Kampf um KiewKriegsreporter Pierre Barbancey: „Wer behauptet, dass er keine Angst hat, lügt oder ist verrückt“

Kampf um Kiew / Kriegsreporter Pierre Barbancey: „Wer behauptet, dass er keine Angst hat, lügt oder ist verrückt“
Pierre Barbancey befindet sich derzeit in Kiew und berichtet über die Lage vor Ort Foto: Libyen, 2011/Frederic Lafargue

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Der französische Reporter Pierre Barbancey ist nun seit fast zwei Wochen in der Ukraine und berichtet über die Geschehnisse vor Ort. Im Interview mit dem Tageblatt erzählt er, welche Hürden er tagtäglich überwinden muss, wie sich die Ukrainer in ihrer Hauptstadt Kiew im Kampf gegen die Russen schlagen und wie er mit der Angst vor dem Tod umgeht.

Tageblatt: Sie sind nun seit einigen Tagen in der Ukraine. Wie ist Ihr allgemeiner Eindruck von der Situation vor Ort?

Pierre Barbancey: Ich bin vor zehn Tagen in der Ukraine angekommen. Die Situation ist ziemlich dramatisch. Wie so oft ist es die Zivilbevölkerung, die unter diesen Kriegen leiden muss. In der Innenstadt von Kiew ist nicht viel los. In den nordwestlichen und nordöstlichen Vororten der Hauptstadt sind die Spannungen jedoch deutlich spürbar. Hier werden die Leichen aufbewahrt und die Menschen werden damit konfrontiert. Seit einigen Tagen gibt es Raketenangriffe. Raketen, die auf Wohnhäuser und Gebäude in den Außenbezirken fallen – und leider nicht nur materiellen Schaden anrichten, sondern auch zivile Opfer fordern. Fast die Hälfte der Einwohner Kiews soll bereits in Richtung Westen oder sogar aus dem Land geflohen sein.

Wie steht es um die Verteidigung Kiews?

In Kiew selbst organisiert sich der Widerstand, und zwar nicht nur durch die Soldaten der ukrainischen Armee, sondern auch durch die sogenannte „territoriale Verteidigungsbrigade“, die in allen Vierteln und an den Hauptachsen im Einsatz ist. Straßensperren wurden mit Sandsäcken errichtet. Man sieht jeden Tag Freiwillige, die dabei sind, Säcke zu befüllen. Die Brücken der Stadt sind nicht alle zur gleichen Zeit geöffnet. Das ändert sich jeden Tag. Das Militär und die Territorialbrigade wechseln ihre Armbinden ziemlich regelmäßig, einmal blaue, einmal gelbe, aber nicht jeden Tag. Damit wollen sie verhindern, dass sich jemand einschleicht. Denn das ist eine der großen Ängste hier: dass sich Saboteure oder Spione infiltrieren könnten, um eine mögliche Offensive auf die Stadt vorzubereiten. Alle werden auf die gleiche Weise mobilisiert, mehr oder weniger – man achtet auf das Alter, die Verfassung und die Möglichkeiten der Menschen. Einige helfen bei der Vorbereitung von Lebensmitteln, die an die verschiedenen Checkpoints und Straßensperren in der Stadt geliefert werden sollen. Andere füllen und legen Sandsäcke an. Manche haben eine schnelle militärische Ausbildung absolviert und tragen Waffen, um jedes Vorrücken in die Stadt verteidigen zu können.

Wer ist Teil dieser Territorialbrigade?

Die meisten von ihnen sind Zivilisten, aber es gibt natürlich auch ehemalige oder pensionierte Soldaten, die eine gewisse militärische Erfahrung haben und etwas effektiver sein können, weil sie wissen, was es heißt, Befehle zu befolgen oder zu erteilen, und weil sie wissen, wie man mit Waffen umgeht. Sie haben vielleicht auch ein wenig Gefechtserfahrung. Menschen ohne Kampferfahrung wissen oft nicht, welche Entscheidungen zu treffen sind oder wie sie auf einen Angriff reagieren sollen. Man merkt, dass es seit einigen Tagen etwas hektischer an den Straßensperren zugeht, vor allem bei den Kontrollen – aber auch die jungen Soldaten, denen diese Lage absolut nicht vertraut ist, sind nervöser. Aufgrund der Angst vor Infiltration, werden alle, die wie Ausländer aussehen oder verdächtig erscheinen, einer Identitätskontrolle unterzogen. Selbst unser Presseausweis, der vom ukrainischen Verteidigungsministerium ausgestellt wurde, reicht nicht mehr aus. Wir müssen auch unseren Pass vorzeigen.

Für Pierre Barbancey zählt das Balancieren vieler Flüchtlinge über die Holzlatten, die über den Irpin-Fluss gelegt wurden, zu den bewegendsten Momenten, die er bisher in der Ukraine erlebt hat
Für Pierre Barbancey zählt das Balancieren vieler Flüchtlinge über die Holzlatten, die über den Irpin-Fluss gelegt wurden, zu den bewegendsten Momenten, die er bisher in der Ukraine erlebt hat Foto: AFP/Aris Messinis

Die Kontrollen sind also sehr streng …

Ja, natürlich, was aber trotzdem verständlich ist. Das läuft alles relativ gut und man merkt, dass die Kontrollen viel strenger sind als noch vor einer Woche. Die Fragen, die man sich hier ständig stellt, sind: Werden die russischen Truppen in Kiew einmarschieren? Werden sie die Stadt umzingeln oder werden sie die Stadt belagern? Die Antworten darauf weiß hier aber niemand. Das ist ein Element, das zum Krieg gehört – ein psychologisches Element des Krieges. Und das ist auch der Grund, warum die Bevölkerung versucht, so normal zu leben, wie es nur geht. Jeden Abend gibt es eine Ausgangssperre. Sie gilt von 20 bis 7 Uhr. In den letzten Tagen, von Dienstagabend bis Donnerstagmorgen, herrschte eine permanente Ausgangssperre, also 35 Stunden lang. Wie es scheint, um die Stadt leer zu halten und um den ukrainischen Streitkräften die Möglichkeit zu geben, zu kontrollieren, ob feindliche Gruppen in die Stadt eingedrungen sind. Man sieht aber auch noch Autos, die rote und grüne Ampeln beachten und Fußgängern die Vorfahrt abtreten. Einige Cafés haben sogar geöffnet, und wie eine junge Frau sagte, die als Freiwillige bei der Essenszubereitung hilft: „Es hilft uns, so zu tun, als ob wir normal leben würden. Es hilft uns, wenn wir uns wiedersehen können. Das fühlt sich jedes Mal so an, als würden wir einen Geburtstag feiern.“

Das hilft den Menschen also, ihre Moral zu bewahren, nicht wahr?

Ja, es hilft ihnen. Natürlich ist es immer kompliziert, wenn man nicht weiß, was passieren wird. Man weiß nicht, ob Bomben fallen werden, man weiß nicht, ob Panzer einrücken werden, und man weiß auch nicht, ob es zu Straßenkämpfen in der Stadt kommen wird. Die Bevölkerung scheint sich seit mehreren Wochen vorbereitet zu haben, praktisch seit Beginn des Krieges. Sie hat sich mobilisiert und sogar Molotowcocktails hergestellt. An vielen Orten stehen Kisten voll damit, auch auf einigen Balkonen. Im urbanen Krieg sind Molotowcocktails sehr effizient – insbesondere gegen Panzer.

Wie erklären Sie sich, dass die Russen nicht so schnell vorankommen, wie sie ursprünglich gehofft hatten?

Ich bin kein Militärexperte und es ist ziemlich kompliziert. Vielleicht hat Putin die Stärke der ukrainischen Armee sowie den Willen und die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer unterschätzt. Das Eindringen der russischen Armee in ihr Territorium hat zu einem Aufschwung des ukrainischen Patriotismus geführt, bei dem alle mobilisiert wurden. Das zweite Problem ist womöglich die Unvorbereitetheit der russischen Armee. Man sagt, dass die Russen an manchen Orten keine Nahrung mehr erhalten und die Versorgung mit Treibstoff für alle gepanzerten Fahrzeuge nicht einfach ist. Anders als Putin behauptet, glaube ich, dass die russische Armee nicht nur aus Berufssoldaten besteht, sondern auch aus Einberufenen, also jungen Männern, die nicht bereit sind, mit ihrem Leben für eine Politik zu bezahlen, die sie ganz sicher nicht teilen.

Das Zentrum von Kiew – mit all seinen historischen Denkmälern, mit all seinen Existenzen – zu bombardieren, das wäre wirklich ein Drama für die gesamte Menschheit

Pierre Barbancey, Kriegsreporter

Glauben Sie, dass sich Putin mit seiner militärischen Stärke noch zurückhält?

Putin könnte Kiew sicherlich noch viel mehr bombardieren. Gut, es gibt hier eine Luftabwehr, die ziemlich effizient ist. Ich denke aber, dass er vielleicht die Stadt überhaupt nicht einnehmen will, sondern vielmehr den gesamten Osten der Ukraine. Ich weiß nicht, wie sehr sich die russische Armee wirklich zurückhält, aber ich denke, dass sie tatsächlich viel härter zuschlagen könnte, als sie es hier in Kiew tut. In einigen Städten der Ukraine, Mariupol oder in Charkiw zum Beispiel, kam es zu einer viel markanteren Entfesselung der russischen Angriffskraft – etwa um die Stadt einzunehmen oder zumindest um sie teilweise zu zerstören und dafür zu sorgen, dass ein großer Teil der Bevölkerung weggeht. In Kiew ist das natürlich eine ganz andere Sache: Es gibt eine Geschichte von Kiew, eine kulturelle Geschichte, auf die sich die Russen im Übrigen auch berufen. Das Zentrum von Kiew – mit all seinen historischen Denkmälern, mit all seinen Existenzen – zu bombardieren, das wäre wirklich ein Drama für die gesamte Menschheit. Aber ich denke, das wäre absolut kontraproduktiv für Putin selbst, denn auch die Russen, die ihn in Russland unterstützen, würden diese Verbissenheit nicht verstehen, diese Zerstörung dessen, was auch Teil des russischen Kulturguts ist.

Sind Sie der Meinung, dass man Putin eine offene Tür lassen sollte, eine Möglichkeit, das Gesicht zu wahren? Oder sollte man ihn so lange drangsalieren, bis er aufgibt?

Die NATO hat heute Nachmittag (am Mittwoch; Anm. der Red.) durch ihren Generalsekretär Jens Stoltenberg erneut verlauten lassen, dass sie nicht eingreifen wird, und ich denke, dass das eine gute Sache ist. Denn ansonsten würde das, glaube ich, einen dritten Weltkrieg auslösen. Das ist die eine Sache. Die ganzen Erklärungen, die abgegeben wurden, einschließlich jener des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, in der er gesagt hat, dass die Ukraine keine NATO-Mitgliedschaft mehr anstrebt, sind wiederum eine ganz andere Sache und ziemlich dramatisch. Aber wenn wir es tatsächlich schaffen wollen, den Krieg zu beenden, dann muss bei den Verhandlungen darauf geachtet werden, dass dabei der Feind niemals gedemütigt wird.

Minsker Abkommen und Normandie-Format

Das Minsker Abkommen zielte auf eine Deeskalation und Befriedung des seit 2014 in der Ostukraine herrschenden Kriegs und eine politische Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine.
Beim Normandie-Format handelt es sich um ein Treffen der Länderchefs aus Deutschland, Russland, Frankreich und der Ukraine. Dabei kommen Deutschland und Frankreich die Rolle als Vermittler zwischen den beiden Konfliktparteien zu.

Die ukrainische Armee wird von den europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten mit Waffen unterstützt. Es wird vielleicht einen politischen Sieg geben, aber ich denke nicht, dass es einen militärischen Sieg geben wird, zumal viele Städte bereits zerstört sind. Die Realität ist nun eben die, dass Putin da ist, Putin bekleidet das Präsidentenamt, mit ihm muss man nun reden, um den Krieg zu beenden. Und es liegt an den Unterhändlern, dafür die besten Parameter zu finden, die natürlich den gesamten Osten der Ukraine betreffen, aber auch das Schicksal des Donbass und den Status seiner Bevölkerung, vielleicht sogar die Einhaltung der Minsker Abkommen, was nicht der Fall war, auch nicht bei den Europäern.

Sie (die Europäer, Anm. der Red.) haben das Minsker Abkommen nicht eingehalten und es vorgezogen, es durch das „Normandie-Format“ zu ersetzen. Ich denke also, dass man bei den Verhandlungen auf all das zurückkommen muss. Die Schwierigkeit besteht natürlich darin, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Kräfteverhältnis die Gespräche stattfinden werden. Wie immer versucht der Angreifer, so viel Boden wie möglich zu gewinnen, um unter besseren Bedingungen verhandeln zu können, und der Verteidiger versucht, so viel Widerstand wie möglich zu leisten, um nicht zu geschwächt in die Verhandlungen zu gehen.

Wie kann man sich die Arbeit eines Journalisten vorstellen, der aus dem ukrainischen Kriegsgebiet berichtet?

Dieser Krieg hier ist komplett anders als die anderen. Tatsächlich haben wir hier große Schwierigkeiten zu arbeiten, da es sehr schwierig ist, an die Front zu gelangen. Unter den Toten sollen sich zwar schon vier oder fünf Journalisten befinden, aber dennoch gibt es nicht wirklich eine direkte Konfrontation. Man weiß nicht immer genau, wer auf einen schießt. Natürlich sagen die Ukrainer, dass es die Russen waren, die Russen äußern sich nicht dazu, aber wir haben keine Gewissheit, dass es tatsächlich die Russen waren, die diese Journalisten getötet haben. Und dann gibt es hier in Kiew auch noch eine Art Argwohn, vor allem gegenüber Fotografen und Kameraleuten. Darum gibt es nur sehr wenige Bilder von dem, was in Wirklichkeit passiert. Es gibt zwar Bilder, die nach den Kampfhandlungen gemacht werden, selten aber welche, die im Moment selbst eingefangen werden. Ihnen wurde verboten, solche Fotos zu machen, mit der Begründung, dass diese Bilder der russischen Armee Informationen liefern könnten. 

Was war der bewegendste oder intensivste Moment seit Ihrer Ankunft in der Ukraine?

Es war an diesem Ort, an der berühmten Irpin-Brücke, etwa zehn Kilometer nordwestlich von Kiew entfernt. Die Ukrainer hatten beschlossen, sie zu zerstören, um ein mögliches Vorrücken der Russen zu verhindern. Viele Flüchtlinge standen vor der zerstörten Brücke und mussten den Fluss über eine Art Planke überqueren. Es war sehr aufwühlend zu sehen, wie z.B. alte Menschen mit großen Schwierigkeiten versuchten, über diese Konstruktion zu gehen. Manche starben sogar auf dem Weg zur Brücke und wurden auf Krankenbahren getragen.

Woher nehmen Sie die Kraft, diese Art von Berichterstattung zu machen? Was ist Ihre Motivation?

Ich denke, dass es sich hierbei um Orte handelt, an denen viele Dinge bestimmt werden, die weltweit passieren werden. Es ist immer interessant, sich dort umzusehen, zu versuchen zu verstehen, was passiert, zu sehen, wie sich Menschen in solchen Situationen verhalten und sich bewusst zu werden, was wirklich passiert, auch wenn man viel Leid und viel menschliches Drama sieht. Es geht mir darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Menschen in diesem Moment denken. Was so ein Ereignis in ihren Köpfen auslösen kann. Wie wird sich dieser Konflikt zum Beispiel auf das ukrainische und das russische Volk auswirken, die doch recht eng miteinander verbunden sind? Denn in der Ukraine wird sowohl Ukrainisch als auch Russisch gesprochen. Sie haben gemeinsame kulturelle Werte. Wie geht es weiter? 

Haben Sie keine Angst davor, von einer Kugel getroffen zu werden?

Doch, natürlich hat man immer Angst. Aber unser Beruf ist es, diese Angst zu kontrollieren. Wer behauptet, dass er keine Angst hat, lügt oder ist verrückt.


* Der Text wurde aus dem Französischen übersetzt.

Kurzbiografie

Pierre Barbancey wurde 1962 geboren. Er ist „grand reporter“ bei der französischen Zeitung L’Humanité und gewann 2002 den „Prix Bayeux des correspondants de guerre“. Er berichtete über den zweiten Golfkrieg, die Kriege in Afghanistan und Libanon, den israelisch-palästinensischen Konflikt und die arabischen Revolutionen. Er hat auch zahlreiche Reportagen aus Afrika, insbesondere aus Südafrika, Simbabwe und Angola gemacht.