Kammer-Generalsekretär Frieseisen„Luxemburg braucht ein Vollzeitparlament“

Kammer-Generalsekretär Frieseisen / „Luxemburg braucht ein Vollzeitparlament“
18 Jahre lang war Claude Frieseisen Generalsekretär der Abgeordnetenkammer. In wenigen Wochen tritt er in den Ruhestand. Foto: Editpress/Alain Rischard

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Als „Seele des Parlaments“ hat Kammerpräsident Fernand Etgen den Generalsekretär der Abgeordnetenkammer, Claude Frieseisen, kürzlich bezeichnet. Am 1. November 2000 wurde der heute 60-jährige Jurist zum stellvertretenden Generalsekretär ernannt. Nur zwei Jahre später hat er die Leitung der Kammerverwaltung in turbulenten Zeiten übernommen. In den vergangenen 18 Jahren hat er als rechte Hand der Parlamentspräsidenten Jean Spautz (CSV), Lucien Weiler (CSV), Laurent Mosar (CSV), Mars di Bartolomeo (LSAP) und Fernand Etgen (DP) gedient. In wenigen Wochen geht Claude Frieseisen in Rente. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen und gewährt einen Einblick in den Betrieb der Abgeordnetenkammer.

Tageblatt: Kammerpräsident Fernand Etgen hat Sie beim Neujahrsempfang als „Seele des Parlaments“ bezeichnet. Was hat er damit gemeint?

Claude Frieseisen: Ich hoffe, dass er damit gemeint hat, dass ich mich ernsthaft um die Probleme der Abgeordnetenkammer gekümmert habe. Es war mir stets ein Anliegen, nichts dem Zufall zu überlassen und dafür zu sorgen, dass die Verwaltung reibungslos läuft, um den Abgeordneten optimal zuarbeiten zu können.

Welcher Moment bleibt Ihnen in besonderer Erinnerung, wenn Sie auf die letzten 20 Jahre zurückblicken?

Für mich persönlich ist es am schönsten, wenn ich höre, dass die verschiedenen politischen Parteien Vertrauen in mich hatten. Ich wollte stets neutral in meiner Arbeit bleiben, unabhängig von den unterschiedlichen Verbindlichkeiten der Parteien, die im Büro vertreten sind. Das hatte ich mir von Anfang an vorgenommen. Umso mehr freut es mich, wenn ich dieses Ziel erreichen konnte.

Welche Akzente konnten Sie während Ihrer fast 20-jährigen Amtszeit setzen?

Mit der „Chaire de recherche en études parlementaires“ an der Uni Luxemburg konnten wir neue Wege gehen. Sie ermöglicht es uns, die Abgeordnetenkammer von außen zu betrachten. Der Lehrstuhl erlaubt es der Uni, losgelöst vom alltäglichen Geschäft, einen kritischen Blick auf das Parlament zu werfen. Am Herzen lag mir auch, das Parlament dazu zu bewegen, sich mit der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Ich glaube, dass dieser Bereich in den kommenden Jahrzehnten, zum Beispiel im Hinblick auf die künstliche Intelligenz, einen immer größeren Stellenwert einnehmen wird. Für die Parlamentarier ist es wichtig, dass sie solche Entwicklungen antizipieren, anstatt ihnen hinterherzulaufen. Besonders gefreut hat es mich, dass die interne Expertise und die Anpassung der öffentlichen Politik in das letzte Regierungsprogramm aufgenommen wurden.

Sie haben unter fünf Kammerpräsidenten gedient. Hatten Sie einen Favoriten?

Ich habe keinen Favoriten. Jeder Präsident hat seine Arbeitsweise und seine Erfahrung eingebracht. Wir haben es aber immer geschafft, dass Präsident und Generalsekretär als Binom funktionieren. Wir hatten stets dieselbe Art und Weise, über Dinge nachzudenken und Probleme anzugehen, immer über die politischen Grenzen hinaus. Ich bin dankbar, dass alle Präsidenten, unabhängig davon, welcher Partei sie angehörten, mir vertraut haben.

Gab es nicht auch manchmal schwierigere Momente?

Das ist schwer zu sagen. Manchmal gab es Entscheidungen, bei denen Herz und Verstand sich widersprachen. Vom Herzen her wäre ich vielleicht offener gewesen, aber im Dienst der Sache musste ich anders entscheiden.

Welche Entscheidungen waren das?

Es waren kleine Entscheidungen. Zum Beispiel Urlaubsanträge, die ich gerne genehmigt hätte, doch die Regeln ließen es nicht zu. Es gibt Situationen, in denen man nicht nachgeben kann, obwohl man es eigentlich gerne möchte.

Die Aufgaben der Abgeordnetenkammer haben sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Immer mehr Entscheidungen, die das Parlament trifft, beruhen auf EU-Direktiven und europäischen Verordnungen. Nimmt die Bedeutung der nationalen Parlamente ab?

Ich glaube nicht, dass ihre Bedeutung abnimmt. Ihre Rolle ändert sich. Damit das Parlament in europäischen Fragen Schritt halten kann, haben wir bestimmte Strukturen wie die „Cellule européenne“ aufgebaut. Wir haben einen permanenten Vertreter in Brüssel, der uns in Europafragen berät. Auch in den Fachkommissionen werden viele EU-Angelegenheiten diskutiert. Unser Ziel ist es, möglichst früh Einblick in die Direktiven zu bekommen, damit wir so schnell wie möglich darauf reagieren können. Die europäische Dimension wird aber sicherlich weiterhin zunehmen.

Die parlamentarische Arbeit wird immer umfangreicher. Welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für die Verwaltung der Abgeordnetenkammer?

In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der Verwaltungsangestellten von 45 auf rund 100 Mitarbeiter gestiegen. Dadurch können wir zusätzliche Dienste anbieten. Wir müssen es fertigbringen, komplizierte Sachverhalte faktisch, neutral und leicht verständlich aufzubereiten. Danach ist es Aufgabe der Fraktionsmitarbeiter, die parteipolitischen Konnotationen einzufügen.

Das Luxemburger Parlament ist vergleichsweise schwach. Gesetzesinitiativen von Abgeordneten machen nur rund fünf Prozent der Gesetzesverfahren aus. Woran liegt das?

Einerseits wird der legislative Prozess immer komplexer, andererseits sind die Abgeordneten sehr vielseitig engagiert. Manche sind neben ihren nationalen Verpflichtungen noch in internationalen Gremien vertreten. Auch die Ämterkumulierung spielt eine wichtige Rolle. Viele Parlamentarier haben noch ein kommunales Mandat, das sie erfüllen müssen, oder besetzen eine leitende Funktion in ihrer Partei. Man darf auch nicht vergessen, wie viele tausend Mitarbeiter die Ministerien haben und wie viele Mitarbeiter den Abgeordneten bislang zur Verfügung stehen. Oft ist es ja so, dass die Regierung eigene Gesetzesprojekte denen von Parlamentariern vorzieht oder nur einen Teil davon übernimmt.

Die zusätzlichen Mitarbeiter in den Fraktionen und in der Verwaltung sind notwendig, damit wir Beratungs- oder Orientierungsdebatten unabhängig und ohne externe Beratung vorbereiten können, um unserer Rolle gerecht zu werden

Claude Frieseisen, Generalsekretär der Abgeordnetenkammer

Um der zunehmenden Komplexität gerecht zu werden, hat das Parlament entschieden, die Personalbudgets für die Fraktionen zu erhöhen und mehr interne Experten in der Verwaltung einzustellen. Wie wichtig ist diese Entscheidung?

Die interne Expertise der Kammer kann den Abgeordneten Analysen zur Verfügung stellen, auf deren Grundlage sie mit ihren Fraktionsmitarbeitern Gesetzesvorschläge ausarbeiten können. Die zusätzlichen Mitarbeiter in den Fraktionen und in der Verwaltung sind auch notwendig, damit wir Beratungs- oder Orientierungsdebatten unabhängig und ohne externe Beratung vorbereiten können, um unserer Rolle gerecht zu werden. Ich hoffe, dass wir auf diese Weise sowohl bei den Gesetzesprojekten als auch bei den Debatten eine andere Qualität erreichen können.

Der scheidende LSAP-Fraktionsvorsitzende und neue Staatsrat Alex Bodry hat kürzlich ein Vollzeitparlament und eine Erhöhung der Zahl der Abgeordneten gefordert. Unterstützen Sie seinen Vorstoß?

Ich habe in den vergangenen 20 Jahren deutlich gespürt, dass Luxemburg ein Vollzeitparlament braucht. Ich bin ganz klar mit Alex Bodry auf einer Linie. Wenn wir aus der Abgeordnetenkammer ein starkes Parlament machen wollen, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir das Vollzeitparlament in nächster Zeit umsetzen wollen.

Wenn wir aus der Abgeordnetenkammer ein starkes Parlament machen wollen, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir das Vollzeitparlament in nächster Zeit umsetzen wollen

Claude Frieseisen, Generalsekretär der Abgeordnetenkammer

Das Parlament ist unabhängig von der Exekutive, wird aber über das Staatsbudget finanziert. Stellt das ein Problem dar?

Bislang gab es keine budgetären Probleme. Die Abgeordnetenkammer hatte immer die notwendigen Mittel, um ihren Aufgaben gerecht werden zu können. In Krisenzeiten ging das Parlament aber stets mit gutem Beispiel voran und hat seine Ausgaben im Zaum gehalten.

Wird seit Ende der Finanzkrise denn wieder Champagner in der Kammer getrunken oder sind Sie beim Crémant geblieben?

Wir belassen es ganz gerne beim Luxemburger Crémant.

Manche Politiker beklagen seit einiger Zeit eine Verrohung der Sprache und des politischen Diskurses. Konnten Sie eine solche Entwicklung in der Abgeordnetenkammer beobachten?

Bei manchen Diskussionen ist es klar, dass die Gefühle Überhand nehmen. Das ist aber normal in einem Haus, in dem kontrovers debattiert wird. Insgesamt muss man sagen, dass die Politiker sehr respektvoll miteinander umgehen. Wenn der eine oder andere im Affekt der Diskussion sich mal zu etwas hinreißen lässt, muss man ihm das auch verzeihen können. Man sollte diese Reaktionen nicht überbewerten. In den vergangenen 20 Jahren habe ich festgestellt, dass in den „Sternstunden“, wenn aus ideologischen Gründen kontradiktorische Debatten geführt wurden, das Parlament immer gewusst hat, worauf es ankommt, und gelassen geblieben ist.

Vor 20 Jahren waren Sie als stellvertretender Generalsekretär an der Einführung des Fernsehsenders Chamber TV beteiligt. Sind Sie mit der Entwicklung des Programms zufrieden?

Wir sind uns natürlich bewusst, dass nicht jede Sitzung gute Einschaltquoten hat. Bei manchen Debatten war aber durchaus großes Interesse vorhanden. Wir wissen, dass die Medienwelt sich stark verändert und denken darüber nach, kürzere Reportagen und Einspieler zu produzieren, die wir auf unseren Facebook-, Twitter- oder Instagram-Kanälen zeigen können. Wir dürfen den Anschluss an die Entwicklung der neuen Medien nicht verlieren.

Werden Sie die Printausgabe des Kammerberichts, die den Tageszeitungen beiliegt, beibehalten?

Irgendwann müssen wir uns sicherlich Gedanken darüber machen, ob diese Ausgabe noch sinnvoll ist. Viele Wähler im fortgeschrittenen Alter sind aber nicht auf den sozialen Medien präsent. Um sie nicht auszuschließen, haben wir den gedruckten Kammerbericht beibehalten. Doch selbst wenn die Printversion abgeschafft wird, werden wir den Kammerbericht weiterführen, weil er ausführlich und nützlich ist und eine wichtige Quelle für Journalisten und Historiker darstellt. Wie und wo wir ihn dann veröffentlichen werden, muss sich noch zeigen.

Das Parlament hat sich kürzlich dafür ausgesprochen, dass auch die Ausschusssitzungen künftig öffentlich sein sollen. Ist das überhaupt praktisch und technisch umsetzbar?

Die technischen Möglichkeiten sind sicherlich vorhanden. Es stellen sich aber andere Fragen, über die wir uns zurzeit beraten. Wir sind dabei, einen detaillierten Fragenkatalog zu erstellen, den wir den politischen Verantwortlichen in den nächsten Wochen überreichen werden.

Wenn wesentliche Fragen schon öffentlich in einer Kommissionssitzung besprochen und im Anschluss ausführlich in der Gesellschaft kommentiert wurden, ist es dann noch sinnvoll, in einer Plenarsitzung erneut über das gleiche Thema zu diskutieren?

Claude Frieseisen, Generalsekretär der Abgeordnetenkammer

Um welche konkreten Fragen handelt es sich?

Eine Frage stellt sich zum Beispiel im Hinblick auf den Sitzungsbericht. Bleibt dieser Bericht weiterhin ausführlich oder wird nur noch eine Zusammenfassung veröffentlicht, weil die Kommissionssitzung ja übertragen wurde? Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Arbeitsweise der Vollversammlung. Luxemburg ist ein kleines Land, in dem Nachrichten sich schnell verbreiten. Wenn wesentliche Fragen schon öffentlich in einer Kommissionssitzung besprochen und im Anschluss ausführlich in der Gesellschaft kommentiert wurden, ist es dann noch sinnvoll, in einer Plenarsitzung erneut über das gleiche Thema zu diskutieren?

Im März 2018 hatte der öffentlich-rechtliche Radiosender 100,7 ein Datenleck im informatischen System der Abgeordnetenkammer aufgedeckt. Wie haben Sie diese sogenannte Chamber-Leaks-Affäre erlebt und welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen?

Niemand mag oder braucht solche Affären. Es gibt aber nichts, das so schlecht ist, dass man nicht auch Gutes daraus ziehen kann. Nach der Aufdeckung des Lecks haben wir uns sofort von externen Firmen beraten lassen, um zu analysieren, was wir noch verbessern können. Wir haben die verschiedenen Facetten der Sicherheit überprüft und einen Verantwortlichen für Informationssicherheit eingestellt, der am 1. März seine Arbeit aufnehmen wird. Wir werden Chartas erstellen und die Prozeduren verbessern. Wir haben aus der Chamber-Leaks-Affäre gelernt und das Haus so aufgestellt, dass die Sicherheitskultur deutlich im Vordergrund steht.

Sie arbeiten auch an einer neuen Internetseite?

Ja, unser Internetauftritt soll benutzerfreundlicher gestaltet werden. Die Verwaltungsdienste haben schon viel Vorarbeitet geleistet. In Kürze wird eine öffentliche Ausschreibung zur Umsetzung der Internetseite gestartet. Neben der Verbesserung der Funktionalität sollen die Inhalte in mehreren Sprachen veröffentlicht und für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zugänglich sein.

2014 hat die Kammer die öffentlichen Petitionen eingeführt. Nur ein Bruchteil der Petitionen erreicht die benötigte Anzahl an Unterschriften, um von der zuständigen Kommission gehört zu werden. Wie fällt Ihre bisherige Bilanz dazu aus?

Die Petitionen sind ein interessantes Instrument der Bürgerbeteiligung. Durch sie kamen manche Themen auf die politische Agenda, die ohne die Petitionen vielleicht nicht dort aufgetaucht wären. Man erkennt, was die Menschen bewegt. Schon alleine deswegen sind die Petitionen ein Erfolg.

Alex Bodry hat kürzlich die Einführung legislativer Volksinitiativen vorgeschlagen. Sollte das Petitionsrecht Ihrer Ansicht nach noch erweitert werden?

Diese Entscheidung müssen die Politiker treffen. Es scheint mir aber sinnvoll, ernsthaft über solche Wege nachzudenken, um den Spagat zwischen repräsentativer und partizipativer Demokratie hinzubekommen.

Wann und wie wird über Ihre Nachfolge entschieden?

Die Abgeordnetenkammer muss in einer geheimen Abstimmung einen neuen Generalsekretär ernennen. Die politische Welt muss sich parteiübergreifend für den Kandidaten entscheiden, der den Job so ausführt, wie das Parlament es sich vorstellt. Der Generalsekretär sollte sich meiner Ansicht nach aus dieser Entscheidung raushalten. Ich werde natürlich bleiben, bis ein Nachfolger gefunden ist.

de Schmatt
16. Januar 2020 - 9.57

Vollzeitparlament haben wir doch schon, bei den Indemnitäten, die unsere Volksvertreter beziehen! Dann müsste aber gleichzeitig das Doppelmandat abgeschafft werden.