Gastbeitrag / Luxemburger Schulsystem: von Luxemburger(inne)n für Luxemburger(innen)?
1991 führte das MENJE an, dass man Methoden entwickeln müsse, um bei Evaluation, Orientierung und Lernmöglichkeiten den Unterschiedlichkeiten der Lernenden Rechnungen zu tragen. 2018 zeigten die Ergebnisse des nationalen Bildungsberichtes, dass Schüler(innen), deren Erstsprache Luxemburgisch ist, einen erheblichen Vorteil gegenüber anderen Lernenden haben. 2021 ist festzustellen, dass man Ungleichheiten und deren Verstärkung der Pandemie zuschreibt. Ein Analyseversuch.
Fast die Hälfte der Luxemburger Schüler(innen) haben einen diverskulturellen Hintergrund. Dies bedeutet, dass die Hälfte der Schülerschaft Luxemburgisch nicht oder nicht als einzige Familiensprache haben. Hinzu kommen große Unterschiede, was die sozioökonomische Situation der einzelnen Schüler(innen) betrifft, die die Unterschiede in der Gesellschaft widerspiegeln. Zwangsläufig bleiben diese Ungleichheiten nicht an der Türschwelle der Schule zurück. Schaut man sich PISA-Ergebnisse sowie Ergebnisse von Bildungsforscher(inne)n über die letzten Jahre an, wirft es allerdings die Frage auf, ob das Bildungssystem genug tut, um Ungleichheiten abzubauen.
Schule: ein Ort, wo Ungleichheiten toleriert oder gefördert werden?
Nicht erst seit 2018 ist bekannt, dass das luxemburgische Bildungswesen Luxemburgisch sprechende und sozioökonomisch Bevorteilte privilegiert. Dabei geht es nicht um bewusste Entscheidungen von Lehrpersonen, verschiedene Gruppen zu benachteiligen, sondern um ein institutionelles Problem. Ein Schulsystem, das vor allem nach Sprachfähigkeiten bewertet und später orientiert, lässt zwangsläufig alle außen vor, die nicht über die vom System geforderten sprachlichen Kenntnisse verfügen.
Immer wieder hört man als Argument, dass die Sprachen eine wichtige Stärke Luxemburgs sein und dass man nicht zu viel an diesen Rädern drehen könne, um einen Verfall der Sprachkenntnisse in Luxemburg zu vermeiden. Allerdings ignoriert man, bewusst oder unbewusst, dass diese Struktur vor allem sozioökonomisch bevorteilten Lernenden, die Luxemburgisch sprechen, eine hohe Bildungschance ermöglicht und allen, die nicht in diese Kategorie passen, Steine in den Weg legt. Kommen wir zurück auf die Zusammensetzung der Schülerschaft, dann lässt sich feststellen, dass das Schulsystem also etwa die Hälfte der Lernenden benachteiligt.
Ein einfaches Beispiel – ein komplexes Problem
Eine Schülerin rechnet vor: „Ich spreche Portugiesisch und Französisch zu Hause. Mein Deutsch und mein Luxemburgisch waren nie perfekt und ich wurde darum nicht in das ‚Lycée classique’ orientiert. Zusätzlich hatten meine Eltern das Geld nicht, um mir Nachhilfestunden zu finanzieren.“ Nur ein Beispiel von vielen, das aufzeigt, dass die Strukturen des Schulsystems offenbar nicht reichen, um die Lernenden in den Schulsprachen entsprechend zu fördern. Die Lehrkräfte alleine in der Verantwortung zu sehen, wäre zu banal. Letztere sind auch Teil eines Systems, dessen Strukturen zwar methodischen Spielraum lassen, aber eben doch eine gewisse Rigidität haben, was die Anforderungen für verschiedene Laufbahnen betrifft.
Unabhängig von der Debatte, inwiefern das Bildungswesen generell zeitgemäß ist, ist bereits seit Jahren deutlich, dass es eines Paradigmenwechsels bedarf. Noch immer scheinen das Programm, das System und veraltete Strukturen im Mittelpunkt zu stehen anstatt die Lernenden. In einigen Bundesländern in Deutschland gibt es Überlegungen, die Erstsprache der Lernenden anzurechnen und somit als Ressource zu verstehen. Es scheint paradox, dass einem Schüler/einer Schülerin der Weg ins „Enseignement classique“ verwehrt bleibt, weil die Deutschkenntnisse vermeintlich nicht ausreichen, dieselbe Person aber eigentlich noch eine weitere Sprache beherrscht. Das Argument, man könne an den sprachlichen Anforderungen festhalten, da Sprachen wichtig in Luxemburg seien, wird noch absurder, wenn man sich die gesellschaftliche Realität vor Augen führt. Einerseits predigt man den Lernenden, sprachliche Kenntnisse seien essenziell, andererseits ignoriert man Sprachen, die die Kinder mitbringen. Dabei geht es nicht darum, eine Sprache durch eine andere zu ersetzen, sondern darum, dass das System eine Bereitschaft zeigen muss, die Strukturen der Diversität der Schülerschaft anzupassen.
Des Weiteren müssen Strukturen geschaffen werden, die Benachteiligten helfen. Häufig wird sich hinter dem Argument versteckt, in Luxemburg haben alle Kinder die gleichen Rechte auf Schulerfolg. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit Chancengleichheit. Wenn man Schüler(innen) weiterhin nach bestehenden Mechanismen bewertet und segregiert, schafft man eine Situation, in der sozioökonomisch benachteiligte, nicht Luxemburgisch sprechende Lernende bereits vor dem ersten Schultag einen erheblichen Nachteil haben. Aus diesem Nachteil entwickelt sich ein Rückstand, der in der Mehrheit der Fälle fast unmöglich ist, aufzuholen.
Ausblick
Die Pandemie hat Lernungleichheiten verschärft. Dies sollte allerdings nicht als Vorwand benutzt werden, um bereits vorhandene Probleme unter den Teppich zu kehren. Seit Jahrzehnten sind diese Ungleichheiten bekannt und zeigen auf, dass das momentane System diese nicht auffangen kann. Solange man nicht versucht, die Schulstrukturen an die Bedürfnisse der Schüler(innen) anzupassen, um ein gerechteres Bildungswesen zu schaffen, lässt man einen großen Teil der Lernenden im Regen stehen. Hinzu kommt, dass in einem ungerechten System auch die beste Lehrkraft irgendwann an die eigenen Grenzen kommt und nur bedingt Einfluss hat.
Verweigert man auch in Zukunft einen Paradigmenwechsel, muss das nationale Bildungswesen sich den Vorwand gefallen lassen, dass man bewusst und gewollt Schüler(innen) mit gewissen Merkmalen benachteiligt und andere privilegiert.
* Andy Schammo studiert Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema „Institutionelle Diskriminierung im Luxemburger Bildungswesen“. Er setzt sich privat gegen Diskriminierung und Ungleichheiten ein.
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Das luxemburgische Schulsystem , bis zum Ende der 70 ziger Jahre , ebnete den Weg für viele Schüler , ob mit Migrationshintergrund oder nicht , dank der vermittelten Bildung zu Universitäten, Hochschulen……Viele italienische Emigrantenkinder die in heutigen Spitzenfunktionen von Politik und Wirtschaft walten sind Beweis genug.Seit die politischen Experimente im Schulsystem ihren Einzug hielten, sank die schulische Bildung auf europäischen Niveau enorm.Nur keinen Schüler in seinen Anstrengungen fordern , ihm die Nachexamina , das Sitzenbleiben ersparen und ein Weiterkommen ihm als Geschenk für Faulheit, Schlendrian ermöglichen. Ich bin überzeugt , das nicht mehr auf Leistung und Fleiß ausgerichtete heutige Schulsystem allen Schülern, egal welcher Nationalitäten , alle Chancen für einen Abschluss bieten tut.
Das erklärt auch, warum Luxemburg nicht bei Pisa teilnehmen will …
@von Blücher: die Ironie welche Ihrer Grammatik entspringt, köstlich!
„Nicht erst seit 2018 ist bekannt, dass das luxemburgische Bildungswesen Luxemburgisch sprechende und sozioökonomisch Bevorteilte privilegiert. “ (Zitat aus obigem Artikel)
Ja schon 1977 ( ! ) wurde dies erstmals in der MAGRIP Studie (Matière grise perdue) anschaulich beschrieben. Getan hat sich seither …. ?
In den meisten Ländern ist das Schulsystem ausschliesslich auf die Muttersprache ausgerichtet, die dort Gültigkeit hat.
Nur Luxemburg „schämt“ sich mal wieder seiner Nationalität
Wat ass dat nees fir eng Iwwerschrëft an och eng topeg Etude. Huet schon een eppes héieren, wou fransousen eng franséich Schoul fir Lëtzebuerger machen, oder Eistreicher eng däitsch Schoul fir Schweden? Huet iergendeen domat ee Problem?
Wieso wird hier von Schüler(innen) geschrieben?! Durch die Einklammerung der weiblichen Lernenden findet ein Ausschluss statt! Das ist diskriminierend, bitte sensibler gendern. Danke.