StandpunktImpfnationalisten sind nicht immun

Standpunkt / Impfnationalisten sind nicht immun
 Foto: AFP/Atta Kenare

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Obwohl die Massenimpfungen im Westen in Schwung kommen, ist das Ende der Covid-19-Pandemie noch nicht in Sicht. Die Schuld dafür können sich die Vereinigten Staaten und andere reiche Länder nur selbst geben. 

Spätestens seit Anfang Sommer 2020 ist klar, dass Covid-19 trotz effektiver Impfstoffe erst dann gestoppt werden kann, wenn die Menschen überall Herdenimmunität erreicht haben – also wenn der Bevölkerungsanteil, der noch infiziert werden kann, so klein ist, dass die Seuche sich nicht mehr verbreitet.

Dabei reicht es nicht, wenn nur einzelne Länder an diesen Punkt kommen. Solange das Virus in anderen Teilen der Welt immer noch zirkuliert, werden weiterhin zufällige Mutationen auftreten. Einige werden für das Virus unvorteilhaft sein, aber manche werden sich als noch ansteckender oder tödlicher erweisen. Auch dies wissen wir bereits.

Seit Dezember wurden drei hochinfektiöse Varianten des SARS-CoV-2-Virus bekannt. Die britische Variante B.1.1.7 mit ihrer erheblich höheren Infektionsrate (und möglicherweise höheren Tödlichkeit) breitet sich in den USA und Europa bereits schnell aus. Die südafrikanische Variante B.1.351 ist vielleicht noch ansteckender, und die brasilianische Sorte P.1 könnte die gefährlichste von allen sein. Selbst wenn Großbritannien Herdenimmunität erreicht (was bei der aktuellen Impfgeschwindigkeit wahrscheinlich ist), bedeutet das Auftreten neuer Mutationen, dass die Briten dann noch nicht in Sicherheit sind. Schottet sich das Königreich nicht völlig vom Rest der Welt ab (was letztlich unmöglich ist), werden Auslandsreisende neue Varianten zurückbringen, und einige von diesen könnten den Schutz, den die aktuellen Impfstoffe bieten, umgehen.

Besonders der Typ P.1 ist besorgniserregend: Er trat im brasilianischen Manaus auf, wo bereits im vergangenen Oktober eine Infektionsrate von fast 80% herrschte, also mehr als die 60-70%, die laut Schätzungen von Wissenschaftlern für Herdenimmunität gegen Covid-19 ausreichen soll. Aber da mehr Infektionen mehr Mutationen ermöglichen, könnte die Herdenimmunität nicht ausreichen. In der Tat deutet die neue Infektionswelle mit P.1 in Manaus darauf hin, dass die Immunität gegen das ursprüngliche Virus nicht unbedingt auch gegen eine neue Variante wirkt. Natürlich können die Wissenschaftler die Impfstoffe darauf umprogrammieren, dass sie gegen neu entdeckte Mutation wirksam sind. Dies ist einer der Vorteile der mRNA-Technologie, die hinter den Seren von Moderna und Pfizer-Biontech steht.

Greift aber eine Variante auf ein Land über und zwingt das wirtschaftliche und soziale Leben dort zurück in den Lockdown, ist diese Flexibilität nur ein schwacher Trost. Sobald dies geschieht, muss sich die gesamte Bevölkerung wieder für Auffrischimpfungen in die Schlange stellen. Dieses Endlosszenario kann verhindert werden, wenn der Rest der Welt schnell geimpft wird. So können wir die Verbreitung und damit auch die Mutationsfähigkeit des Virus zum Stillstand bringen. Momentan aber scheint eine weltweite Impfung unmöglich zu sein, da für die Entwicklungsländer nicht genug Dosen bereitstehen. Aber selbst, wenn wir die zwei Milliarden Dosen hätten bereitstellen können, die das Covax-Programm der Weltgesundheitsorganisation benötigt, wäre es immer noch sehr schwierig gewesen, in abgelegenen Teilen Afrikas, Asiens und des Nahen Ostens flächendeckend zu impfen, da es dort an Transportnetzwerken und grundlegender Gesundheitsinfrastruktur mangelt.

Mit dem neuen Impfstoff von Johnson & Johnson, der mit einer Dosis auskommt und die Kältelogistik der mRNA-Seren nicht benötigt, könnte dies möglich werden. Leider steht dem aber der Impfstoffnationalismus im Weg. Wenn chinesische und russische Impfstoffe auf den Markt kommen, könnten wir eventuell genug herstellen, um die ganze Welt zu versorgen. Woran es uns aber mangelt, ist internationale Zusammenarbeit. Um die Pandemie zu beenden, müssen wir die globale Bereitstellung von Impfstoffen koordinieren. So wäre es klug, die effektivsten Impfstoffe in Gebieten einzusetzen, in denen sich das Virus am schnellsten verbreitet. Ein zusätzliches Hindernis ist aber, dass es über die chinesischen Impfstoffe momentan zu wenig verlässliche Daten gibt. Wir müssen damit rechnen, dass sie weniger effektiv als andere sind, und dass sich das Virus innerhalb der mit ihnen geimpften Bevölkerungsgruppen besser verbreiten kann.

Trotz der ernsten Lage kommen die westlichen Regierungen und Unternehmerverbände, statt zu versuchen, die Entwicklungsländer mit mehr Impfstoffen zu versorgen, immer noch auf dumme Gedanken. Der schlimmste dieser in den USA und der Europäischen Union verbreiteten Vorschläge ist ein „Impfreisepass“, der es Geimpften ermöglichen würde, international zu reisen. Natürlich gibt es gute Gründe dafür, Impfanreize zu geben, indem es geimpften Menschen erlaubt wird, Großveranstaltungen im Innenbereich zu besuchen. Ein Impfreisepass ist aber eine schlechte Idee, da so der Schwerpunkt auf die Möglichkeit internationaler Reisen gelegt wird – in einer Welt, in der das Virus aufgrund unserer Unfähigkeit, flächendeckend zu impfen, mutiert und sich weiter verbreitet. Impfpässe bieten keinen Schutz gegen neue Varianten wie P.1. Bei solchen Varianten reicht ein einziger Geschäftsreisender oder Tourist, um in einem Land, das vermeintlich Herdenimmunität erreicht hat, eine neue Epidemie auszulösen.

Solche Probleme werden weiter zunehmen, bis wir beginnen, die Pandemie als die globale Krise zu behandeln, die sie ist. In einer Welt ohne internationale Zusammenarbeit hat ein Land, das den größten Teil seiner Bevölkerung geimpft hat, nur eine einzige Verteidigungsmöglichkeit: auf die grundlegendsten Merkmale der Globalisierung zu verzichten. Zumindest müssten alle internationalen Reisenden verpflichtet werden, sich für zwei Wochen an einem gut überwachten Ort in Quarantäne zu begeben – unabhängig davon, ob sie In- oder Ausländer sind und ob sie gegen die bekannten Varianten geimpft sind oder nicht. Selbst diese Mindestmaßnahme würde eine enorme Abkehr von der Globalisierung bedeuten.

Aber wenn sich die westlichen Länder weiterhin nur auf die Impfung ihrer eigenen Bevölkerungen konzentrieren und die Notwendigkeit globaler Koordination ignorieren, müssen sie sich auf eine Zukunft ohne ungehindertes internationales Reisen einstellen.

*Daron Acemoglu ist Professor für Ökonomie am MIT und (gemeinsam mit James A. Robinson) Verfasser von Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty und The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty. (Aus dem Englischen von Harald Eckhoff. Copyright: Project Syndicate, 2021, www.project-syndicate.org.)

titi
19. März 2021 - 10.31

Und die westlichen Länder, die reichen Länder der Ersten Welt, werden sich einen Dreck um die Länder der Dritten Welt scheren. Sie haben sie früher zur Kolonialzeit gnadenlos ausgebeutet und sich auf ihre Kosten bereichert. Sie tragen eine erhebliche Schuld an dem desolaten Zustand unseres Planten: Umweltzerstörung, Flüchtlingsströme, Corona, das hängt alles zusammen und es ist auch keine Änderung in Sicht solange wir, auf unserem Zuckerplätzchen, nicht umdenken und bereit sind zu teilen. Leider hat uns das niemand beigebracht und vorgelebt. Empathie ist einfach nicht angesagt. Es erinnert irgendwie an die sich vordrängenden Politiker oder Vorstandsvorsizenden bei der Covid-Impfung. Und wie steht es um das Gewissen das jedem von uns angeboren ist und mit dessen Bissen wir früher oder später konfrontiert werden?