen schneller erkennen zu können. 

Die Erforschung der Suizidursachen sei in einigen Fällen problematisch, sagte Gesundheitsministerin  Paulette Lenert. Meist gehe diesem Schritt eine Depression voraus. Dagegen könne man wohl angehen. Lenert erwähnte jedoch auch den Begriff des Freitods, wo die Ursachenforschung schnell in die Privatsphäre eindringe. Die von den Abgeordneten formulierte Forderung, die Arbeit der Psychiater aufzuwerten, entgegnete Lenert mit der Information, die Tarife seien in diesem Monat um 15 Prozent angehoben worden. Seit Dezember seien auch Sprechstunden über Telefon möglich. Den Psychotherapeuten stellte Lenert eine baldige Lösung in Aussicht.