AnalyseIn Luxemburg ist die Kluft zwischen Arm und Reich gestiegen, die soziale Mobilität hat abgenommen

Analyse / In Luxemburg ist die Kluft zwischen Arm und Reich gestiegen, die soziale Mobilität hat abgenommen
Soziale Schere: Reichtum gefährdet das Klima und Armut macht krank Foto: Editpress/Alain Rischard

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Während mehr und mehr Menschen armutsgefährdet sind, tragen die Wohlhabendsten am stärksten zum Ausstoß von Treibhausgasen und damit zum Klimawandel bei. Von einer „Soziologie des Verlustes“ ist die Rede. Und in Luxemburg wie anderswo gilt: Arbeit schützt vor Armut nicht.

Als immer besorgniserregender wurde im Sozialpanorama 2022 der „Chambre des salariés“ (CSL) die sozioökonomische Lage Luxemburgs bezeichnet und dabei auf die wachsenden Ungleichheiten aufmerksam gemacht. Zwar sei das Land ein Musterschüler in wirtschaftlichen Fragen, aber nur ein durchschnittlicher Schüler in sozialen. Was noch schlimmer wiegt: Es gelingt ihm nicht, diesen seit Ende der 90er-Jahre anhaltenden Trend zu stoppen, geschweige denn umzukehren. „Alle Indikatoren deuten auf eine Verschlechterung der Lage hin“, stellte die Arbeitnehmerkammer fest.

Einer der wichtigsten Indikatoren für die Ungleichheit ist der Gini-Koeffizient – und der liegt hierzulande mittlerweile über dem europäischen Durchschnitt. Diese Entwicklung gilt sowohl für die Einkommens- als auch für die Vermögensungleichheit. Die Verteilung des Wohlstands bewegt sich in eine ähnliche Richtung: 2020 erreichten die reichsten zehn Prozent der Haushalte einen achtmal höheren Anteil am Volkseinkommen als die ärmsten zehn Prozent. Außerdem ist die Kaufkraft der Spitzenverdiener seit 2010 (mit einem Plus von 11,3 Prozent) deutlicher gestiegen als die der Geringverdiener (plus 6,0 Prozent), die jüngste Phase mit einer sehr hohen Inflation noch nicht einberechnet, die sich negativ auf die Kaufkraft auswirkte.

Nicht besser sieht es aus, was das Armutsrisiko angeht, das in den vergangenen Jahren das bisher höchste Niveau hierzulande erzielte: 2021 waren 115.980 Menschen armutsgefährdet, also 19,2 Prozent der Einwohner. Die Risikoschwelle für Einkommensarmut liegt bei 2.177 Euro. Werden das Vermögen und der Konsum mitberücksichtigt, liegt diese Quote allerdings nur bei 7,3 Prozent. Fazit des Statistikamtes (Statec): „Der soziale Zusammenhalt steht unter Druck.“ Vor allem Haushalte mit drei oder mehr Kindern sowie Alleinerziehende sind vom Armutsrisiko betroffen. Markant ist dabei, dass die Bedeutung von Sozialtransfers nachlässt.

Alarmglocken müssten läuten

Nicht zu vergessen ist, dass Luxemburg innerhalb der Eurozone Spitzenreiter bei der Armutsgefährdung von Erwerbstätigen ist, der sogenannten Working Poor. Unter ihnen liegt die Risikoquote bei 11,9 Prozent. Als Working Poor gelten Haushalte, die nach Transferleistungen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens erhalten. Da hilft auch der Mindestlohn kaum: Der Bruttomindestlohn liegt nur 13 Prozent über der Gefährdungsschwelle. Wenn 28,6 Prozent der Haushalte (2020) Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen, müssten eigentlich die Alarmglocken läuten. Nicht nur die von den Sozialämtern ausbezahlten Beträge sind kontinuierlich angestiegen, auch die von der Caritas und dem Roten Kreuz verwalteten Einrichtungen verzeichnen einen wachsenden Zulauf. So auch die Sozialläden, die Produkte für Preise unter denen der Einzelhandelsketten anbieten.

Außer diesen „nackten“ Zahlen gibt es noch, wie in anderen Ländern auch, eine „versteckte“ Armut, die sich nicht in den offiziellen Daten niederschlägt. Zudem kommen die verschiedenen Untersuchungen auf Ergebnisse, die sich zumindest auf den ersten Blick widersprechen: So öffnet sich nach einer 2019 vorgestellten Oxfam-Studie „Public Good or Private Wealth“ in den 2010er-Jahren die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter, eine Untersuchung der Europäischen Investitionsbank ein Jahr zuvor besagte hingegen, dass die Einkommensungleichheit in Europa nicht gestiegen sei, während aber die Armut allgemein zugenommen habe.

Corona-Pandemie hat die sozialen Gräben vertieft

Allerdings habe die Corona-Pandemie die sozialen Gräben vertieft, stellt der deutsche Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge in seinem Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ fest. Das deutsche Statistische Bundesamt meldete Mitte Mai, dass 17,3 Millionen Deutsche, also gut ein Fünftel (20,9 Prozent) der Bevölkerung Deutschlands, von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht seien. Mehr als ein Fünftel verfügten über ein Nettoeinkommen von 16.300 Euro im Jahr. Butterwege meint, die Zahlen stellten die Armut sogar eher verharmlosend dar. Denn besonders finanzschwache Gruppen seien in der Statistik, die sich auf Haushalte konzentriere, gar nicht enthalten: Obdachlose oder Menschen in Notunterkünften blieben außen vor. Die soziale Ungleichheit würde in den Daten des Statistischen Bundesamtes sichtbar, denn auf den Reichtum würde nicht geschaut. Ähnlich dürfte es auch Lëtzebuerger-Land-Journalist Luc Laboulle gesehen haben, der im Oktober 2022 schrieb: „Studiert werden immer nur die Armen. Zu einer ‚Reichtumsgefährdungsquote‘, die Obergrenzen für gesellschaftlich vertretbare Einkommen und Vermögen festlegt, hat in Luxemburg noch keiner geforscht.“

Auf internationaler Ebene gibt der „World Inequality Report 2022“ Aufschluss, demzufolge die wohlhabendsten zehn Prozent der Weltbevölkerung – knapp 800 Millionen Menschen – im Jahr 2019 für 47,6 Prozent aller Treibhausgase verantwortlich sind, die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung (vier Milliarden Menschen) hingegen nur für zwölf Prozent aller Emissionen. In Deutschland stoßen die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte nahezu sechsmal so viele Treibhausgase wie die gesamte ärmere Hälfte der Deutschen zusammen aus. Ungleichheit manifestiert sich also auch in Zerstörungspotenzial.

Armut macht krank

Die britische Soziologin Rebecca Elliott spricht, bezogen auf den Klimawandel, von einer „Sociology of Loss“ (Soziologie des Verlusts). Betroffen sind verschiedene Gesellschaftsklassen in unterschiedlichem Maße, am stärksten die Armen. Während auf der einen Seite der Reichtum jedweder Art durch ökologische Zerstörung bedroht werde, so Elliotts Befund, „trägt dieser Reichtum selbst zu den ökologischen Zerstörungen bei“, konstatiert der deutsche Soziologie Sighard Neckel. Am Ende ruiniere er sich möglicherweise selbst.

Derweil macht Armut krank – und Krankheit macht arm, konstatiert Carole Reckinger, bei der Caritas Luxemburg für die politische Arbeit verantwortlich, in ihrem Beitrag für die März-Ausgabe der Zeitschrift Forum: Armut sei ein Gesundheitsrisiko, und Krankheit sei ein Armutsrisiko. „Menschen, die in Armut leben, haben oft Schwierigkeiten, sich auf Dauer gesund zu ernähren. Auch fehlt nicht selten das Geld für gesunden Lebensraum: Schlecht isolierte, feuchte und schimmelbelastete Wohnungen an lauten Straßen und mit wenig Grünflächen sind wegen der hohen Mietpreise im Land oft die einzige Möglichkeit, die armen Menschen bleibt“, schreibt die Politologin. „Menschen mit tieferem sozioökonomischem Status haben statistisch gesehen ein erhöhtes Risiko, Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen zu entwickeln.“ Dies kann der britische Epidemiologe Richard G. Wilkinson nur bestätigen (siehe Interview).

Kollaps beschleunigt sich

„Jede menschliche Gesellschaft muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen“, schreibt der französische Ökonom Thomas Piketty. Sie müsse gute Gründe für sie finden, da andernfalls das gesamte politische und soziale Gebäude einzustürzen drohe. Der Einsturz verläuft jedoch nicht auf Art und Weise einer apokalyptischen Katastrophe. Der Kollaps ist schleichend, wie etwa die Klimakrise und ökologischen Zerstörungen. Allerdings beschleunigt er sich. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz spricht von einer Soziologie des Verlusts: „Je länger man darüber nachdenkt, desto deutlicher wird, dass die Frage nach dem Verlust, dass die Verlusterfahrungen als solche, für ein Verständnis moderner Gesellschaften von zentraler Bedeutung sind.“

Doch wie ist der Ungleichheit beizukommen? Die „Inequality Advisory Group“ beriet etwa die deutsche Robert Bosch Stiftung in den vergangenen beiden Jahren zu dem Thema, um Strategien zu entwickeln. Dass Ungleichheit nicht zuletzt auch entlang von Ethnien und Geschlechtern besteht, wie Nicolette Naylor, Programmdirektorin für das globale Programm zu Gender und ethnischer Gerechtigkeit der Ford Foundation erklärt, ist nicht von der Hand zu weisen. Besser ist sogar von Ungleichheiten zu sprechen. Diese haben in den vergangenen vier Jahrzehnten in vielen Ländern zugenommen. Sie gehören zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.


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Leila
8. Juni 2023 - 9.41

Nicht der Bettler stört mich - sondern der Bettler MIT Hund stört mich! Das bedauernswerte Geschöpf ist nur Mittel zum Zweck und wird nicht aus Liebe zu ihm gehalten!

max.l
8. Juni 2023 - 8.49

fiir den Aarmut richteg können ze verstoën, muss Een ët selwer erliewt hun, da weess Een wéi aarmséileg dann de Versteestemëch ass.. ma dee gët ët nët.. well dee meechte Läit domadder näicht können ufänke, an dann als Fazit nach mengen ët wären Alleguer Lidderhaanessen

Phil
7. Juni 2023 - 16.39

Do gin et zwou Méiglechkeeten fir deem Problem bäizekommen an ze egaliséieren. Entweder den Lidderhaanes steet op an geet schaffen, oder den Schaffenden hält op an leet sech op d'Couche. All déi, déi an der Stad rondrem lungeren, hun 2 gesonder Hänn a Been. Aarbecht ass genuch do, et brauch een nëmmen opzestoen an ze wibbelen.

Leila
7. Juni 2023 - 9.36

Krücke und Schneidersitz? Passt nicht - genauso wenig wie Armut und Hund "halten"

Robert Hottua
7. Juni 2023 - 7.00

Auch auf die Gefahr hin, als Verschwörungstheoretiker eingestuft zu werden, möchte ich auf eine Kontinuitätswahrscheinlichkeit hinweisen. Die nationalsozialistische rassenhygienische Sterilisations- und Euthanasiepolitik, die ab 1933 von den Nazis vor der Weltöffentlichkeit als notwendend notwendig propagiert wurde, wurde vom päpstlichen "Luxemburger Wort" begeistert begrüsst und bejaht. Diese ausmerzende Bevölkerungspolitik betraf fast ausschließlich die "minderwertigen, gemeinschaftsfremden Asozialen". Tabuisierte Vergangenheit - ungebrochene Tradition? MfG Robert Hottua