Expo Jean-Claude Salvi und Thierry LutzKadaver unter der Lupe

Expo Jean-Claude Salvi und Thierry Lutz / Kadaver unter der Lupe
Beste Freunde und Künstler: Thierry Lutz und Jean-Claude Salvi sind am 1. und 6. Mai sowie an jedem Samstag bis zum 21. Mai im Pavillon Arcelor anzutreffen Foto: L&S

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Im Pavillon Arcelor (Galerie Schlassgoart) in Esch ist am Freitag Eröffnung der Ausstellung von Thierry Lutz und Jean-Claude Salvi. Bis zum 21. Mai kann man sich ihre „Correspondance exquise“ ansehen. Man darf es als gesteuertes Zufallsprodukt mit Humor und Überraschungseffekt ansehen. Eintritt frei.

Während Monaten war es ein Geheimnis. Gut gehütet. Jetzt kommt es ans Licht. Worum es geht, zeigen Jean-Claude Salvi und Thierry Lutz ab Freitag in der Kunstgalerie „Schlassgoart“ (Pavillon Arcelor) in Esch.

Ihren Ursprung hat die Ausstellung in einer verrückten Idee. Sie geht auf Künstler der Bewegung der Surrealisten zurück. Jemand beginnt einen Satz oder eine Zeichnung, ein anderer fährt fort, ohne allerdings den vorherigen Satz oder die Zeichnung gesehen zu haben. Bei diesem Blindflug entsteht ein kreatives Zufallsprodukt. Als „Cadavres exquis“ ist das Konzept in die Kunstgeschichte eingegangen.

Thierry Lutz und Jean-Claude Salvi, alle zwei im besten Alter, echte Freunde, Kunstlehrer und bekannte Kunstschaffende, haben die Idee der Surrealisten etwas umgewandelt. Bei ihrem Projekt hat mal der eine begonnen, mal der andere. Dann haben sie sich die Zeichnungen so lange zugeschickt, bis ein fertiges Bild daraus geworden ist. Anders als bei den Surrealisten war jeder Schritt des Vorgängers stets sichtbar.

„Correspondance exquise“ heißt die Ausstellung. Zu sehen sind 27 Zeichnungen sowie über 120 der Briefumschläge, mit denen die erlesene Post hin- und hergeschickt wurde.

Im November 2018 haben die Künstler begonnen. Im März 2020 waren sie fertig. Seitdem haben sie am Buch zur Ausstellung gearbeitet. Es ist ab jetzt in gediegener Aufmachung und limitierter Auflage erhältlich. Unterstützung suchten sich Salvi und Lutz bei der Grafikerin Hélène Perdu-Alloy und den Schriftstellern Raoul Trentin und Tom Hengen. In der Ausstellung ist auch ein Kurzfilm von Hélène Desautel über die Entstehungsgeschichte der „Correspondance exquise“ zu sehen.

Unser Interview mit Thierry Lutz und Jean-Claude Salvi haben wir ansatzweise dem Konzept ihrer Arbeit angepasst. Einer antwortet, der andere ergänzt. Lob und Sticheleien inbegriffen:

Tageblatt: Wie wichtig sind denn Vertrauen/Freundschaft bei einem solchen Projekt?

Thierry Lutz: Unsere Freundschaft ist wie ein Tattoo, „deep under the skin“, das einen Orthos darstellt. Ein Herz, zwei Köpfe.

Jean-Claude Salvi: Ja, ein Tattoo, aber ein Tattoo, auf dem zwei Kinder zu sehen sind, die, mit gleichem Humor und gleichen Dummheiten im Kopf, ein großes Graffiti an die Wand sprühen. Wir sind einfach zwei reife Kollegen, die etwas weniger pubertäre Verhaltensschwierigkeiten haben als ein 15-Jähriger.

Wie war es denn, die Vorgabe und Ideen des jeweils anderen aufzugreifen?

J.-C. S.: Ich bin relativ impulsiv beim Arbeiten und meine Vorgehensweise war immer recht einfach. Wenn die Vorgabe gepasst hat, habe ich sie weitergesponnen, entwickelt. Falls nicht, dann habe ich sie übermalt, zerstört oder umgedeutet. Das hat Thierry übrigens auch so gemacht. Das sind die Spielregeln. Die gelten für den einen wie für den anderen. „Oeil pour oeil, dent pour dent.“

T. L.: Ich habe die Briefumschläge nie sofort nach der Zustellung geöffnet. Ich habe sie zuerst nach ihrer langen Reise durch die Post ruhen lassen und mich darauf vorbereitet, was ich in den Briefumschlägen finden könnte. Aber wenn ich sie dann geöffnet habe, war es jedes Mal eine Überraschung. Ich habe die Zeichnungen dann atmen lassen wie einen guten Wein … und dann ging es los. Eine Herausforderung, eine Challenge, ein kreativer Stimulus. Es war alles andere als einfach.

Und wenn der eine in eine ganz andere Richtung ging als in die von dem anderen eingeschlagene?

T. L.: Jean-Claude hat meine Zeichnungen ergänzt, verändert, aber sicher immer auch verbessert. Ich habe seine Zeichnungen ergänzt, verändert, aber immer verbessert. Hoffe ich mal. Dieses Gegenseitige hat uns bereichert. Ergänzen und verändern: ja, aber mit Respekt und Kreativität. Ikonoklast: niemals!

J.-C. S.: In der Tat hat es uns bereichert, damit bin ich einverstanden, aber es hat manchmal auch genervt –  wenn schöne Entwicklungen oder Ideen verschwunden sind. Aber das waren die Regeln von Anfang an. Wir sind beide oft durcheinandergewirbelt worden in unserer Routine. Es war ein permanentes Anpassungsspiel,  mehr als beim Original des „Cadavre exquis“, bei dem man komplett frei ist.

Hatten Sie bei Beginn ein fertiges Bild vor Augen, haben Sie den nächsten Schritt Ihres Freundes miteinkalkuliert?

J.-C. S.: Nein, eigentlich hatte ich nie das fertige Bild im Kopf. Im letzten Moment konnte immer noch alles ändern, wie in einer Beziehung. Ein falsches Wort im falschen Moment und alles kann kippen. Manchmal hat sich das Bild beim letzten Schritt so verändert, dass man es kaum noch wiedererkennen konnte.

T. L.: Ja, stimmt. Aber für mich war „Freisein“ eine wesentliche Voraussetzung bei diesem Projekt. Die Freiheit zu zeichnen, was wir wollten und wie wir es wollten, ohne Beurteilung. Deshalb haben wir uns auch ganz selten über die Zeichnungen unterhalten.

Was werden wir bei der Ausstellung sehen? Lutz oder Salvi?

J.-C. S.: Das Interessante ist, dass wir etwas Neues vorstellen. Wir haben weder in unserer Routine gearbeitet noch in unseren üblichen Themenbereichen. Die Ideen und Techniken sind hier vielseitiger. Je nach Situation und Ort und aufgrund der Antwort des anderen sind andere Sachen entstanden. Keine klassischen Bilder aus dem Atelier oder Fotografien aus meinem Register, sondern eher punktuelle Adaptationskreationen.

T. L.: Wenn man mit geschlossenem Geist und Herzen durch die Ausstellung geht und auch die Augen geschlossen sind, dann wird man überhaupt nichts erkennen. Wenn man die Augen öffnet, wird man die Zeichnungen von zwei Teenagern sehen, die sich gut amüsiert haben. Wenn man dann auch seinen Geist öffnet, dann wird man den Blick erkennen, den zwei 50-jährige Männer auf unsere Gesellschaft werfen. Und wenn man dann schlussendlich auch noch sein Herz öffnet, dann wird man unsere Seele sehen.

Wer hatte eigentlich die Idee zu diesem Projekt?

T. L.: Die richtige Frage ist, von wo die Ideen herkommen? Mein Vater hat mir aus dem KZ erzählt und, dass Häftlinge, die keine Post bekommen haben, nicht lange überlebt haben.

Marcel Duchamp hat der Mona Lisa einen Schnauzer gezeichnet: „L.H.O.O.Q.“

Der Graffiti-Künstler übermalt die Graffitis anderer Künstler.

Eine Minute sind nicht 60 Sekunden, sondern eine Minute sind 60 Ideen. Kontakt halten, Post, Interrelation, Interaktion, Provokation, Desakralisation, Weiterentwicklung, Reinterpretation, … woher stammen die Ideen?

Wer die Idee hatte, ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir das Projekt gemeinsam gemacht haben.

J.-C. S.: Wie Thierry sagt, ist es wirklich nicht wichtig, wessen Idee das Projekt nun war. WIR hatten sie. Der Rhythmus zweier Herzen hat zu einer gemeinsamen Kopfidee geführt. Wir haben über dem Arbeiten das Projekt entwickelt, verändert, etwas hinzugefügt und etwas weggenommen. Manchmal haben wir gestritten, aber schnell wieder zusammen ein Bier getrunken. Ich habe Thierrys Schwächen akzeptiert, das ist nicht einfach, denn er hat deren viele. Und er hat meine akzeptiert, was aber einfacher ist, denn ich habe viel weniger Schwächen. Unsere Beziehung hat gehalten und hält immer noch, ganz einfach, weil wir immer versucht haben, dem anderen Überraschungen zu bereiten.

Und für mich war es eine große Erkenntnis … wieder Briefe zu schreiben, mit Zeichnungen versehen … im Zeitalter der Kommunikation via die sozialen Netzwerke.