PorträtJulie Muller-Barthélemy: Rückblick auf ein bemerkenswertes Leben 

Porträt / Julie Muller-Barthélemy: Rückblick auf ein bemerkenswertes Leben 
95. Geburtstag: Julie Muller-Barthélemy im Mai 2016   Foto: Editpress/François Aussems

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Am 5. März, genau zwei Monate vor ihrem 99. Geburtstag, hat sie im CIPA Niederanven im Kreis ihrer Familie für immer die Augen geschlossen: Julie Muller-Barthélemy. Sie passte nicht in ein Rollenklischee, sondern war vielmehr eine Pionierin, die stets ihren eigenen Weg ging. Ein Rückblick auf das bemerkenswerte Leben einer bemerkenswerten Frau.

Julie Muller-Barthélemy hat viel gesehen in ihrem langen Leben. 1921 in Mersch geboren, half sie früh im Café und später im Hotel ihrer Familie mit. Ihre Eltern waren nach Amerika ausgewandert, kehrten aber 1920 nach Luxemburg zurück. 

Julie heiratete 1940. Sie hatte sich in den Eisenbahner Will Muller (verstorben 1971) verliebt, der mit seinem Vater das Café besuchte und der Wirtstochter früh den Hof machte. Mit der Liebe war es damals nicht so einfach: „Ich bin selbst nicht aufgeklärt worden. Das hat sich so gefunden, man hat das eine oder andere einfach aufgeschnappt. Ich erinnere mich an eine Zugfahrt als junges Mädchen. Im Tunnel wurde es dunkel und ich wurde von einem Jungen geküsst. Danach hatte ich panische Angst, dass ich schwanger wäre“, erzählte Julie Muller-Barthélemy 2016 mit einem Schmunzeln im Gesicht. Damals hatte das Tageblatt sie und eine junge Journalistin zusammengebracht und das mehrstündige Gespräch dokumentiert. Anlass war der Internationale Frauentag. Heraus kam eine Reportage über die Rolle der Frau im Wandel der Zeit, wobei schnell deutlich wurde, dass Julie Muller-Barthélemy ihrer Zeit um Jahre, wenn nicht sogar um Jahrzehnte voraus war.

1942 kamen die Zwillingstöchter Marthy und Marion auf die Welt. „Ich habe meine Töchter selbst aufgeklärt, bevor sie ins Lyzeum kamen. Ich kann mich noch an die Reaktion von Marthy erinnern: ‚Mama, ass dat alles sécher, wat s du do gesot hues?‘ Ich habe gesagt ‚Ja klar‘, darauf sie: ‚Mama, ech bestuede mech ni!’“ Bei diesem kategorischen „Nein“ blieb es freilich nicht. Und so wurde Julie Muller-Barthélemy gleich sieben Mal Großmutter. Marthy bekam vier Kinder, Marion drei. Später kamen dann noch neun Urenkel hinzu.

Flüchtlinge

Im Oktober 1943 wurde Julie mit ihren Eltern, ihrem Mann und den eineinhalb Jahre alten Zwillingstöchtern nach Schlesien deportiert. Sie hatten in den Vorkriegsjahren viele jüdische Emigranten im Hotel in Mersch aufgenommen. Die Familie kam zunächst nach Wallisfurth und dann ins Sonderlager nach Jeschütz. Keine schönen Erinnerungen, schreckliche Angst habe sie dort gehabt, natürlich in erster Linie um ihre Zwillinge, erinnerte sich Julie Muller-Barthélemy. Als sich das Ende des Krieges ankündigte, wurde die Familie zu Flüchtlingen. Diesmal ging es darum, sich vor der rapide vorrückenden Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Über Österreich, die Schweiz und Frankreich ging es zurück nach Luxemburg. Diese Zeit um das Jahr 1945 hielt Julie Muller-Barthélemy in einem Tagebuch fest. Viel später sollte sie ihr Leben im Buch „Erënnerung aus engem beweegte Joerhonnert” niederschreiben.

Zentrales Thema neben der Rolle der Frau in der Gesellschaft sind darin die Schwierigkeiten, die sie als Kind freiheitlich denkender Eltern in der damals erzkatholischen und erzkonservativen Gesellschaft hatte. Ihr Vater hatte das 1913 gegründete Tageblatt seit 1925 abonniert, was aus der Familie die wohl treuesten Leser dieser Zeitung machte, denn bis zu ihrem Tod im März blieb die tägliche Tageblatt-Lektüre für Julie Muller-Barthélemy Pflicht: „Seit 1925 hatte mein Vater das Tageblatt abonniert, da war ich gerade vier geworden. Dadurch bin ich mit dieser Zeitung aufgewachsen. Wir hatten auch das Wort, aber meine Eltern, vor allem mein Vater, waren eher sozialistisch eingestellt. Also wurde bei uns das Tageblatt mehr gelesen. Als Kind habe ich die Zeitung natürlich nicht bewusst gelesen, das kam erst später. Sie war aber immer präsent. 1940 heiratete ich meinen Mann, einen Eisenbahn-Angestellten, ebenfalls Sozialist, ebenfalls Tageblatt-Abonnent. In den 50er-Jahren, als ich Generalsekretärin bei den „Femmes socialistes“ war, da las ich die Zeitung dann jeden Tag. Das Tageblatt hat mich einfach ein Leben lang begleitet.”

Die Familie lebte nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft in der Hauptstadt, wo sich Muller-Barthélemy schnell der Politik annäherte. Dass sich eine Frau in den Nachkriegsjahren politisch engagierte, war alles andere als selbstverständlich. „Ich erinnere mich an eine 1.-Mai-Feier Anfang der 50er Jahre, da habe ich Astrid Lulling und Tun Krier kennengelernt. Anschließend sind wir noch in der Stadt etwas trinken gegangen, und auf einmal war ich bei den ‚femmes socialistes‘. Es hat mir nie leidgetan.“ Wie es dazu kam, dass sie sich 1957 auf der Wahlliste wiederfand, wusste Muller-Barthélemy 2016 auch noch ganz genau: „Wir waren zu Hause, als es plötzlich um 20.30 Uhr an der Tür klingelte. Zu drei Mann standen sie da: der Cravatte, der Bodson und der Bousser (die damalige Führungsriege der LSAP, d.Red.). Ich habe nur noch gestottert. ‚Um was geht es denn noch so spät‘, wollte mein Mann von ihnen wissen. Da hat einer den anderen angeschaut, bis der Bousser sagte: ‚Wir haben herausgefunden, dass die anderen Parteien im Zentrum alle eine Frau auf der Liste haben.‘ ‚Aha‘, habe ich gesagt, ’sie sind also hierhergekommen, um zu fragen, ob ich mit in die Wahlen gehe.‘ Ich habe dann kurz mit meinem Mann gesprochen und Ja gesagt, obwohl ich wenig von der Stadt kannte, wir waren ja schließlich aus Mersch. Tags drauf kam René Gregorius vorbei und sagte: ‚Dein Thema sind die Schulen. Du musst darauf hinweisen, was in unseren Schulen alles so fehlt.’“

Amiperas-Präsidentin

Zurück in Mersch, wo sie gemeinsam mit ihrer Mutter 1960 das familieneigene Hotel wieder übernahm, engagierte sie sich weiter. So war sie 1972 Gründungsmitglied der dortigen Amiperas-Sektion. Später wurde sie zur Nationalpräsidentin der Vereinigung, der sie von 1986 bis 1989 vorstand. Noch heute ist sie Amiperas-Ehrenpräsidentin. 30 Jahre lang engagierte sie sich zudem ehrenamtlich für die „Repas sur roues“. 

Julie Muller-Barthélemy hat ihr Leben demnach stets in die eigene Hand genommen. Geschenkt bekam sie in einer von Männern dominierten Welt nichts. „Wenn ich heute mit damals vergleiche, dann hatten wir gerade einmal angefangen, uns zu emanzipieren. Ohne großen Erfolg allerdings. Die Männer sind heimgekommen, haben die Hausschuhe angezogen, sich auf die Couch gesetzt und gefragt: ‚Wéini ass d’Iesse fäerdeg?‘ Mein Mann tat das übrigens nur einmal, denn ich habe ihm geantwortet: ‚Et gëtt z’iessen, wann s du an d’Kiche kënns a mir hëllefs.’“