Islam-Theologe Abdel-Hakim Ourghi sieht die Fundi-Fraktion erfolgreicher unterwegs

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Abdel-Hakim Ourghi hat gerade ein Buch geschrieben, in dem er den Muslimen schon im Titel eine klare Botschaft vermittelt: „Ihr müsst kein Kopftuch tragen – Aufklären statt verschleiern“. Doch ob die Botschaft ankommt, daran zweifelt der Islam-Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg selbst, weil die liberalen Muslime versagt haben, wie er im Interview mit Manfred Maurer beklagt.

Von unserem Korrespondenten Manfred Maurer

Tageblatt: In Deutschland hat sich gerade eine neue „Initiative säkularer Muslime“ formiert. Sind Sie als einer der Erstunterzeichner der vor zwei Jahren initiierten „Freiburger Deklaration“ von Reformmuslimen dabei?
Abdel-Hakim Ourghi: Nein, ich kritisiere die sogar. Das Ziel, den Islam zu reformieren und den Anschluss an die Moderne zu finden, bedarf nicht immer neuer Deklarationen, sondern man muss auch aktiv arbeiten. Die Gruppe ist hervorragend, aber das ist ein Diskurs der Intellektuellen unter sich. Es geht darum, wie man alle Muslime im Westen erreicht.

Wie schafft man das?
Man muss mit denen Gespräche führen. Es ist Zeit, dass wir auch den liberalen Islam kritisieren. Wir liberalen Muslime versuchen uns nämlich durch die Abwertung der konservativen Muslime zu definieren. Das heißt nicht, dass ich jetzt die Konservativen in Schutz nehme, sondern es geht darum, nicht über die konservativen Muslime zu reden, sondern miteinander zu diskutieren. Wir Liberalen sind nicht die Vermittler der absoluten Wahrheit, sondern es gibt mehrere Wahrheiten. Der liberale Islam muss sich in Frage stellen. Denn wir haben einfach als liberale Muslime nichts erreicht, wir haben nichts geändert. Die konservativen Muslime sind sehr organisiert, haben Gemeindestrukturen. Und wir Liberalen sind nur dabei, zu dozieren.

Warum organisieren Sie sich nicht auch, wie es die Fundis tun?
Das Problem ist erst einmal theologisch zu begründen. Der sunnitische Islam hat keinen Vermittler zwischen Gott und den Menschen auf der Erde. Und die Mehrheit der Muslime sind Sunniten. Die liberalen Muslime waren im Lauf der Geschichte vereinzelte Stimmen, denen es nicht immer um die Sache, sondern um persönliche Interessen ging.

Dann stehen aber die Chancen für eine Organisierung des liberalen Islam schlecht.
Es ist schwierig, die liberalen Muslime zu organisieren. Es sind nur Intellektuelle, die Gespräche über die Muslime führen.

Wie ist es zu erklären, dass fundamentalistische Muslime das Kopftuch propagieren, obwohl der Koran gar kein solches Gebot enthält?
Das Kopftuch ist in erster Linie ein historisches Produkt der männlichen Herrschaft. Wir finden im Koran keinen Hinweis auf das Kopftuch. Es ist keine religiöse Vorschrift.

Trotzdem ist es in der islamischen Welt und auch bei uns immer öfter zu sehen.
Das ist eine organisierte Vorgehensweise des konservativen Islam. Ein zehnjähriges Mädchen trägt kein Kopftuch freiwillig. Das Tragen des Schleiers ist keine Entscheidung von heute auf morgen. Die Eltern, die Gemeinden und die Moscheen sind diejenigen, die die Verantwortung haben, dass diese Mädchen Kopftuch tragen. Die Mädchen werden auch emotional erpresst, indem man ihnen sagt, sie würden ohne Kopftuch in die Hölle kommen.

In Österreich begegnet die Regierung dem konservativen Islam nun mit einem Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen. Wie stehen Sie dazu?
Ich erlaube mir, zu fragen, ob das die Lösung ist. Wir müssen auch mit Gegenreaktionen rechnen. Es geht darum, dass wir in erster Linie Aufklärung machen in den Kindergärten und Schulen.

Konservative Islam-Organisationen wie Milli Görüs verweigern jedoch jede Debatte und sozialisieren Mädchen vom Kindergartenalter an hin zum Kopftuch.
Ich weiß nicht, ob wir mit einem Verbot das Problem lösen. Ich kann mir vorstellen, dass dann eher mehr Schülerinnen in die Moschee gehen werden. Klar kann man das Kopftuch verbieten, klar ist das Kopftuch gegen die Würde der Mädchen, sie werden ausgegrenzt durch das Kopftuch, aber ich bin sehr skeptisch bei einem Verbot.

Was ist dann die Lösung?
Wir dürfen nicht nur über die Männer als Unterdrücker reden, sondern auch über die privilegierten verschleierten Frauen, die eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung des Kopftuches und der Durchsetzung der männlichen Herrschaft spielen. Das heißt, unterdrückte Frauen bringen keine freien Menschen zur Welt und erziehen ihre Töchter nicht zu freien Menschen.

Aber wie erreicht man die Muslime mit Aufklärung? Die Realität ist doch, dass die Fundis ihr Ding durchziehen und uns erklären, dass Frauen das Kopftuch freiwillig tragen.
Es gibt keine Frau, die ein Kopftuch freiwillig trägt. Es gibt eine Gruppe, die das behauptet, das sind Konvertitinnen. Aber wenn wir das genau unter die Lupe nehmen, sind diese auch gezwungen, ein Kopftuch zu tragen, weil sie sonst in der konservativen Gemeinde nicht wahrgenommen werden. Das Kopftuch ist ein kollektiver Zwang.

Wenn die Diskussion zu nichts führt, muss man dann nicht doch auch Verbote in Betracht ziehen?
Das können wir probieren, das ist überhaupt kein Problem. Aber ich fürchte, dass wir durch ein Verbot mehr verschleierte Frauen haben werden.

Die Aufklärungsarbeit auch säkularer Muslime war bisher nicht sehr erfolgreich, wie Sie selbst beklagen.
Ich finde es auch sehr, sehr traurig, dass der Staat und die beiden Kirchen immer noch mit diesen konservativen, politisch organisierten Muslimen zusammenarbeiten. Der Staat und die beiden Kirchen müssen endlich umdenken. Die liberalen Muslime tragen aber auch eine Verantwortung für das Scheitern der Durchsetzung des liberalen Islam, obwohl wir hier im Westen einen Kontext hätten, der uns das erlaubt. Die liberalen Muslime müssen endlich mal vor der eigenen Türe kehren. Die Konservativen machen ihre Arbeit hervorragend – sie haben immerhin ihre eigenen Gemeinden.

Alfred Bisenius
12. August 2021 - 21.14

Sehr gut analysiert und beschrieben! Leider werden solche Einsichten nicht wahrgenommen geschweige denn ernst genommen. Bildung, Aufklärung ist vonnöten , anstatt Verschleierung der Realität durch Stigmatisierung und Bestrafen von selbstständigen Denken und Handeln.