Dienstag9. Dezember 2025

Demaart De Maart

Tageblatt Futur(s)Mammutaufgabe Zukunftsdenken: Der erste Essay unserer neuen Newsletter-Reihe

Tageblatt Futur(s) / Mammutaufgabe Zukunftsdenken: Der erste Essay unserer neuen Newsletter-Reihe
Der Sticker von Loesje, kurz bevor Elli ihn geklaut hat Foto: Isabel Spigarelli

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Ana und Elli versacken nach einer Party in der WG-Küche. Ein Sticker am Kühlschrank entfacht eine Diskussion: Geht Luxemburg die Hoffnung aus? Ana nickt, Elli verneint. Ein fiktives Gespräch.

Ana zieht am offenen Fenster an ihrem Joint, kneift dabei die Augen zusammen. Die Funzeln abgebrannter Kerzen tauchen die Küche in Dämmerlicht. Im Hintergrund zieht der Zug von 3.15 Uhr ratternd vorbei, aus dem Bluetooth-Lautsprecher dringt leise „Don’t Call My Name“ von Skinshape in Dauerschleife – Ellis Lieblingssong nach durchzechten Nächten. Sie steht auf, wirft Ana einen fragenden Blick zu: „Letzte Runde?“

Ana nickt. Vor der Herdplatte klebt der Boden, am Kühlschrank ein Sticker von Loesje mit der Aufschrift „If you want to make history, make sure that there is a future“. Elli greift zum Bier und reicht Ana eins.

„Landest du irgendwann im Knast, weil du Street-Art klaust?“ Ana zwinkert Elli zu, zeigt auf den Aufkleber, dessen unteres Ende sich schon langsam aufrollt.

„Alles, was sich abkratzen lässt, darf ich haben“, scherzt Elli.

Ana liest den Satz noch mal laut auf Deutsch vor: „‚Wenn Du Geschichte schreiben willst, stelle sicher, dass es eine Zukunft gibt.‘ Mammutaufgabe. Wer glaubt denn noch an Zukunft?“

„Warum so pessimistisch?“, fragt Elli und nippt an ihrem Bier.

Sie bereut die Frage sofort. Ana neigt dazu, auszuschweifen. Vor allem, wenn sie nachts noch am Fenster sitzt. Elli verfolgt die Bewegungen ihrer Hände, das Zucken ihrer Mundwinkel. Sie bewundert Ana für ihr Wissen, nicht aber für ihren Drang, die Welt zu belehren. „Berufskrankheit“, rechtfertigt die Statec-Analystin sich immer. Anas Finger gleitet über den Bildschirm ihres Smartphones, der Joint landet im Aschenbecher, nachdem Elli ihn wie immer dankend ablehnt.

„Hier – ich hab’s. Ready für den Polindex 2024 in Luxemburg?“ Ana nimmt tief Luft.

„Hilfe“, seufzt Elli und trinkt. „Lass’ hören.“

Ana zählt einen Prozentsatz nach dem anderen auf. Es geht um die Methodologie – 1.561 Menschen haben sich an der Umfrage beteiligt! – und um das Wahlverhalten der luxemburgischen Bevölkerung. Elli versteht nur Bahnhof.

„[L]a méfiance vers la politique est toujours majoritaire parmi les citoyens luxembourgeois et les concitoyens étrangers“, liest Ana vor. „54 pourcent le sont. Les citoyens luxembourgeois et les concitoyens étrangers sont toutefois partagés quant à l’avenir économique du Luxembourg: respectivement 48 et 45 pourcent sont optimistes économiquement.“

Ana schaut erwartungsvoll zu Elli – die deutet mit der Hand an ‚Und weiter?‘. Ihre Mitbewohnerin nimmt sich Zeit, ascht aus dem Fenster, raucht, drückt den Spliff aus. Sie zitiert aus der Studie: „39 Prozent der Ausländer*innen sind misstrauisch, 30 Prozent verdrossen – und die machen fast die Hälfte der luxemburgischen Bevölkerung aus.“

„Und nach Statec steigen die Angstgefühle innerhalb der luxemburgischen Bevölkerung seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine an“, mischt Ana weitere Werte unter ihren Datensalat. „Vor allem aufgrund der Preiserhöhungen und Zinsen auf Immobilienkredite. Immer mehr Kinder im Schulalter leiden unter Gesundheitsbeschwerden, Angst, geringerer Lebenszufriedenheit und so weiter. Wer hofft denn da noch auf eine Zukunft?“

Elli verdreht die Augen.

Was ist Tageblatt Futur(s)

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie nur noch zuschauen können, während die Welt aus den Fugen gerät? Klimakrise, Demokratieabbau, soziale Ungleichheit – die Probleme scheinen zu groß, zu komplex, zu weit weg vom eigenen Alltag. Tageblatt Futur(s) soll Ihnen helfen, sich im Chaos der Welt zu orientieren. So landet der Tageblatt Futur(s) direkt in Ihrem Postfach: Newsletter abonnieren

„Bock auf ein Spiel?“, legt Ana nach. „Überzeug mich vom Gegenteil!“

„Was sind die Spielregeln?“

„In drei Stichwörtern zur Hoffnung: Was braucht es deiner Meinung nach, damit Menschen wieder an eine lebenswerte Zukunft glauben?“

„Easy“, lacht Elli auf.

„Na, dann schieß los“, fordert Ana sie auf.

„Sicherheit, erhöhtes Gefühl der Selbstwirksamkeit, Zusammenbruch des kapitalistischen Wertesystems.“

Ana beißt sich auf die Lippen. So leicht lässt sie ihre Mitbewohnerin nicht davonkommen. Sie steigt vom Fenstersims ab, rückt einen Küchenstuhl zur Seite und hockt sich zu ihr: „Okay, erste Challenge überstanden. Jetzt erkläre mir in jeweils einem Satz, wie du dieses Ziel erreichen willst.“

„Dein Ernst? Du darfst minutenlang aus dem Polindex referieren und mir gönnst du nur einen Satz? Das ist unfair.“ Elli motzt, stößt aus Protest gegen Anas Stuhl.

„Du bist doch Optimistin“, neckt Ana sie. „Versuch’s doch einfach.“

„Warum dürfen Probleme immer komplex sein und tot diskutiert werden, während Lösungen nur im Kurzformat erwünscht sind?“ Elli legt den Kopf zur Seite, geschlagen gibt sie sich nicht.

„Sicherheit, im Sinne von Abwesenheit militärischer und gewaltvoller Konflikte, erreichen wir nur durch eine feministische Außenpolitik“, sagt sie.

„Und was ist feministische Außenpolitik?“, fragt Ana.

„Kennst du nicht? Lass mich mal überlegen … Ich hab ein Buch.“ Elli verschwindet in ihrem Zimmer.

Die Tür zur Küche steht offen, aus dem Flur dringen Licht und Luft in den Raum. Elli kommt zurück, ein Buch mit rotem Umschlag in der Hand. Sie setzt sich zurück an ihren Platz, schlägt es auf und liest vor: „Feministische Außenpolitik kritisiert vermeintliche Sicherheitsmaßnahmen, die Militarismus fördern oder normalisieren, und macht die Entmilitarisierung zu einem zentralen Thema.“

Sie springt von einer Buchseite zur nächsten: „Die patriarchale Gesellschaftsordnung entscheidet über Krieg und Frieden.“ Dann blickt Elli zu Ana: „Lunz hat meiner Meinung nach recht, wenn sie sagt, dass wir politischen Konflikten nur durch die globale Entmilitarisierung vorbeugen können. Wir brauchen ein Gefühl der Sicherheit, damit wir uns eine Zukunft vorstellen können – und das erreichen wir nicht, indem wir uns in einer Spirale der Abschreckungsmanöver verlieren.“

„Aber das ist doch utopisch, Elli.“ Ana schnalzt mit der Zunge. „Meinst du Trump oder Putin ziehen mit? U-T-O-P-I-S-C-H.“

„Natürlich, aber deine Eingangsfrage war doch die: ‚Was braucht es deiner Meinung nach, damit Menschen wieder an eine lebenswerte Zukunft glauben?‘ Ich liefere dir Antworten“, kontert Elli. „Oder um es mit Kristina Lunz zu sagen – Moment, ich suche nach dem Zitat – hier, Seite 195: ‚Wenn eine Gesellschaft derart ungerechte Taten produziert wie unsere, sollten wir maximal utopische Forderungen stellen – also laut nach einer gerechten Welt rufen.‘ Und später schreibt sie – hold on, ich habe mir das markiert … Da ist es, Seite 356: ‚Wenn die Abschaffung von Krieg, Gewalt und bewaffneten Konflikten und die Herstellung von Frieden und Sicherheit für alle nicht unser endgültiges Ziel ist, was denn bitte dann?‘“

Ana lässt das durchgehen, weil sie keinen Bock hat, über Militarisierung zu sprechen. Sie vertritt eine andere Meinung – Elli weiß genau, dass sie für den Waffenexport und militärische Verteidigungspolitik steht. „Friede, Freude, Eierkuchen“ ist nicht so ihr Ding. Sie geriet mit Elli aneinander, als sie sich darüber freute, dass die EU 2024 satte 88 Milliarden Euro zur Beschaffung von Verteidigungsgütern auf den Tisch legte und Millionen in die Förderung der Munitionsproduktion steckte.

„Okay, wenn ihr meint“, gähnt sie. „Weiter: Selbstwirksamkeit!“

Elli schlägt das Buch zu und schiebt es beiseite.

„Kennst du den Soziologen Thomas Lemke?“, fragt sie.  

Ana verneint: „Noch nie gehört.“

„Der ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und Sprecher des Graduiertenkollegs ‚Fixing Futures‘. Ich habe vor Kurzem ein interessantes Interview auf quarks.de mit ihm gelesen.“ Elli kramt ihr Handy hervor, gibt „thomas lemke quarks“ in die Suchleiste ein und öffnet den Artikel „Was bringt es uns, optimistisch in die Zukunft zu schauen?“.

„Also, mein Lösungsvorschlag für ein erhöhtes Gefühl von Selbstwirksamkeit entspricht im Grunde genau dem, was Lemke hier sagt: ‚Wir brauchen sowohl große Visionen, die versuchen, viele Bereiche miteinander zu verknüpfen, als auch die lokalen, sehr detaillierten Visionen, bei denen man die konkrete Bedeutung für das eigene Leben sehen kann.‘“

Ana rümpft die Nase. „Viel zu schwammig“, sagt sie, „Elli: zero points! Aber los, mach weiter.“

„Lemke sagt, Erfolge auf lokaler Ebene könnten sich auf globale Projekte ausweiten. Er gibt das Beispiel von Städten, das sich meiner Ansicht nach aber auch locker auf Menschen übertragen lässt: Wenn eine Gemeinde ein Vorzeigeprojekt umsetzt, das positive Veränderungen mit sich bringt, ziehen weitere Städte nach“, spinnt Elli ihre Gedanken weiter. „In der Schlussfolgerung des Artikels heißt es: ‚Einzelpersonen können ihre Selbstwirksamkeit stärken, indem sie sich in Bereichen engagieren, die ihnen Spaß machen oder in denen sie Fortschritte sehen.‘“

„Damit bin ich einverstanden.“ Ana hält Elli die Hand hin. High Five. „Wenn ich an die verbotene Pride in Budapest oder an die Gewerkschaftsdemo in Luxemburg-Stadt denke, ist das schon ermutigend. Zieh dir das mal rein: In Budapest haben um die 180.000 Menschen gegen den Beschluss von Ministerpräsident Viktor Orban protestiert und sind trotz Drohungen für die Rechte von LGBTIQA+-Menschen durch die Stadt marschiert.“

„Und bei der Gewerkschaftsdemo in Luxemburg waren es rund 25.000 Protestierende, die sich gegen die Regierungspolitik unter Premierminister Luc Frieden zur Wehr setzten“, ergänzt Elli. „Er zeigte sich danach immerhin gesprächsbereit, auch wenn der Sozialdialog eine einzige shit show war …“

Die beiden prosten sich zu.

„Was war noch mal dein letzter Vorschlag?“, fragt Ana.

„Zusammenbruch des kapitalistischen Wertesystems.“

„Stichwort?“

„Hurra, die Welt geht unter.“

„Häh?“

Elli – das Handy immer noch in der Hand – wechselt die Apps. Sie öffnet ihren Musikstreamingdienst, gibt schnell K.I.Z. ein. Skinshape hat Sendepause, jetzt klingen die ersten Noten des Songs „Hurra, die Welt geht unter“ von K.I.Z. und Henning May an. Elli stimmt ein:

„[D]ie Alten erzählen vom Häuserkampf
Beim Barbecue in den Ruinen der deutschen Bank (…)

Und wenn einer auf ’ner Parkbank schläft
Dann nur weil sich ein Mädchen an seinen Arm anlehnt

Drei Stunden Arbeit am Tag, weil es mehr nicht braucht (…)

Es gibt kein‘ Knast mehr, wir grillen auf den Gefängnisgittern
Verbrannte McDonald’s zeugen von unseren Heldentaten

Seit wir Nestlé von den Feldern jagten
Schmecken Äpfel so wie Äpfel und Tomaten nach Tomaten
Und wir kochen unser Essen in den Helmen der Soldaten (…)

Ein Goldbarren ist für uns das gleiche wie ein Ziegelstein
Der Kamin geht aus, wirf’ mal noch ’ne Bibel rein
Die Kids gruseln sich, denn ich erzähle vom Papst (…)

Ich zeig’ den Kleinen Monopoly, doch sie verstehen’s nicht
Ein 100-Euro-Schein? Was soll das sein?
Wieso soll ich dir was wegnehm’n, wenn wir alles teilen? (…)“

(K.I.Z. ft. Henning May, „Hurra die Welt geht unter“)

„Elli? Das ist kein Stichwort, das ist ein ganzer Song“, zieht Ana Elli auf und wirft lachend den Kopf in den Nacken. „Noch dazu von einer Band, deren Lyrics teils unterste Schublade sind.“

„Sorry, du kannst alternativ auch ‚Imagine‘ von John Lennon hören.“

„Ach, komm, hör auf.“ Ana grinst.

„Aber die Message ist doch klar, oder?“ Elli wechselt zurück zu Skinshape. „Ökonomische Sorgen, Angst vorm Versagen, vor Wohnungsnot, vor Krieg – all das wäre in einem Szenario wie dem hier wie weggeblasen. Würden wir es wagen, all das, worauf wir bisher bauten, zusammenzuschlagen, wäre ein wahrer Neustart möglich. Geld, der Immobilienmarkt, Konkurrenzdruck, Ausbeutung … das sind halt hausgemachte Probleme, die sich gegenseitig bedingen. Es ist ein Teufelskreis. Warum also nicht noch mal neu denken? Träum doch mal, Ana.“

„Abgemacht, aber dafür lege ich mich jetzt hin.“ Ana steht auf, stützt eine Hand auf Ellis Schulter ab. „Und was meinst du, wovon die anderen träumen?“

Elli zuckt mit den Schultern: „Müssen wir nachfragen.“

Quellen

– Poirier, Philippe; Di Pasquale, Antonella; Darabos, Agnes: Polindex 2024 – résultats principaux. Hgv. : Chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg, Luxembourg, 3 juin 2024.
– https://luxembourg.public.lu/de/gesellschaft-und-kultur/bevolkerung/demografie.html– Hury, Jérôme; Senyo Ametepe, Fofo: Rapport PIBien-être 2023.
– Catunda, Carolina; Mendes, Felipe G.; Lopes Ferreira, Joana; Residori, Caroline (2023). Mentale Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen im Schulalter in Luxemburg – Bericht über die HBSC-Umfrage 2022.
– Lunz, Kristina: Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen, S. 51. Ullstein Buchverlag, Berlin 2022.
– https://www.consilium.europa.eu/de/policies/defence-numbers/
– Uhrig, Stefanie: Positivität im Krisenmodus. Was bringt es uns, optimistisch in die Zukunft zu schauen? März 2023. Was bringt es uns, optimistisch in die Zukunft zu schauen? – quarks.de
– Oé, Jessica: Das Tageblatt auf der verbotenen Pride in Ungarn: Hunderttausende senden klares Zeichen gegen Orban. Reportage Das Tageblatt auf der verbotenen Pride in Ungarn: Hunderttausende senden klares Zeichen gegen Orban
– Tageblatt-Redaktion: Nora Back: „25.000 Menschen, haben entschieden, nicht in den Wald spazieren zu gehen“. Nationale Demonstration Nora Back: „25.000 Menschen, haben entschieden, nicht in den Wald spazieren zu gehen“
– Drüner, Maxim; Ebéné, Tarek; Thomas-Paolucci, Kevin; Roshan, Rajesh; Schneider, Moses; Seyfrid, Nico; Wessendorf, Gerrit: Hurra, die Welt geht unter. Berlin, 3. Juli 2015.