Junge Künstler im Fokus: Ann Sophie Lindström nimmt sich Zeit zum Geschichten erzählen

Junge Künstler im Fokus: Ann Sophie Lindström nimmt sich Zeit zum Geschichten erzählen

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Kein Klimbim, kein Glamour, keine Effekthascherei. Ann Sophie Lindström sieht die Dinge, wie sie sind, erkennt ihre Magie und hält sie fest. Als „visual storyteller“ samt ihrem sozialdokumentarischen Ansatz nimmt sie den Betrachter mit an Orte, hin zu Menschen, die dieser sonst vielleicht übersehen hätte.

„Manchmal frage ich mich, ob ich nicht ein klein wenig ‚fuddele‘, weil ich häufig Menschen, die nicht wirklich eine Stimme haben, in Bildern festhalte. Dabei kommt nämlich die Frage auf, ob es ihnen nicht vielleicht ein klein wenig leichter fällt, einen Zugang zu der Zusammenarbeit mit mir zu bekommen, weil sie sich dadurch auch mehr Gehör verschaffen können.“ Eine unbequeme, aber durchaus berechtigte Frage. Was die junge Fotojournalistin, die ebenfalls Dokumentarfilme dreht, beim Hinterfragen der eigenen Haltung sowie jener ihrer menschlichen Motive jedoch unerwähnt lässt, ist die Tatsache, dass sie hinhört. Und zwar aufmerksam.

Sie nimmt sich Zeit. Für mehrere ihrer bisherigen Projekte Wochen oder gar Monate. „Ob du nun filmst, fotografierst oder dich auch einfach nur mal hinsetzt und einen Kaffee mit den Menschen trinkst, die du gerade ablichtest: Das gehört alles dazu. Manchmal erzählen mir Fotografen von Reportagen, die sie umsetzen wollen, für die sie dann aber nur sehr wenige Stunden einplanen. Ich kann dann ab und an nicht umhin, zu denken, dass sie es eigentlich nicht verdient haben, mit bestimmten Menschen zu arbeiten, wenn sie sich keine Zeit für sie nehmen.“

Für ihr letztes größeres Projekt verschlug es die Endzwanzigerin gleich dreimal nach Philadelphia, wo sie und ihre Kameras auf eine Art afroamerikanische „urban Cowboys“ stießen. Das Stadtbild hat sich durch diese modernen Reiter verändert, die tagaus, tagein hoch zu Ross zwischen schäbigen wie prunkvollen Karossen galoppieren. Ebenso fand aber auch ein Wechsel innerhalb der Community selbst statt, in der beispielsweise das Übergeben von Verantwortung für ein Tier an ein Kind für dieses auch ein Abwenden von gefährlicheren, illegalen Beschäftigungen bedeuten kann. Dadurch dass Menschen wie Lindström ihren Alltag dokumentieren wollen, kann die sonst eher von weißen Cowboys dominierte Bilderwelt ein klein wenig auf den Kopf gestellt werden.

An eben diesem speziellen Ort lernte Lindström denn auch 2013 auf der „Puerto Rican Day Parade“ einen wichtigen Protagonisten ihres Dokumentarfilms „The Bitter with the Sweet“, nämlich Ricky, kennen: „Irgendwann konnte ich nicht mehr, es war eine weite Strecke, ich hatte die schwere Kamera umhängen und es war warm. Ricky ritt mit, erblickte mich und bot mir an, mich auf dem Pferd ein Stück mitzunehmen. So stieg ich auf und hielt mich mit einem Arm an ihm fest, während ich weiter fotografierte. Er lachte die ganze Zeit und verkündete stolz: ‚I’m the photographers Taxi.'“

Sanfte Begleiterscheinung

So war alles andere als geplant der Grundstein für eine nahe Zusammenarbeit gelegt, bei der Lindström nicht nur den eigenwilligen Asphalt Cowboy, sondern auch seine Partnerin Gretchen in ihrem emotional intensiven Alltag begleiten durfte. Der zweischneidige Titel des Films kommt nicht von ungefähr, denn das ältere Paar, dessen teils schwere Lebenswege sich erst spät kreuzten, konnte von einem Moment auf den anderen ebenso hart wie auch zärtlich miteinander umgehen. Die Fotojournalistin war demnach an sehr hellen Tagen, aber auch in dunklen Momenten mit dabei. Sie bekam die Situationen ebenso ungefiltert mit, wie man sie auf den späteren Aufnahmen wahrnehmen kann.

Foto: Ann Sophie Lindström

Diese Zeit war für Lindström nicht nur spannend, sondern auch äußerst intensiv: „Wenn du Menschen wie Ricky begleitest, die nur drei Stunden schlafen, dann schläfst du auch nur drei Stunden. Bei solchen Projekten gibt es keine typischen 9-5-Tage, an denen man gemütlich nach Hause kommt und erst mal seinen Feierabend genießt, sondern da kommt weitaus mehr zusammen.“

Bei der Sichtung des umfassenden Materials, das sich nach der Zeit mit Ricky und Gretchen angesammelt hatte, war Lindström nach wie vor fasziniert von dem, was sich auf menschlicher Ebene zugetragen hatte, und doch stellte sie infrage, dass auch andere sich gleichermaßen begeistert von dieser zwischenmenschlichen Geschichte zeigen würden. Sie wurde eines Besseren belehrt: „Diejenigen, denen ich das Material zeigte, fanden, dass es gerade deswegen funktioniert, weil das Gezeigte gewissermaßen wir alle sein könnten; die Stimmungen, die Gründe für die Liebe, aber ebenso für den Hass.“

Genau hier zeigt sich umso mehr, dass Lindström weder voyeuristische Tendenzen hat noch sich einer Art von Betroffenheits-Berichterstattung hingibt. Sie sieht die Menschen, die sich auf ihren Bildern wiederfinden, nicht etwa klischeehaft als diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, sondern einfach als Personen, die unkonventionelle Wege gehen. Allem voran geht es ihr mehr um Gemeinsamkeiten als um Dinge, die sie von ihren Motiven trennen. Dies stellte sie unter anderem auch in ihrer Arbeit für das CNDS, also das „Comité national de défense sociale“, in Luxemburg unter Beweis.

Gegenüber Menschen, die, zumindest der öffentlichen Wahrnehmung zufolge, eher den „rechten Weg“ wählen, verwehrt Lindström sich nicht zwingend. „Mit Jean-Claude Juncker würde ich auch mal ein Jahr mitgehen. Das wär schon witzig, glaub ich“, gesteht sie lachend. „Jetzt mal im Ernst“, fährt sie fort, „die Sympathie muss stimmen. Ich muss eine persönliche Bindung aufbauen können, sonst funktioniert es nicht.“

So entstand beispielsweise auch ihre prämierte Arbeit „Punk ist kein Kaffeekränzchen“, nachdem sie in Hannover einen jungen Punk dadurch kennenlernte, dass dessen Hund sich nicht so recht mit ihrem verstand. Dies bereitete beiden Mühe, da sie sich beim Gassigehen regelmäßig kreuzten. Ihre Lösung lautete: „Lass uns ein Stück zusammengehen.“ Was damals eigentlich wortwörtlich gemeint war, damit die Tiere sich aneinander gewöhnen, sollte auch sprichwörtlich eine Umsetzung finden. Lindström befasste sich zu diesem Zeitpunkt ohnehin mit dem Thema „Jugend in Deutschland“, und so kam es dazu, dass sie ihn sowie seine Freunde auf einem Stellplatz namens „Scheißegalien“ besuchte und dort Momentaufnahmen von deren Leben schuf.

Das Poetische im Einfachen

Um den Menschen samt Kamera nahe sein zu können, braucht es zumindest aus Ann Sophie Lindströms Sicht eine gewisse Distanz zwischenzeitlich: „Mir ist es wichtig, auch noch andere Dinge neben der Fotografie tun zu können. Ich glaube, dass gerade weil ich das nicht so verbissen angehe und die Kamera auch mal absetzen kann, es überhaupt möglich wird, mich dann für längere Zeit in bestimmte Projekte reinzuhängen.“

Die visual Storytellerin wirkt im Gespräch nicht wie jemand, der versucht, das Unplanbare planbar zu machen: „Für mich zählt, vor Ort zu sein und mit zu erleben. Was dann später damit passiert, entscheidet sich erst in einem weiteren Schritt.“

Aus Ann Sophie Lindströms Arbeiten liest sich ein Gespür für das Poetische im Einfachen heraus, das sich weit entfernt vom allbekannten Haschen um spektakuläre Momente bewegt. Um solch bewegende Resultate zu erzielen, braucht es Aufmerksamkeit, aber auch Geduld: „Ich sehe etwas und beschäftige mich dann mit der Situation und warte, bis alles passt.“ Aber wenn man die Zeit dann nicht hat? „Na dann nehme ich mir sie.“ Und wenn das Motiv bereits weg ist? „Pech gehabt“, erwidert Lindström mit einer kräftigen Portion Humor und fügt hinzu: „Ich habe einmal ein Praktikum bei einem Hundetrainer gemacht und der meinte stets, wenn die Herrschen behaupteten, ihr Hund sei zu schnell, es seien vielmehr sie, die zu langsam seien.“

Trotz dieser erhöhten Reaktionsfähigkeit, die Fotografen in der Regel abverlangt wird, behält sich Ann Sophie Lindström ihre Ruhe. Wer sich ihre Bilder anschaut, fühlt sich eventuell an das alte Kinderspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ erinnert. Denn es gelingt allemal, auf Situationen, die eigentlich jeder sehen könnte, einen anderen Blick zu werfen.