ReportageMehr Gräber als Menschen: 25 Jahre nach dem Völkermord wird Srebrenica  zur Geisterstadt

Reportage / Mehr Gräber als Menschen: 25 Jahre nach dem Völkermord wird Srebrenica  zur Geisterstadt
Hinter der Gedenktafel in Potocari reihen sich endlose Reihen an Grabsteinen: Am 11. Juli jährt sich der Srebrenica-Massenmord zum 25. Mal Foto: Reuters/Dado Ruvic

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Abwanderung und der wirtschaftliche Niedergang machen dem ostbosnischen Srebrenica genauso zu schaffen wie die ausbleibende Aussöhnung und Versuche zur Leugnung des Völkermords an über 8.000 Muslimen. 25 Jahre nach den Massenmorden ähnelt die Stadt der Gräber zunehmend einer Geisterstadt.

In endlosen Reihen winden sich die ranken Steine über die kleine Anhöhe des Gedenkfriedhofs von Potocari. Mit geöffneten Händen betet eine ältere Frau mit Maske für ihre Angehörigen. Freiwillige schrubben die weißen Grabstelen blank. Frische Erdhügel säumen neun ausgehobene Grabesgruben: Auch 25 Jahre nach dem Bosnien-Krieg (1992-1995) werden im ostbosnischen Srebrenica noch immer die Toten des Massakers beerdigt.

„8372 …“ erinnert ein Gedenkstein an die bestatteten oder noch vermissten Opfer des größten Massenmords der Jugoslawien-Kriege. Als am 11. Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladic nach zweijähriger Belagerung in die eigentlich unter dem Schutz der UN stehende Muslim-Enklave einmarschierten, gaben die überforderten Blauhelme des niederländischen „Dutchbat“-Bataillons das von Flüchtlingen überfüllte Srebrenica kampflos preis.

Nur Frauen und Kinder durften die Stadt in Buskonvois verlassen. Ihre Söhne und Brüder, Männer und Väter blieben zurück. Bei Massenexekutionen in den umliegenden Wäldern wurden in den folgenden Tagen selbst Jugendliche und Greise generalstabsmäßig erschossen und verscharrt. Sein Großvater, Onkel, bester Freund und fast alle seiner früheren Klassenkameraden seien damals ermordet worden, berichtet im „Srebrenica Memorial Center“ der heute 45-jährige Direktor Emir Suljagic. Als „letzter Nichtserbe“ in Srebrenica habe er am 21. Juli als Übersetzer des UN-Bataillons die verwüstete Enklave gemeinsam mit den Blauhelmen verlassen: „Ich hatte einfach Glück, dass ich überlebte.“

In den Fassaden sind noch die Einschusslöcher

„Zu verkaufen“ prangt auf vergilbten Zetteln in den dunklen Fensterhöhlen an der Marschall-Tito-Straße. Nur in wenigen Fenstern der stillen Stadt brennt am frühen Abend noch Licht. Längst zählt Srebrenica mehr Gräber als Menschen. In Potocari sind mittlerweile die DNA-identifizierten Überreste von 6.643 Opfern des Genozids beerdigt. Die Gesamtbevölkerung der Kommune ist seit Anfang der 90er-Jahre von 37.000 auf 4.000 gesunken, die Einwohnerzahl in der Stadt selbst von einst 10.000 auf unter 1.000 geschrumpft.

Nicht nur die Einschusslöcher in den Fassaden erinnern an die Schrecken des Krieges. Die Folgen der 90er-Jahre seien überall zu spüren, berichtet Avdo Purkovic, der Wirt der „Pension Mirsilije“. Waren nach der Jahrtausendwende vertriebene Moslems wie seine Familie wieder zurückgekehrt, würden nun muslimische Bosniaken den Ort genauso wie Serben verlassen. Nur kurzzeitig habe nun die Viruskrise die Abwanderung gestoppt, sagt der Mann mit den blauen Augen: „Die Jungen ziehen weg, weil sie keine Arbeit finden können – nach Sarajevo, Belgrad oder gleich in den Westen.“ Was bleibe, sei das „Gefühl der Leere“ – und die Alten: „Und die sterben auch allmählich weg.“

16 Jahre war Camil Durakovic, als er vor 25 Jahren den Todesschergen auf einem tagelangen und entbehrungsreichen Fußmarsch durch die Wälder entrann. Jedes Jahr würden die Angehörigen der Opfer am Jahrestag die „drei Phasen ihrer Trauer“ erneut durchleben, sagt Srebrenicas früherer Bürgermeister: „Erst 1995, als wir erfuhren, dass unsere Angehörigen ermordet wurden. Dann der Moment, als wir vom DNA-Zentrum in Tuzla die Nachricht erhielten, dass ihre Überreste identifiziert worden seien. Und zum dritten Mal trauerten wir, als wir sie endlich auf dem Friedhof von Potocari beerdigen konnten.“

Das Friedensabkommen von Dayton besiegelte im November 1995 das Ende des Bosnien-Kriegs – und löste in den Wäldern von Srebrenica hektische Grabungsarbeiten aus. Um den Genozid zu vertuschen, ließ die bosnisch-serbische Armee die Massengräber mit Baggern räumen und die halbverwesten Leichen in kleinere Gruben verscharren: Ihre zerfallenden Gliedmaßen endeten oft in verschiedenen Gräbern. Die hastige Umbettung erschwert bis heute den Fund und die Identifizierung noch vermisster Opfer. Oft warten die Familien mit der Bestattung, bis mindestens der Großteil des Skeletts rekonstruiert worden ist.

Provokationen durch Nationalisten

Wegen der Corona-Epidemie wird die Gedenkfeier dieses Jahr kleiner, mit virtuellen Grußbotschaften von 30 Staats- und Regierungschefs und mit weniger Bestattungen über die Bühne gehen: Manche Familien haben die Beerdigung verschoben, weil Verwandte aus dem Ausland nicht anreisen können.

Doch auch 25 Jahre nach dem Massaker ist Srebrenica wie ganz Bosnien von einer Aussöhnung über den Gräbern weit entfernt. Ausgerechnet vor dem Jahrestag hat die serbisch dominierte Stadtverwaltung Poster mit dem Bildnis von Serbiens Präsident Aleksandar Vucic als Dank für Finanzhilfen aus Belgrad plakatieren lassen. Serbische Nationalisten hatten im Juni gar Plakate mit dem Antlitz des in erster Instanz wegen Völkermords zu lebenslänglich verurteilten Kriegsverbrechers Mladic als „Dank für die Befreiung von Srebrenica“ geklebt.

Ich dachte immer, dass sich das Bewusstsein mit der Zeit ändern werde. Aber je mehr Jahre verstreichen, desto mehr scheint die Vergangenheit die Leute zu teilen.

Camil Durakovic, Srebrenicas früherer Bürgermeister

Die Verharmlosung und Leugnung des Genozids bedeute eine „Wiederholung des Verbrechens“ und bereitete den Boden für künftige Völkermorde, ärgert sich Emir Suljagic über den von Belgrad und Banja Luka bewusst forcierten Versuch der „Schaffung alternativer Fakten“. „Die Serben setzen noch immer auf eine destruktive Politik der Teilung und sind nicht bereit, die Tatsache des Völkermords zu akzeptieren“, klagt Camil Durakovic: „Wenn dieser endlich anerkannt würde, könnte es hier leichter vorwärtsgehen.“

Viele seiner serbischen Bekannten würden zwar privat einräumen, dass in Srebrenica Völkermord begangen worden sei, aber öffentlich das nie zu sagen wagen, berichtet der dunkelhaarige Familienvater. Der Krieg sei vorbei, doch „den Frieden haben wir noch immer nicht voll erreicht“. Das einzig Positive sei, „dass wir heute ohne Gewalt zusammenleben“: „Ich dachte immer, dass sich das Bewusstsein mit der Zeit ändern werde. Aber je mehr Jahre verstreichen, desto mehr scheint die Vergangenheit die Leute zu teilen.“

Ratlos schüttelt  Miroslav seine blonden Rastalocken. „Die einen kleben Plakate, die anderen reißen sie ab – und so dreht sich Srebrenica seit einem Vierteljahrhundert im endlosen Kreis“, seufzt der Mitbegründer der Kulturinitiative „Srebrenica Wave“. Die jungen Bewohner des Ortes würden „gut“ miteinander auskommen und seien weniger am Krieg als an der Zukunft interessiert, versichert der 27-Jährige. Doch egal ob Serben oder Bosniaken – für die verbliebenen Jugendlichen im Ort habe sich selbst mit der Corona-Epidemie nicht viel geändert: „Wir sind hier schon seit Jahren in der Isolation.“

Dabei hat der serbische Musiker mit seinem muslimischen Mitstreiter Muamer in der „Pivnica“, der zum Musikclub umgebauten Brauerei, in den letzten drei Jahren Konzerte mit über 100 Bands organisiert: „Die Leute kommen aus ganz Ostbosnien und selbst aus Serbien zu uns.“ Doch trotz des Versuchs, mit Hilfe der Kultur ein Versöhnungszeichen für den Verbleib in Srebrenica zu setzen, lässt sich die Abwanderung laut Miroslav kaum aufhalten: „Wir wollen hier bleiben und ziehen das Projekt durch, so lange wir können. Aber die Leute gehen weg, weil sie keine Perspektiven haben – und ein besseres Leben wollen.“

Zurückgekehrt ist Emir Suljagac. Im benachbarten Bratunac treffe er sich wieder mit den serbischen Vorkriegsfreunden, erzählt der bärtige Memorial-Direktor: „Wir reden über alles Mögliche. Nur die 90er-Jahre und den Krieg sparen wir aus.“ Er mache sich keine Illusionen, aber sei trotzdem Optimist, was Bosniens Zukunft angehe. In Deutschland seien die Hauptverantwortlichen für den Holocaust in den Nürnberger Prozessen relativ rasch zur Rechenschaft gezogen worden, aber dennoch habe dessen Aufarbeitung Jahrzehnte gedauert. Die Prozesse für Bosniens Kriegsverbrecher seien hingegen noch immer nicht abgeschlossen: „Es stimmt, wir hängen mit der Aussöhnung fest. Aber es gibt auch keinen Präzedenzfall, kein Drehbuch, an dem wir uns orientieren könnten.“

Viel Verdruss, leichte Hoffnung

Bosnische Serben würden kaum den Weg zur Gedenkstätte finden. Positiv sei, dass immer mehr Jugendgrupppen aus Serbien das Memorial besuchten: „Ich bin Anhänger der konsequenten juristischen Aufarbeitung: Je mehr Kriegsverbrecher – egal welcher Herkunft – zur Verantwortung gezogen werden, desto größer die Chance auf eine bessere Zukunft“, sagt Suljagac.

Getragen ruft aus dem Lautsprecher des Minaretts die Stimme des Muezzins zum Gebet. Den Glauben an bessere Zeiten in dem zur Geisterstadt mutierten Srebrenica hat der ernüchterte Rückkehrer Avro längst verloren. 25 Jahre seien eine lange Zeit, „mit ihrem Potenzial müsste die Stadt in einem viel besseren Zustand sein“. Doch statt für die Ansiedlung neuer Investoren zu sorgen, glänzten die serbischen und bosnischen Würdenträger in Sarajevo, Banja Luka und im Rathaus nur durch „Korruption, Unfähigkeit und Desinteresse“.

„Wenn ich nur die Hälfte von dem, was ich hier investiert habe, wieder herausholen könnte, würde ich meine Pension sofort verkaufen – und wegziehen“, gesteht der Gastronom beim Abschied: „Die Politiker der Bosniaken und Serben haben hier gemeinsam eine Atmosphäre und Lage geschaffen, die die Leute vertreibt. Und in absehbarer Zeit sehe ich keine Chance, dass sich das zum Positiven ändert.“

parrasch
12. Juli 2020 - 22.19

Völliger Quatsch was sie da von sich geben. Das Nato Mitglied Deutschland war damals in einer sehr schwierigen Lage hinsichtlich einer aktiven Beteiligung mit Bodensoldaten an einem Krieg Mitten in Europa.Die Niederlande, Engländer als Blauhelme mit ihrem Mandat zur Entwaffnung waren militärisch hoffnungslos überfordert. Es gab ausserdem damals sehr viele Menschen die gegen den Krieg und eine aktive Beteiligung der Natomitglieder protestiert haben. Ein Völkermord war nicht absehbar. Die Welt war aber noch eine andere. Europa war mit seiner Entscheidung direkt und aktiv in den Krieg einzutreten aufgrund der Weltkriege wie paralysiert. Aus heutiger Sicht scheint dies sehr einfach. War es aber nicht, weil paramilitärisch an vielen Orten operiert wurde. Bodentruppen wären in grossen Mengen nötig gewesen. Natürlich hätte Europa viel früher eingreifen müssen, dann wäre es möglicherweise nicht soweit gekommen. Aber die politischen Mechanismen waren zu der Zeit völlig anders. Aber mit Sicherheit kann das keiner sagen. Was viel schlimmer ist , ist die Tatsache dass alle Kriegsverbrecher ausser den Befehlshabern auf beiden Seiten nie verfolgt wurden. Erst das Eingreifen der Amerikaner aus der Luft wendete das Blatt. Aber hier eine kollektive Schuld auszusprechen ist falsch.

J.Scholer
11. Juli 2020 - 14.55

Srebrenica ist nicht nur Massenmord der nationalistischer Serben an den Muslimen , es ist auch ein Verbrechen unter den Augen der UN , der NATO. Ein Verbrechen das stillschweigend hingenommen wurde, ein Verbrechen dem keine Gegenwehr entgegen gesetzt wurde. Gerade in den jetzigen Tagen , wo die „blacklivesmatter„ Bewegung durch die Welt zieht, die Verbrechen längst verstorbener Generationen anprangert, sollten sie sich bewusst machen, ihre Eltern, sie selber diesen Massenmord hingenommen , nicht lauthals protestiert , sogar durch Duldung der Kriegsinterventionen aller Parteien im ehemaligen Jugoslawien den Tod vieler Unschuldiger mitverursacht haben. Srebrenica sind wir alle, wir alle tragen einen Teil dieser Schuld mit. Sei es durch unser Schweigen, unsere Machtinteressen, unser Wegschauen sind wir zu Mittäter geworden. Srebrenica ist überall in der Welt und wir schauen noch immer weg ,glauben, wenn wir dem Mainstream Aktionismus aktueller Protestwellen verfallen, die Welt zu ändern. Im Endeffekt hat sich seit Srebrenica nichts geändert.