Large-Scale-Tester Tom Dentzer„Jetzt müssen wir den Endspurt schaffen“

Large-Scale-Tester Tom Dentzer / „Jetzt müssen wir den Endspurt schaffen“
„LST on Tour“ am Freitag im Einkaufszentrum auf dem Kirchberg Foto: Fabrizio Pizzolante/Editpress

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Manch amerikanische Politiker würden wohl von einer „major operation“ sprechen. Eine, wie sie die Menschheit noch nicht gesehen hat – und wie sie nur das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ auf die Beine stellen kann. Tatsächlich hat es aber das kleine Luxemburg geschafft: die einzige permanente „Large Scale Testing“-Aktion der Welt. Mehr als zwei Millionen PCR-Tests wurden bis jetzt dafür gemacht. Der Organisator der 100-Millionen-Euro-Kampagne: „Santé“-Mann Thomas Dentzer. Wir haben mit ihm gesprochen. 

Tageblatt: Seit über einem Jahr suchen Sie mit dem Large-Scale-Testing-Programm (LST) systematisch nach dem Virus in Luxemburg. Insgesamt haben Sie bis zu dieser Woche 2.230.204 Tests gemacht. Gibt es so etwas auf der Welt noch einmal? 

Tom Dentzer: Andere Länder und Regionen haben ähnliche Ansätze gehabt – aber das war immer zeitlich begrenzt und nicht mit PCR-Tests. Wir machen das seit Mai 2020 jede Woche. Und wir reagieren eigentlich jede Woche darauf, wie sich die Situation entwickelt. 

Wegen der Nationalfeiertags-Cluster sollen jetzt alle Menschen zwischen 15 und 40 getestet werden. Das sind rund 200.000. Kriegen Sie das hin?

Operationell ist das kein Problem. Wir haben jeden Tag ungefähr 10.000 Termine, das bekommen wir gestemmt. Es kann sein, dass manche einen späteren Termin nehmen müssen.

Wie viele von den Eingeladenen lassen sich denn üblicherweise testen? 

Durchschnittlich nimmt jeder Dritte seine Einladung wahr. Das ändert sich mit der Prävalenz. Schnellt die nach oben, kommen mehr Menschen. Dasselbe Phänomen haben wir auch vor den Schulferien, weil die Menschen dann in Urlaub fahren und sich noch mal testen lassen wollen.

Der Virologe Thomas Dentzer hat in den USA promoviert und jahrelange an Viren wie dem Coronavirus geforscht. Seit drei Jahren arbeitet er bei der „Direction de la Santé“ des Luxemburger Gesundheitsministeriums. Dort kümmert er sich vor allem um die Koordination zwischen Behörden und Forschung – und seit vergangenem Jahr um das Large Scale Testing. 
Der Virologe Thomas Dentzer hat in den USA promoviert und jahrelange an Viren wie dem Coronavirus geforscht. Seit drei Jahren arbeitet er bei der „Direction de la Santé“ des Luxemburger Gesundheitsministeriums. Dort kümmert er sich vor allem um die Koordination zwischen Behörden und Forschung – und seit vergangenem Jahr um das Large Scale Testing.  Foto: Editpress-Archiv/Isabella Finzi

Seit dieser Woche läuft die Aktion „LST on Tour“, bei der den Passanten im Einkaufszentrum Tests angeboten werden. Nehmen die das Angebot wahr? 

Der Pilotversuch war im Einkaufszentrum City Concorde. 180 Menschen haben sich da spontan testen lassen. Der Vorteil ist, dass man nah an die Leute kommt. Es gibt ja noch immer Menschen, die sich noch nie haben testen lassen. Die können das dort machen – und ich glaube, dass man so noch den ein oder anderen Infizierten identifizieren kann. Wir planen, dass wir bis zum 15. September in einem Rhythmus von zwei bis drei Wochen regelmäßig zu denselben 15 Plätzen zurückkommen. 

Das ist dann aber keine Zufallsprobe mehr. Wie aussagekräftig sind die LST-Ergebnisse dann hinsichtlich der Lage im Land? 

Das eine schließt das andere nicht aus. Wir laden immer auch eine repräsentative Kohorte ein. Davon wollen wir mindestens 3.000 pro Woche testen, damit wir repräsentative Zahlen haben und sehen, wo sich das Virus befindet. Damit man statistische Daten hat und reagieren kann.

Wieso gibt es zu ebendiesen Daten keine Informationen in den öffentlichen Berichten des Gesundheitsministeriums? 

Es ist entschieden worden, dass man nicht alle Daten vom LST kommuniziert, weil das Thema sehr komplex ist und man sehr viele Informationen benötigt, um es zu erklären. Und wir hatten relativ viele Probleme mit der Europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC, die einfach Zahlen von unserer Webseite genommen hat und genutzt hat – was uns heftigen Gegenwind vor allem von unseren Freunden aus Deutschland gebracht hat, die ständig mit der Schließung der Grenzen gedroht haben. Deshalb ist die politische Entscheidung gekommen, wie und welche Zahlen man kommuniziert.

Wie viel hat das LST gekostet? 

Die erste Phase hat um die 30 Millionen Euro gekostet, die zweite war etwas teurer. Im Allgemeinen sind es etwas mehr als 100 Millionen für anderthalb Jahre LST. Aber wir werden das Budget nicht ausreizen.

Hat sich das gelohnt?

Ja natürlich, in jeder Hinsicht. Wir haben sehr viel früher erfahren, wenn eine Welle kam. Die Wellen selbst sind natürlich auch bei uns nicht ausgeblieben, aber wir haben es schneller geschafft, sie auf ein Plateau zu bringen. Wenn man mehr Infektionen schneller erkennt, setzt man mehr Menschen in Isolation und Quarantäne, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Wie groß war denn Ihre Trefferquote?

Wir haben im Januar analysiert, wie viele Menschen in Luxemburg positiv auf das Virus getestet wurden und wie viele Antikörper hatten, also tatsächlich eine Infektion durchgemacht haben. Dabei haben wir herausgefunden, dass wir weniger als ein Prozent der positiven Fälle nicht durch die Testkampagnen gefunden haben. In anderen Ländern, zum Beispiel Belgien, waren es mehr als 60 Prozent. Und es macht natürlich einen Riesenunterschied, wenn viele Leute herumlaufen, die nicht wissen, dass sie infiziert sind und andere anstecken. Das hat uns auch bei den Öffnungsschritten geholfen und wir sind auch nicht – wie andere Länder – in einen totalen Lockdown gefallen. Das LST hat dabei ganz klar eine Riesenrolle gespielt.

Wir hatten es fast geschafft – und dann steigen die Infektionszahlen plötzlich wieder, sehr wahrscheinlich wegen der Partys am Nationalfeiertag. Schlagen die Leute in der „Santé“ da nicht die Hände über dem Kopf zusammen? 

Nein, wir wissen ja, wie es ist. Ich bin Virologe, der Direktor der „Santé“ ist Infektiologe, und wir wissen genau,  dass es bei einem Anteil von 50 Prozent, der vollständig geimpft ist, nicht vorbei ist. Natürlich haben wir auch aufgeatmet, als es weniger Fälle waren. Aber ich würde die jetzige Entwicklung nicht als Rückschlag sehen. Es ist eine Frage der Reaktion. Wir haben sofort in die Zielgruppe hinein eingeladen, damit diese Menschen sich testen lassen. Und wenn wir es hinkriegen, dass das viele in dieser Altersgruppe machen, dann kriegen wir das Virus auch wieder aus dieser Altersgruppe raus.

Wie reagieren Sie auf die Delta-Variante?

Ich gehe davon aus, dass sich der Anteil der südafrikanischen und brasilianischen Varianten verringern wird, weil es sich um Cluster handelt. Die Delta-Variante ist die dominante Variante und wird sich weiter durchsetzen – und das ist gut, weil die Impfungen gut auf sie reagieren. Wenn wir die südafrikanische und brasilianische Varianten raushalten können, dann haben wir viel erreicht. Die Impfstoffe wirken auch gegen diese Varianten – aber besser gegen die englische und Delta.

Ist die Bereitschaft zum Impfen in Luxemburg denn groß genug, um das Rennen gewinnen zu können?

Die, die sich impfen lassen wollten, sind inzwischen sehr wahrscheinlich geimpft. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Wochen auf eine Impfquote von 85 Prozent kommen. Es wird so sein, dass man aus virologischer Sicht die nächsten ein, zwei, drei Jahre damit leben muss. Das Virus wird immer wieder aufflammen in Gruppen, Familien, in Altersgruppen, die nicht geimpft sind. Aber es wird wahrscheinlich lokal sein, also keine Epidemie oder Pandemie. Das heißt, dass das Virus dann mehr oder weniger unter Kontrolle ist. Es kann natürlich auch anders kommen, wenn jetzt andere Varianten auftreten. Und je länger das Virus in der Population ist – nicht nur in Luxemburg, sondern in der ganzen Welt –, desto mehr Mutationen kommen und desto mehr Varianten entstehen. Aber virologisch gesehen werden die Varianten normalerweise nicht pathogener, sondern das Virus passt sich dem Wirt an. Es hat kein Interesse daran, jemanden zu töten, denn dann hat es keinen Wirt mehr. Deshalb bin ich eigentlich sehr optimistisch.

In den USA und anderen Ländern kann man sich per Drive-in oder im Supermarkt impfen lassen. Wieso gibt es so etwas nicht in Luxemburg? 

Es gibt viele Ideen, ich will da nicht vorgreifen. Momentan sind wir in der Phase, wo wir die Einladungen verschickt haben und dabei, Kassensturz zu machen: Wer hat sich impfen lassen und wie viele fehlen da noch? Und dann sucht man natürlich Wege, die zu erreichen, die es noch nicht gemacht haben.

Es gibt natürlich Impfkritiker und Leute, die wirklich dagegen sind. Aber es gibt auch viele, die bis jetzt einfach zu bequem waren, sich darum zu kümmern – das haben wir jetzt auch bei den Tests im Supermarkt gesehen. Die Leute haben sich dann dort einfach testen lassen. Ich glaube, dass man da mit innovativen Ideen, mit denen man näher an die Menschen herankommt, punkten kann. 

Gibt es in diesem Jahr einen Plan für die „Rentrée“? 

Wir haben natürlich mehrere Szenarien aufgestellt. Aber es ist noch zu früh, man weiß nicht, was kommt. Und es kommen noch Variablen dazu: Wie viele Menschen sind geimpft, wie viele Schüler über zwölf sind geimpft? Wann kann man Kinder unter zwölf impfen? Die Szenarien reichen von Schulen schließen und Lockdowns bis hin zu gar nichts machen.  

Sie haben die Pandemie von Anfang an bei der „Santé“ mitgemacht. Was war Ihr schwerster Tag? 

Es gab viele schwere Momente. Aber der, der bei mir persönlich hängen geblieben ist, war, als wir gesehen haben, dass in Italien die Leute auf der Straße standen und nicht ins Krankenhaus kamen. Und dass es dann in Mulhouse ein Super-Spreading-Event gab und Frankreich gesagt hat: Wir haben nicht genug Krankenbetten, könnt Ihr Patienten aufnehmen? Das war so ein Moment, an dem ich persönlich geschluckt habe und dachte: Das wird wesentlich heftiger, als wir uns das vorgestellt haben. Gott sei Dank hat sich das dann ein bisschen beruhigt, als man wusste, wie das Virus am besten zu handhaben war, dass man einfach testen kann, dass es sich über Tröpfcheninfektion verbreitet und nicht großartig über Oberflächen. Da hat man schon ein bisschen durchgeatmet und gesagt: Hey, das kriegen wir jetzt irgendwie hin.

Wann ist die Pandemie endlich vorbei? 

Ich glaube, weltweit, nicht in diesem Jahr. Die Impfstoffe sind vor allem in westlichen Ländern verimpft worden, in Russland und China hat man noch einen eigenen Impfstoff. Aber in anderen Teilen der Welt kann ich mir nicht vorstellen, dass in diesem Jahr der größte Teil der Menschen geimpft sein wird. Ich nehme an, dass man da noch zwei bis drei Jahre braucht, bis man eine Impfrate hat, die angemessen ist, um das Virus wirklich zurückzudrängen oder komplett auszulöschen.  

Und wann haben wir es in Luxemburg geschafft?

Ich glaube, dass man im September wirklich sehr gut dastehen wird. Weltweite Pandemie – ja. Aber wenn bei uns eigentlich niemand mehr wirklich krank wird oder stirbt und wir auch nicht mehr große Maßnahmen wie Maskentragen oder abgesagte Fußballspiele ergreifen müssen, dann ist es ja eigentlich für uns schon überstanden. Und das wird schon dieses Jahr der Fall sein. Ich bin sehr optimistisch. Aber jetzt müssen wir noch den Endspurt schaffen, sodass wir wieder in ein relativ normales Leben kommen – und auch die Lehren daraus ziehen. Und wie gesagt: Es gibt viele Variablen und es können immer noch Varianten kommen, bei denen unsere Impfungen weniger greifen.

pol
11. Juli 2021 - 0.13

@john Wenn 10-15% der Positiven durch das LST stammen. Macht das auf einer Zahl von Beispielweise 200 rund 30 aus. Ohne LST also 170. 170 reicht für die rote Liste. Also der LST hat einen Impakt. Aber wesentlich kleine als dargestellt.

john
10. Juli 2021 - 12.58

LST an sich eine gute Sache. Aber die Implikationen wurden nie korrekt an unsere Nachbarstaaten kommuniziert. Weshalb wir überall auf den roten Listen landeten....