Standpunkt / Lippenstift und Corona

Obschon die Biologie eine Rolle spielt, sind die Unterschiede in Bezug auf COVID-19 auch auf das sozial konstruierte Geschlecht zurückzuführen (Foto: dpa)
„Schützt mich mein Lippenstift vor Corona?“, gehört zu den spannendsten E-Mail-Anfragen, die uns erreicht haben, seit wir das weltweit größte Archiv für nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten zur Pandemie koordinieren. Die Frage verweist auf eine wichtige universelle Wahrheit über die öffentliche Gesundheit.
Wir haben das Datenarchiv im März 2020 ins Leben gerufen, weil wir vermuteten, dass Corona nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark treffen würde. Diese Vermutung hat sich inzwischen bestätigt. Beispielsweise zeigen unsere Daten, dass Frauen sich häufiger auf COVID-19 testen (und dagegen impfen) lassen, seltener ins Krankenhaus und sehr viel seltener mit schweren Verläufen auf die Intensivstation kommen und ihr Risiko, an der Krankheit zu sterben, um rund 30% geringer ist als bei Männern.
Grundsätzlich hat die Pandemie ein dringend benötigtes Schlaglicht auf gesundheitliche Benachteiligungen und das Verhältnis von Ungleichheit und Krankheit geworfen. Sie hat gezeigt, dass die Risiken innerhalb von Gesellschaften und die Lasten zwischen den Ländern ungleich verteilt sind und marginalisierte Gruppen und Gruppen, die historisch und heute unter Unrecht gelitten haben und leiden, besonders stark von COVID-19 betroffen sind.
Obwohl sich unser Projekt innerhalb des Pantheons der gesundheitlichen Benachteiligungen vor allem auf das Geschlecht konzentriert, zeigt unser Datenarchiv auch, dass die Differenz der Corona-Todesfälle bei Männern und Frauen in Ländern mit niedrigem Einkommen mehr als doppelt so hoch ist wie in Hocheinkommensländern. Das heißt, wirtschaftliche und andere Unterschiede dürfen nicht ignoriert werden und beeinflussen und verstärken die geschlechtsbedingte Ungleichheit.
Die Beschäftigung mit sozialer Benachteiligung und Gesundheit ist nicht neu. Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb Friedrich Engels, wie die furchtbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen des englischen Proletariats zu „einer fortwährenden Existenz von Epidemien“ und einer „sicher fortschreitenden körperlichen Schwächung der arbeitenden Generation“ führten. Ein paar Jahrzehnte später begründete der deutsche Arzt, Pathologe und Politiker Rudolf Virchow die Disziplin der „Sozialmedizin“, die Gesundheit und Krankheit als soziale Phänomene betrachtet.
Und Ende der 1930er-Jahre kämpfte der chilenische Gesundheitsminister (und spätere Präsident) Salvador Allende, einer der Architekten der Sozialmedizin in Lateinamerika, für politische und wirtschaftliche Reformen zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit. Allende sprach sich dafür aus, sich nicht auf einzelne Krankheiten oder deren Behandlung zu konzentrieren, sondern auf eine grundlegende Veränderung der sozialen Strukturen und der Lebensbedingungen.
Der Faktor „Gender“
Berücksichtigt man diesen Zusammenhang zwischen sozialem Umfeld und Gesundheit, lassen sich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in unserem Datenarchiv im Detail erklären. Obschon natürlich auch die Biologie eine Rolle spielt, sind die Unterschiede in Bezug auf COVID-19 auch auf das sozial konstruierte Geschlecht (Gender) zurückzuführen.
Das soziale Geschlecht ist in den institutionellen Strukturen verankert, die unser Leben prägen, also in Familien, Rechts- und Wirtschaftssystemen, Religionen, finanziellen Institutionen, Bildungssystemen und Arbeitsplätzen. Es wird durch die Alltagsnormen erlebbar und gefestigt, die festlegen, was es bedeutet, in einer bestimmten Gesellschaft ein Mann, eine Frau bzw. transident oder nicht-binär zu sein.
Das soziale Geschlecht definiert unsere Wünsche und Möglichkeiten und bestimmt, ob es für eine Person sozial akzeptabel ist, zu rauchen, Alkohol zu trinken, einen Bus zu fahren oder in einer Fabrik zu arbeiten, oder auch, ob das Tragen von Lippenstift akzeptiert wird oder nicht. Und es beeinflusst unsere Gesundheit.
Wo Frauen häufiger in der Pflege, im Einzelhandel, der Gastronomie und anderen Berufen mit Kundenkontakt beschäftigt sind, haben sie ein erhöhtes Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren – insbesondere, wenn ihre persönliche Schutzausrüstung für Männer entworfen wurde und ihnen daher nicht richtig passt. Andererseits hat sich COVID-19 in vielen Fällen auch in männlich geprägten Berufen mit vielen Arbeitsmigranten stark verbreitet. Das spiegelt die schlechten und unhygienischen Arbeitsbedingungen wider, denen viele ausländische Arbeitnehmer ausgesetzt sind, und, allgemeiner, die Tatsache, dass die Weltwirtschaft auf ungleichen Machtverhältnissen zwischen Ländern mit hohem bzw. niedrigem Einkommen und zwischen Bürgern und Ausländern beruht.
Nach Kontakten mit dem Coronavirus können geschlechtsbezogene Faktoren beeinflussen, ob Betroffene Zugang zu Tests und medizinischer Versorgung haben. Wenn Tests in Kliniken mit eingeschränkten Öffnungszeiten angeboten werden, können formal beschäftigte Arbeitnehmer, zu denen in vielen Ländern mehr Männer als Frauen gehören, diese womöglich seltener nutzen. Andererseits haben Frauen mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum auch weniger Zugang zum Gesundheitssystem.
Von den Patienten, die mit COVID-19 ins Krankenhaus kommen, erkranken Männer schwerer und haben ein höheres Sterberisiko. Das Risiko einer chronischen Erkrankung, die ihrerseits die Symptome einer Corona-Infektion verschlimmern kann, ist bei Männern aber nicht nur aufgrund der biologischen Unterschiede höher, sondern auch, weil sie häufiger mit schädlichen Stoffen in Berührung kommen.
Diese „geschlechtsspezifische Belastung“ hängt sowohl mit schädlichen Normen für die Produktion (berufsbedingte Kontakte mit krebserregenden Stoffen und Feinstaub) als auch für den Konsum zusammen. Zwei der tödlichsten Stoffe der Welt – Tabak und Alkohol – wurden mindestens seit den 1920er Jahren mittels spezifischer und klarer Geschlechternormen beworben. Das hat dazu beigetragen, dass Männer häufiger unter Herz- und Lungenerkrankungen leiden, die bei mit einer höheren COVID-19-Sterblichkeit verbunden sind.
Eine weitere Frage ist, warum die Unterschiede bei der COVID-19-Sterblichkeit zwischen Männern und Frauen in Ländern mit niedrigem Einkommen besonders stark ausgeprägt sind. Eine mögliche Erklärung wäre, dass in manchen Ländern Sterbefälle bei Frauen erschreckend selten erfasst werden.
Neustart für die Sozialmedizin
Die Welt hat genug empirische Daten, die zeigen, dass diese und frühere Pandemien durch Ungleichheit verschlimmert wurden. Unser Datenarchiv erfasst Daten aus 195 Ländern, anhand derer der Zusammenhang zwischen Geschlecht und COVID-19 analysiert werden kann. Andere, eher lokale Datensätze, beschreiben die Auswirkungen von ethnischer Herkunft, Beruf und anderen Ungleichheiten auf die Pandemie.
Trotzdem konzentrieren sich die Reaktionen auf die Pandemie bisher zum allergrößten Teil auf die Biosicherheit und nicht darauf, Ungleichheit zu bekämpfen. Stattdessen sollten wir COVID-19 als Weckruf begreifen und einen sozialmedizinischen Ansatz und das, was wir neo-öffentliche Gesundheitsbewegung nennen, neu beleben.
Viele Ungleichheiten sind tief verwurzelt, universell und historisch bedingt. Darum ist der Aufbau gerechterer – und damit gesünderer – Gesellschaften inmitten einer Pandemie eine wahre Herkulesaufgabe und erfordert völlig neue Denk- und Handlungsmuster.
Vor allem die Politik muss anerkennen, dass Gesundheit und Wohlergehen jedes Einzelnen für blühende Gesellschaften wichtig sind. Deshalb fordern wir, dass die Spitzen im öffentlichen und privaten Sektor und in der Zivilgesellschaft die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren bekämpfen, die so viele Menschen benachteiligen und gefährden. Wir dürfen uns nicht mehr nur darauf konzentrieren, Krankheiten zu behandeln, sondern sollten durch radikale Reformen für Bedingungen sorgen, in denen jeder dieselben Chancen auf Gesundheit, Wohlergehen und Würde hat.
Lippenstift ist zwar ein harmloser Ausdruck der Geschlechternormen vieler Gesellschaften, er symbolisiert jedoch eine einflussreiche, tief verwurzelte und universelle soziale Determinante der Gesundheit. Nach der und durch die Pandemie sollte jeder verstehen, dass die Gleichstellung ein öffentliches Gut ist – und uns helfen kann, die gesündere Gesellschaft zu schaffen, die wir wollen.
* Sarah Hawkes ist Professorin für globale öffentliche Gesundheit am University College London und Kodirektorin von Global Health 50/50. Kent Buse ist Direktor des Healthier Societies Program des George Institute für globale Gesundheit und Kodirektor von Global Health 50/50.
Copyright: Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org
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