Ukraine-KriegMariupol ist ganz in Moskaus Händen – alle ukrainischen Kämpfer sollen Stahlwerk verlassen haben

Ukraine-Krieg / Mariupol ist ganz in Moskaus Händen – alle ukrainischen Kämpfer sollen Stahlwerk verlassen haben
Mariupol nach der russischen „Befreiung“: Rund 90 Prozent der Stadt sind zerstört Foto: AFP/Andrey Borodulin

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Am Wochenende war es so weit. Nach 73 Tagen gaben die letzten im „Asovstal“-Stahlwerk verbliebenen ukrainischen Soldaten ihren Widerstand auf. Russland erobert damit die strategisch wichtige Landverbindung auf die besetzte Krim.

Das seit dem 1. März von den Russen umzingelte „Asovstal“-Werk hat sich am Wochenende nach 73 Tagen ergeben. Dies bestätigten sowohl Moskau wie Kiew. Laut dem russischen Verteidigungsministerium legten insgesamt 2.439 Ukrainer ihre Waffen nieder und begaben sich in Kriegsgefangenschaft. Kiew wiederum nennt keine Zahlen, bestätigt aber, dass nach allen Zivilisten nun auch alle „Verteidiger und Helden von Mariupol“ evakuiert worden seien. Die Soldaten hätten ihre Mission erfüllt, indem sie viel russische Truppenstärke gebunden und damit die bessere Vorbereitung auf die Verteidigung des Nord-Donbass und der knapp eine Million Einwohner zählenden Stadt Saporischschja erlaubt habe, sagte die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin.

Für beide Kriegsparteien wurde das Industriegelände „Asovstal“ in Mariupol im Ukrainekrieg schnell zu einem wichtigen Symbol. Denn hier konzentrierte sich bis zuletzt der ukrainische Widerstand gegen Russlands Plan, eine Landverbindung vom pro-russischen Donbass zur bereits 2014 annektierten ukrainischen Halbinsel Krim zu erobern. „Wir verteidigen jeden einzelnen Zentimeter unseres Territoriums“, hieß es jedoch in Kiew. Und im „Asovstal“-Werk wurde dies bis zum bitteren Ende umgesetzt, ein Ende mit über 600 verletzten und teils amputierten Verteidigern, die am Ende drohten zu verdursten, und schon lange keine Medikamente mehr hatten.

Zwei Narrative

Seit Wochen wurde in der ganzen Ukraine und von vielen Flüchtlingen im Ausland der Heldenmut der Soldaten dieser letzten versprengten Truppenteile in Mariupol besungen. Die „Asovstal-Helden“ bewiesen auch, dass Kiew nicht mehr wie 2014 kampflos Gebiet an Moskau übergibt, wie de facto auf der Krim geschehen.

Für Russland wiederum war „Asovstal“ nicht nur strategisch wichtig für die Kontrolle der Küstenlinie des Asowschen Meeres bis zur Krim, sondern hat auch eine wichtige ideologische Komponente. Denn im Bunkersystem des Stahlwerks hatten sich ausgerechnet auch Freiwillige des umstrittenen, teils rechtsextremen „Asow“-Bataillons der „Ukrainischen Nationalgarde“ verschanzt. Der Kampf um „Asovstal“ kann so leicht als Kampf gegen angebliche „Nazis und Faschisten“ verkauft werden. Dass das „Asow“-Regiment auch mindestens einen, dazu religiösen Juden als Mitbegründer hat, interessiert in Russland (und nicht nur dort) wenig, besonders wenn man es immer lieber Schwarz-Weiß haben will.

Seit dem Wochenende wird in Kiew indes auch bange darüber spekuliert, wie sicher diese „Helden von Mariupol“ heute sind. Denn sie wurden alle nach Osten evakuiert, in die selbst ausgerufene „Volksrepublik Donezk“ (DNR) oder gar in die nahe Hafenstadt Taganrog in Russland selbst. Und dort wurden sie inzwischen massiv bedroht, teils gar mit der Todesstrafe wegen angeblicher Kriegsverbrechen.

Der DNR-„Präsident“, Denis Puschilin, ein früherer Moskauer Politologe, forderte Ende Woche gar ein „internationales Gericht“ für diese Kriegsgefangenen, die er als „Faschisten“ bezeichnete. Was er unter „international“ versteht, ließ Puschilin ebenso offen, wie was heute 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg „Faschisten“ sind. Jedenfalls sollen die laut russischen Angaben 2.439 mithilfe der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes aus „Asovstal“ evakuierten Soldaten wegen angeblicher Kriegsverbrechen abgeurteilt werden.

Tausch gegen Putin-Freund?

Laut Kiewer Angaben sollten sie gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht werden. „Die Soldaten haben das Signal erhalten, dass sie das Werk verlassen und am Leben bleiben können“, erklärte Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag. „Von diesem Zeitpunkt an hängt alles von der UNO, dem Roten Kreuz und der Russischen Föderation ab, die zugesichert haben, dass sie in Sicherheit sind und auf eine Art Austausch warten“, sagte Selenskyj. In russischen Regierungskreisen hieß es am Sonntag, erwägt würde ein Austausch gegen den in der Ukraine gefassten Putin-Freund und ehemaligen pro-russischen Medienmogul Wiktor Medwedschuk.

Der Duma-Abgeordnete Leonid Slutski, ein wichtiges Ukraine-Verhandlungsmitglied des Kremls, hat dies inzwischen bestätigt. „Wir sondieren gerade den möglichen Austausch der ‘Asovstal-Leute’ mit Medwedschuk, aber wir sind nicht die einzige Partei, denn auch die DNR und andere Autoritäten Moskaus reden mit“, gab Slutski zu bedenken. Der 60-jährige ukrainische Oligarch war zu Kriegsbeginn aus seinem Kiewer Hausarrest geflohen, aber nach ein paar Wochen vom ukrainischen Geheimdienst SBU aufgespürt worden. Schon einmal hatte sich Medwedschuk selbst als Tauschpfand für Mariupol angeboten. Damals ging es um die noch rund 100.000 verbliebenen Einwohner der von den Russen zu bis zu 90 Prozent zerstörten Stadt; nun geht es „nur“ noch um die letzten Verteidiger der einst stolzen Industriestadt, rund 2.400 Mann.

Afrika: Gespräche mit Moskau und Kiew

Senegals Präsident Macky Sall will in den kommenden Wochen als Vorsitzender der Afrikanischen Union (AU) Gespräche in Moskau und Kiew führen. Ein für den 18. Mai geplanter Besuch habe nicht stattfinden können und werde nachgeholt, sagt er nach einem Treffen mit Kanzler Olaf Scholz in Dakar. Sall betont, dass die AU auf einen Waffenstillstand dringe und zugleich auf Hilfen im Kampf gegen hohe Energie- und Nahrungsmittelpreise hoffe. Zur Enthaltung seines Landes in der UN-Vollversammlung bei der Verurteilung des russischen Angriffs sagt er: „Wir wollen ganz klar nicht in diesen Konflikt hineingezogen werden, wir wollen Frieden. Auch wenn wir die Invasion verurteilen, arbeiten wir an einer Deeskalation.“ (AFP)