GroßbritannienIn einer Woche nehmen die Briten ihren Hut – doch erst einmal bleibt vieles beim Alten

Großbritannien / In einer Woche nehmen die Briten ihren Hut – doch erst einmal bleibt vieles beim Alten
Der Anti-Brexit-Aktivist Steve Bray besucht das Europaparlament: Die Briten überweisen erst einmal weiter Geld nach Brüssel, mitreden können sie ab dem 1. Februar nicht mehr Foto: AFP/Kenzo Tribouillard

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In einer Woche ist es so weit. Endlich, werden viele denken, wenn auch mit Wehmut. Am kommenden Freitag, dem 31. Januar tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus, der Brexit ist dann besiegelt – und fast alles bleibt erst einmal so, wie es ist. Außer dass der nächste Countdown läuft.

Am Mittwochabend hat das britische Parlament das Austrittsgesetz von Premier Boris Johnson endgültig beschlossen. „Jetzt können wir die EU am 31. Januar verlassen und als ein Vereinigtes Königreich nach vorne blicken“, sagte Premierminister Boris Johnson. „Manchmal fühlte es sich an, als würden wir die Brexit-Endlinie nie überschreiten, aber wir haben es getan.“ Das Ding ist jetzt durch. Sagt Boris.

Das Ding ist noch lange nicht durch, sagen alle anderen. In der Tat beginnen die wirklichen Verhandlungen mit der EU erst nach dem Austritt und mit dem Beginn einer Übergangsphase am 1. Februar. In dieser müssen London und Brüssel ihre künftigen Beziehungen regeln, das heißt: ein Handelsabkommen vereinbaren.

Abgeschlossen ist die Übergangsphase frühestens Ende 2020, bis zum 1. Juli muss Johnson eigentlich mitteilen, ob er mehr Zeit braucht, ein oder zwei Jahre. Bereits jetzt schließt Johnson das aus, der Premier will Medienberichten zufolge sogar ein Gesetz einbringen, das eine Verlängerung ausschließt. In Brüssel glaubt indes niemand, dass es möglich ist, die künftigen Beziehungen in elf Monaten auszuverhandeln und zu ratifizieren. Für das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada wurde fünf Jahre verhandelt, bis 2014 ein erster Text vorlag. Seit September 2017 findet es Anwendung.

Suche nach Copperfield

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich angesichts der knappen Zeit, die nach dem britischen EU-Austritt für die Aushandlung eines Freihandelsabkommens bleibt, bereits besorgt gezeigt. „Wir müssen nicht nur ein Freihandelsabkommen schließen, sondern auch über zahlreiche andere Themen sprechen“, sagte von der Leyen der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos. Auch andere denken, sich mit einem Gesetz gegen eine Verlängerung die Tür selber vor der Nase zuzuschlagen, sei nicht die beste Strategie. „Wenn man seine Optionen ohne Not begrenzt, indem man Türen verrammelt, hat man wohl besser einen David Copperfield im Raum, um nötigenfalls einen Ausweg zu finden“, sagte ein Diplomat der Nachrichtenagentur DPA.

Doch „Get Brexit Done“, der Wahlkampfslogan von Johnsons Tories, darf nicht aufgeweicht werden. Vor allem jetzt nicht, da viele Briten denken werden, der Brexit sei vollzogen, aber alles erst einmal so bleibt, wie es ist. Schlimmer noch: Das Vereinigte Königreich muss in der Übergangsphase EU-Regeln und -Gesetze befolgen und in den europäischen Haushalt einzahlen, darf aber nicht mehr mitreden. Hinzu kommt eine neue Bloomberg-Analyse, der zufolge der Brexit mehr kostet, als das Vereinigte Königreich insgesamt in den EU-Haushalt eingezahlt hat – in 47 Jahren Mitgliedschaft. Seit 1973 hat London demnach inflationsbereinigt 215 Milliarden nach Brüssel überwiesen. Bei einem wirtschaftlichen Schaden durch den Brexit, der sich schon jetzt auf annähernd 130 Milliarden Pfund belaufe und bis Ende des Jahres 203 Milliarden Pfund betragen soll.

Der Druck, ein Verhandlungsergebnis zu erreichen, scheint bei den Briten zu liegen. Jedoch schien er seit dem Referendum Mitte 2016 bei den Briten zu liegen. Doch am Ende war es die Europäische Union, die nachgegeben hat: Fristen wurden verlängert, der bereits mit Johnsons Vorgängerin Theresa May ausgehandelte Deal – vorschnell von EU-Seite mit dem Prädikat „nicht mehr verhandelbar“ versehen – wieder aufgeschnürt. Alles wegen der – von britischer Seite auch unverhohlen geäußerten – Drohung eines harten Brexit und der mitschwingenden wirtschaftlichen Schreckgespenster wie den Waren- und Dienstleistungsaustausch lähmende Zölle. Eine Drohung, die auch bei den im Februar einsetzenden Gesprächsrunden zwischen Brüssel und London mit im Raum sitzen wird. Denn kommt es zu keiner Einigung und zu keiner Verlängerung, folgt ein Austritt ohne Abkommen – und das wäre dann ein sogenannter harter Brexit.

Viele Einzelinteressen

Die Gespräche dürften spannend werden. Viele EU-Staaten verfolgen auch wirtschaftliche Einzelinteressen gegenüber Großbritannien. Bei den Verhandlungen um das Austrittsabkommen blieben die EU27 geschlossen. Ob sie weiter an einem Strang ziehen, wenn es ums Eingemachte geht, bleibt abzuwarten. London wird – wie bereits zuvor – wohl alles tun, damit das nicht der Fall ist.

Was die Briten wollen, ist alles andere als klar. Bei einer künftigen Zollfreiheit aber müssten sie die Wettbewerbsregeln Brüssels einhalten und wären damit weiter an die EU gebunden. Die Briten müssten sich zum Beispiel weiter an bestehende Umwelt- und Sozialstandards halten. Es könne nicht sein, heißt es in Brüssel, dass die Briten mit niedrigeren Standards günstiger produzieren und ihre Waren dann zollfrei in die EU exportieren.

Doch Standards der EU, das wäre nicht der von der EU-Gängelung entfesselte Brexit, wie ihn die Tories versprochen haben. Hinzu kommt, dass Johnson möglichst rasch ein Handelsabkommen mit den USA abschließen will. Eine enge Bindung an die EU wäre dann kaum mehr möglich. Jedoch ist in den USA Wahljahr, und ein anderer Präsident als Donald Trump, der ein Brexit-Verfechter mit Leib und Seele ist, könnte London das Leben in Bezug auf ein Handelsabkommen schwerer machen.

Nur eines ist sicher

Einigermaßen Verlässliches birgt Johnsons Austrittsabkommen eigentlich nur für Irland. Grenzkontrollen zwischen der Republik im Süden und der britischen Provinz Nordirland sind erst einmal vom Tisch. Johnsons Abkommen zufolge bleibt Nordirland im europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion der EU. Waren werden demnach in den Häfen und Flughäfen Nordirlands überprüft, da die Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland verlaufen wird. Enden die Verhandlungen zwischen London und Brüssel in der Übergangsphase ergebnislos, kommt es zwar zu einem harten Brexit, der allerdings nur für Großbritannien gelten wird. Nordirland hingegen wird die kommenden fünf Jahre in Binnenmarkt und Zollunion der EU verbleiben. Danach entscheidet das nordirische Parlament selber, ob das so bleiben soll oder nicht.

Am kommenden Freitag, um Mitternacht, wird nur eines sicher sein: Die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs ist dann Geschichte. Ob das Vereinigte Königreich infolge des Brexit selber einmal Geschichte sein wird, daran arbeiten zumindest die Schotten, die ein neues Unabhängigkeitsreferendum lieber heute als morgen hätten. In Nordirland verlieren die Unionisten, die weiter eine enge Bindung an London und an die britische Krone wollen, seit Jahren an Unterstützung. Seit dem Brexit tun sie dies verstärkt und wer heutzutage von einem wiedervereinigten Irland spricht, wird nicht mehr gleich für verrückt erklärt.

Doch Johnsons Tories sind Meister der Nebelkerzen. Folglich wurde zum Austritt aus der EU das Läuten der „Big Ben“-Glocke am Morgen des 1. Februar gefordert. Wie damals, hieß es von den Brexiteers, als die Nation den Sieg der Alliierten über Nazideutschland feierte. Da das Vorhaben eine halbe Million Pfund verschlungen hätte, waren die Diskussionen darüber mindestens lebhaft. Was den Tories entgegenkommt. Besser die Leute reden über eine Glocke als darüber, dass der Brexit noch so bald nicht durch ist.

Rudi
24. Januar 2020 - 14.09

Ich wünsche ihnen ‚good riddance‘.