Judo-Nationaltrainer Alexander Lüdeke: Über „Bekloppte“ und die „Luxemburger Alpen“

Judo-Nationaltrainer Alexander Lüdeke: Über „Bekloppte“ und die „Luxemburger Alpen“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Mit Alexander Lüdeke stellte der nationale Kampfsportverband vor zwei Wochen einen Mann ein, der weiß, wie steinig der Weg an die Judo-Weltspitze aussehen kann. Der ehemalige Trainer des Olympiastützpunkts in Hamburg coacht neben den Luxemburgern FLAM-Athleten ebenfalls die Nummer 8 der Welt. Im Interview erklärte er, warum Talent für eine Karriere nicht unbedingt ausschlaggebend ist, mit welchen beiden Athleten er als kurzfristiges Ziel die European Games anpeilt und warum für ein Leben als Hochleistungssportler auch ein großer Teil Wahnsinn dazugehört.

Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar „Der Erfolgsmacher – Frischer Wind in der Judo-Welt“.

Tageblatt: Sie sind nun also seit dem 1. Januar offiziell im Amt. Wie würden Sie die Gesamtsituation des derzeitigen Nationalkaders beschreiben?
Alexander Lüdeke: Ich bin, genau wie mein Vorgänger Ralf Heiler, für die Junioren und Senioren zuständig. Ich habe mittlerweile einen guten Überblick, sowohl über die Athleten des „Sportlycée“ und des Lycée technique de Bonnevoie (LTB) als auch über die „Nicht-Schüler“. Insgesamt sind rund 20 Sportler vorhanden. Drei davon profitieren vom „Splitting“ (LTB/Abschlussjahr auf zwei Jahre aufgeteilt), bei den älteren Jahrgängen sind von diesen 20 vier im „Sportlycée“. Das „Splitting“ ist eine hervorragende Möglichkeit, Hochleistungssport und Schule zu kombinieren. Ich kann nicht verstehen, warum nicht mehr Sportler diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Mit 19 weiß man beruflich eh noch nicht so richtig, wo es hingehen soll.

Da dürften es trotzdem große Leistungsunterschiede geben.
Ja, die sind beträchtlich. Die Trainingseinheiten müssen schon so geplant sein, dass jeder an seinem Optimum trainieren kann, obwohl das dann möglicherweise Abstufungen im technischen Niveau mit sich bringen kann. Wenn man vorher schon mit nicht-homogenen Gruppen trainiert hat, weiß man, wie sich das anstellt. Da ist vom 17-jährigen Jungen, der kurz vor der Pubertät steht, bis hin zur echten Frau alles dabei. Auch vom Wettkampfniveau ist das so: Das reicht von Athleten, die fast internationale Spitze haben, über Sportler, die das Grundniveau haben, aber selbst nicht daran glauben. Es ist mein Job, denen zu vermitteln, dass sie es schaffen können.

Warum haben Sie den Schritt gewagt, Hamburg zu verlassen und dieses Amt in Luxemburg zu übernehmen?
In erster Linie, weil ich die handelnden Personen kenne und weiß, wie sie Judo-Leistungssport sehen. Wie Sportdirektor Ralf Heiler und ich uns vorstellen, einen Judoka aufzubauen, ist relativ ähnlich. Wegen Marie Muller und meiner Lebensgefährtin (Katharina Haecker/-63kg, derzeit Nummer 8 der Welt) sind wir oft gemeinsam unterwegs gewesen und haben gemerkt, dass wir ähnlich denken. Deshalb ist mir die Entscheidung auch sehr leicht gefallen. Es ist ja nicht einfach eine Ersetzung, sondern eine Stelle mehr, die geschaffen wurde. Wir sind ein größeres Team geworden, und davon verspreche ich mir noch einmal einen Schritt nach vorne.

Was war Ihr erster Eindruck?
Ich bin hierhergekommen, und es kam gleich ein Athlet zu mir, der gehört hatte, ich sei ein harter Hund. Er war besorgt, dass ich ihn jetzt nicht mehr nominieren würde. Ich weiß schon, dass Ralf Heiler in seinen ersten Jahren um jeden Judoka werben musste. Heute kommen schon deutlich mehr, trotzdem muss das Werben natürlich bleiben. Aber es fällt viel leichter, mit Athleten zu arbeiten, die schon mit diesem Gedanken aufgewachsen sind, sich mit Leistungssport zu beschäftigen. Ich bringe ein gutes Konzept mit, um die Leute aus kleineren Nationen zu betreuen. Hamburg ist als Judostandort nicht viel größer. Ich bin es gewohnt, nach individuellen Lösungen zu suchen. Das ist, was ich auch hier vorfinde. Nicht jeder wird Weltmeister werden, und nicht jeder wird Weltmeister werden wollen und ist bereit, die Umfänge dafür zu leisten.

Wie wird Ihr Alltag aussehen?
Davon gibt es zwei. Es gibt den Alltag, der um 7.30 Uhr im Kraftraum oder auf der Matte beginnt, damit die körperlichen Voraussetzungen geschaffen werden, um international mitzuhalten. Hinzu kommt das Vorbereiten der nächsten zwei Tageseinheiten und der Lehrgänge – dem zweiten Alltag. Ich komme gerade aus Österreich. Es geht nicht ohne langfristige Planung. Es wäre komisch, wenn ich es dieses Jahr nicht schaffen würde, 180 Reisetage vollzukriegen. Dann hätte ich wohl einen Teil meiner Arbeit nicht richtig verstanden. Du ziehst an der Spitze mit den gleichen 500 Athleten von Kontinent zu Kontinent, du triffst jedes Wochenende die gleichen Menschen wieder. Viel Freizeit habe ich mir nicht erwartet. Trotzdem habe ich mein Fahrrad mitgebracht … Eure Hügel sind für mich als Hamburger die Alpen.

Wie wird die Arbeitsaufteilung mit dem neu geschaffenen Halbtagsposten des Sportdirektors, den Ex-Nationaltrainer Ralf Heiler übernommen hat, aussehen?
Die Natur der Sache will, dass ich viel „Mattenarbeit“ von Ralf übernehme. Da ich ihn aber kenne, weiß ich auch, dass ihm das fehlen würde. Ich werde wohl das halbe Jahr unterwegs sein, dank ihm läuft es dann hier so weiter, wie ich es mir vorstelle. Wir sind dauernd dabei zu besprechen, was wir verbessern können. Wir wollen die 100 Prozent aus jedem herausholen. Ganz oben entscheiden dann nur 1,5 Prozent zwischen Teilnehmerurkunde oder Medaille.

Was haben Sie vorher über die Luxemburger Athleten gewusst?
Diverse habe ich gekannt. Auf der Welt-Tour ist das kein Geheimnis. Man besucht die gleichen Trainingslager und Wettkämpfe. Über meine Lebensgefährtin habe ich die letzten vier Jahre honorarmäßig auch die Australier betreut. Bis jetzt bin ich absolut zuversichtlich. Ich habe hier eine Bande von fünf, sechs Verrückten kennengelernt, die der Jugend vermitteln können, wie es läuft. Man muss schon etwas bekloppt sein, um diesen Weg zu gehen, aber es lohnt sich.

Warum hat Luxemburg im Judo immer wieder ein Aushängeschild wie Igor Muller, Marie Muller oder zuletzt auch Manon Durbach hervorgebracht?
Es gibt mehrere Wege, das zu begründen. Große Systeme wie Deutschland, Russland oder Frankreich können sicherlich berechnen, bei wie vielen ambitionierten Sportlern letztendlich ein Topathlet herauskommt. Der größte Anteil am Erfolg ist aber ein rein mentaler. Wie hart kann ich mich über Jahre quälen? Vielleicht waren eben diese Luxemburger bereit, ihre Belohnung – sprich ihre Medaille – auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in der Lage sind, ihren Lohn nicht am Monatsende, sondern erst viel später zu kassieren. Dabei sind diese vielleicht nicht als große Judotalente aufgefallen, sondern ihre mentale Stärke hat den Ausschlag gegeben.

Wird es deshalb in Zukunft auch eine Zusammenarbeit mit Sportpsychologen geben?
An dem Moment, an dem die Leistungszuwächse so klein werden, dass es kaum noch Verbesserungspotenzial gibt und es nur um die letzten zwei, drei Prozent geht, dann können wir das sicher in Betracht ziehen. So weit ist es aber noch nicht. Es wird hoffentlich irgendwann eine Rolle spielen, aber für die meisten ist gerade noch der Weg das Ziel. Wir müssen weiter daran arbeiten, die Basis breit zu machen. In welcher anderen Sportart kann jemand über die Werte so viel mitnehmen? Schwimmen ist bestimmt eine schöne Sportart, aber ich habe noch nie etwas von den zehn Schwimmwerten gehört …

Manon Durbach hat ihren Rücktritt erklärt, es fehlt derzeit an einem echten Spitzenathleten. Welche Luxemburger können es in Zukunft an die Weltspitze schaffen?
Anetka Mosr kann dahin kommen, wenn sie bereit ist, sich mit jeder Faser ihres Körpers zu investieren. Claudio dos Santos ist ebenfalls einer dieser Typ-Judoka, die es schaffen können. Er hat beispielsweise am Montag geheult. Er war einfach sauer auf sich selbst. Nach so einer großen Belastung wie dem Trainingslager in Österreich braucht der Körper ein paar Tage, um das zu kompensieren. Er konnte einfach nicht damit umgehen, dass er nicht so fit war, wie er es wollte. Es hat nichts damit zu tun, ob auf dem Rücken Luxemburg, Australien, Andorra oder Monaco steht. Wer den Willen mitbringt, kann es schaffen.

Wie sieht das Programm der nächsten Wochen und Monate aus?
Mein Ziel ist, obwohl der Leistungsstand noch nicht erreicht ist, ein bis zwei Personen für die European Games zu qualifizieren. Das muss auch immer das Ziel sein. Es gibt eine Quote in beiden Gewichtsklassen, es qualifizieren sich rund 40 Nationen anhand der Weltrangliste. Laut meiner bereinigten Zählung liegen sowohl Claudio dos Santos als auch Bilge Bayanaa knapp an dieser Grenze. Wir wollen die Teilnahme mit ein, zwei Wettkämpfen absichern. Beim Grand Slam in Paris tritt Claudio an, beim Grand Prix in Düsseldorf alle beide. Es ist eine gemeine Sache, Claudio als Junior in seinem Alter schon in dieses Haifischbecken zu schmeißen, obwohl er noch im Nichtschwimmerbecken planschen könnte. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Aber er hat den Willen. Er würde dem Gegner nie einen Millimeter schenken. Ich bin überzeugt: In einem Würgegriff würde er nie abklatschen, er würde einfach ohnmächtig werden, statt aufzugeben. Er hat dieses Gen. Ich als Trainer sehe mich als Dienstleister der Athleten. Wenn sie es nicht erst meinen, dann kann ich auch als Coach nichts ändern.

 


Trainingspartnerin anstatt Polemik

Dass mit dem neuen Nationaltrainer auch die Nummer 8 der Welt, Katharina Haecker (startet in der Kategorie -63 kg für Australien), nach Luxemburg gezogen ist, sieht man beim nationalen Kampfsportverband FLAM nicht als Nachteil, im Gegenteil: „Es wurde im Vorfeld vertraglich genau festgelegt, wie oft er pro Jahr mit seiner Lebensgefährtin auf der World Tour unterwegs sein kann (an ungefähr vier Wochenenden, Anm. d. Red.). Die meiste Zeit wird sie allerdings alleine reisen. Bei einer Weltmeisterschaft beispielsweise wird er sie dann begleiten“, erklärte FLAM-Präsident Serge Schaul. „Wir waren uns der Problematik bewusst, deshalb wurde das vorher abgeklärt. Es hätte zur Polemik werden können. Stattdessen sollte man nicht vergessen, dass die Luxemburger nun die Möglichkeit haben, mit einer Weltklassesportlerin zu trainieren. Das ist ein deutlicher Mehrwert.“

Der Erfolgsmacher – Frischer Wind in der Judo-Welt