KaukasusIn Armenien geht die Angst um nach Aserbaidschans Angriffen

Kaukasus / In Armenien geht die Angst um nach Aserbaidschans Angriffen
„Diene deinem Mutterland“ steht auf dem Schild in der armenischen Stadt Vardenis nahe dem Sewan-See Foto: AFP/Karen Minasyan

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Am Dienstag hat Aserbaidschan seinen Nachbarn Armenien angegriffen. Beide Staaten sind verfeindet, kriegerische Auseinandersetzungen nichts Neues. Doch dieses Mal ist alles anders. Es geht nicht um Bergkarabach – die Angriffe zielten auf armenisches Kernland.

Das Video ist so entsetzlich, dass es auch nach mehr als sechs Monaten voller grauenhafter Bilder von dem Krieg in der Ukraine schockiert. Trotzdem verbreiten Aserbaidschaner es auf dem Messengerdienst Telegram. Der mit einem Handy aufgenommene Film zeigt eine tote armenische Soldatin, ihr nackter Körper ist verschmiert. Die Frau hat nur noch ein Auge, in die andere Augenhöhle haben ihre Peiniger einen Stein gedrückt. Aus ihrem Mund ragt ein Finger, den man ihr abgeschnitten und zwischen die Zähne gequetscht hat. Auch ihre anderen Finger wurden abgetrennt. In dem kurzen Clip sind weitere Leichen von armenischen Soldaten zu sehen. Den aserbaidschanischen Soldaten hört man lachen, während er über die toten Soldaten herumtrampelt.

Es ist wieder Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die Bilder des Handyvideos zeigen einen armenischen Gefechtsstand, den Aserbaidschan in den vergangenen Tagen erobert hat. Armenien gibt die Zahl der getöteten Soldaten in den eigenen Reihen mittlerweile mit 135 an. Auf aserbaidschanischer Seite war zuletzt von 71 Toten die Rede. Am Donnerstag wurde wohl eine Waffenruhe vereinbart. Seitdem scheint die Lage verhältnismäßig ruhig zu sein. Doch ist das eine Ruhe, der niemand in Armenien traut.

Die verfeindeten Nachbarn haben sich bereits in den 1990er Jahren militärisch bekämpft und zuletzt im Sechswochenkrieg vom Herbst 2020, der mit einer bitteren Niederlage für die Armenier endete. Immer ging es um die umstrittene Region Bergkarabach, in der vor allem Armenier leben, die aber in Aserbaidschan liegt und die beide Ex-Sowjetrepubliken für sich beanspruchen.

Doch ist dieses Mal alles anders. Jetzt greift das autokratische Aserbaidschan das demokratische Armenien seit Dienstag direkt in seinem Kernland an. Granaten und Raketen folgen unter anderem auf die Grenzstädte Goris und Jermuk. Die Aserbaidschaner sollen bis zu acht Kilometer auf armenisches Staatsgebiet vorgerückt sein.

Gas-„Partner“ der EU

In Armenien geht derweil die Angst vor noch Schlimmerem um und es kursieren bereits Gerüchte von aserbaidschanischen Soldaten, die bis zum Sewan-See, der Lebensader Armeniens, vorgedrungen seien. Und solche, dass Aserbaidschan von seiner Exklave Nachitschewan aus und zusammen mit seiner Schutzmacht Türkei die armenische Hauptstadt Jerewan angreifen könnte.

Viele Beobachter gehen davon aus, dass die autoritäre Führung der öl- und gasreichen Südkaukasus-Republik ausnutzte, dass Armeniens Schutzmacht Russland derzeit mit dem Krieg gegen die Ukraine beschäftigt ist. Ohne die Rückendeckung aus Ankara hätte Baku diesen Schritt aber kaum gehen können. Bereits im Herbst 2020 stand die Türkei ihrem Verbündeten Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien mit Rat und Tat zur Seite.

Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev verteidigte das Vorgehen in einer Rede bei einem Treffen von Staatschefs in Usbekistan, darunter Kremlchef Wladimir Putin. Zugleich bekräftigte er das Ziel eines Friedensvertrags mit dem Nachbarn Armenien – „ohne Vorbedingungen“. Was das heißen soll, bleibt unklar. Bekannt ist aber, dass Aserbaidschan und die Türkei 2020 nicht alle ihre Ziele erreicht haben. Sie wollen ihre Länder weiterhin über einen Landkorridor miteinander verbinden. Der würde Armeniens südliche Provinz vom Rest des Landes abtrennen, auch die armenische Grenze im Süden zu Iran wäre dadurch gefährdet.

In ihrem Bestreben, infolge des Ukraine-Krieges unabhängiger von russischen Gaslieferungen zu werden, hat die Europäische Union im Frühsommer neue Gaslieferverträge mit Aserbaidschan geschlossen. Künftig soll doppelt so viel Gas aus Aserbaidschan in die EU fließen wie zuvor. EU-Kommissionspräsidentin ließ sich aus dem Grund Mitte Juli in Baku von Alijew empfangen und sprach vom einem „vertrauenswürdigen Partner“ – keine zwei Monate später greift dieser „Partner“ seinen demokratischen Nachbarn an. 

Weitere Verschärfung

Der Konflikt an der Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgisistan verschärft sich weiter. Beide Seiten warfen sich am Freitag gegenseitig vor, mit schweren Waffen anzugreifen. Der kirgisische Grenzschutz erklärte, tadschikische Sicherheitskräfte hätten das Feuer eröffnet. Es sei entlang der gesamten Grenze zu Zusammenstößen gekommen. Die tadschikische Seite setze dabei auch Panzer ein. Tadschikistan beschuldigte kirgisische Kräfte im Gegenzug, einen tadschikischen Grenzposten und sieben Dörfer mit schweren Waffen angegriffen zu haben.