SerbienIm Schatten des Ukraine-Kriegs streben auf der sogenannten Balkanroute wieder mehr Menschen nach Westen

Serbien / Im Schatten des Ukraine-Kriegs streben auf der sogenannten Balkanroute wieder mehr Menschen nach Westen
Lagerkapazität völlig überfüllt: Neuankömmlinge warten auf ihre Registrierung im Aufnahmelager Subotica Foto: Thomas Roser

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Im Schatten des Ukraine-Kriegs sind auf der Balkanroute wieder mehr Menschen nach Westen unterwegs. Doch im Gegensatz zu den Flüchtlingen aus der Ukraine machen ihnen nicht nur Grenzzäune und skrupellose Schlepper, sondern auch das schwindende Verständnis für ihre Nöte zu schaffen.

Drückend flimmert die Mittagshitze über dem nordserbischen Palic-See. Drei junge Männer mit Rucksack sind auf dem staubigen Feldweg unterwegs, der an dem Westzipfel des Sees zu dem abgelegenen Aufnahmelager führt. Dutzende Neuankömmlinge lagern bereits hinter dem Gattertor im Schatten mächtiger Birken.

Eigentlich verfüge das Lager vor den Toren von Subotica über 180 Plätze, sei aber derzeit mit 400, ausschließlich männlichen Insassen völlig „überbelegt“, berichtet Lagerleiter Danijelo Kovacevic von Serbiens Flüchtlingskommissariat: „Unsere Lager in Südserbien sind halbleer. Wir versuchen, die Leute umzuleiten und umzulegen. Aber alle wollen nach Norden, in die Nähe der Grenze.“

Ob der verstärkte Andrang einen direkten Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg habe, wisse er nicht, sagt der Serbe: „Aber die Zahl der Migranten hat sich seit Beginn der Ukraine-Krise erhöht.“ Mehr Bewegung auf der Balkanroute vermeldet auch die EU-Grenzüberwachungsagentur Frontex. In den ersten sechs Monaten registrierte die EU-Behörde an der Westbalkanroute 55.321 illegale Grenzübertritte – gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg von 191 Prozent.

Von „sehr intensiven“ Bewegungen auf der Balkanroute spricht Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz von Asylsuchenden (APC) in Belgrad. Mehr als 50.000 Menschen vor allem aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, aber auch aus Indien und Afrika seien in diesem Jahr bereits durch das Land gezogen. Gleichzeitig steige auch die Zahl der sogenannten „Pushbacks“.

Allein an der serbisch-ungarischen Grenze würden derzeit täglich rund 600 der unerwünschten Grenzgänger abgeschoben: „Die Zäune spielen vor allem den Schleppern in die Hände, aber halten die Leute letztendlich nicht auf. Selbst an der ungarischen Grenze kommen sie früher oder später doch durch.“

Suche nach einem besseren Leben

Schon seit sieben Monaten hängt der 21-jährige Abdul in Serbien fest. „Viele, viele Male“ habe er die Grenze zu Ungarn zu überwinden versucht, berichtet der Student aus der syrischen Provinzstadt Al-Malikiyah in gebrochenem Englisch. „Manchmal, aber nicht immer“ sei er von den ungarischen Grenzern geschlagen worden. „Ich werde es wieder versuchen, immer wieder, bis ich nach Deutschland komme“, sagt der junge Mann mit dem müden Blick.

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 gelangten auf der sich ständig ändernden Balkanroute nahezu eine Million Menschen vor allem aus Syrien nach Westen. Offiziell wurde der damals praktisch offene Flüchtlingskorridor von Griechenland nach Österreich von den Anrainerstaaten im Frühjahr 2016 geschlossen. Gänzlich abgeriegelt wurde die Balkanroute nie.

Er suche „ein besseres, freies Leben“ im Westen, erzählt der Afghane Amir. Von Rumänien aus habe er es in einem Schlepper-LKW einmal bis nach Budapest geschafft, so der Student aus Kabul: „Aber bei einer Kontrolle wurden wir geschnappt und nach Serbien abgeschoben.“ Er verfüge nicht mehr über „2.500 bis 3.000 Euro“, um die Passage durch Ungarn bezahlen zu können: „Alles, was ich hatte, habe ich den Leuten gegeben, die mich nach Europa brachten.“

Dass die Flüchtlingszahlen wieder steigen, hat nach Ansicht von Djurovic nicht nur mit den Folgen der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, sondern auch mit dem Ukraine-Krieg zu tun: „Die Flüchtlinge aus der Ukraine, aber auch die Probleme, die die Anrainerstaaten wegen des Krieges haben, lenken das Interesse von dem Geschehen auf der Balkanroute ab.“ Offensichtlich kontrolliere die Türkei ihre Grenzen „nicht mehr so stark“. Gleichzeitig mehrten sich die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland: „Die Flüchtlinge nutzen diesen Moment, um weiterzukommen.“

Während Djurovic in der gelockerten Grenzüberwachung der Türkei den Hauptgrund für die gestiegenen Flüchtlingszahlen wittert, hat Lagerleiter Kovacevic bei Gesprächen mit Neuankömmlingen den Eindruck, dass Griechenland die Transitflüchtlinge „leichter ziehen lässt“. Ob damit Platz für Ukraine-Flüchtlinge geschaffen werden solle, wisse er nicht: „Aber die Griechen halten die Leute nicht mehr so lange auf den Inseln fest.“

Danijelo Kovacevic, Leiter des Aufnahmelagers in Subotica: „Alle wollen nach Norden, in die Nähe der Grenze“
Danijelo Kovacevic, Leiter des Aufnahmelagers in Subotica: „Alle wollen nach Norden, in die Nähe der Grenze“ Foto: Thomas Roser

Gebrochene Beine und Bänderrisse

Seit Jahresbeginn konstatiert Kovacevic auf der Balkanroute erneut einen verstärkten Trend hin zur ungarischen Grenze. Den Grund dafür kenne er nicht, sagt er: „Aber die Leute wissen immer, wo es im Moment am aussichtsreichsten ist, über die Grenzen zu gelangen. Sie hören das von Landsleuten, denen die Passage geglückt ist. Und dann versuchen alle denselben Weg, egal ob die Route über Bosnien, Kroatien oder nun wieder über Ungarn führt.“

Die Nase des wimmernden Mannes ist blutverkrustet. Um seinen Knöchel und Wade ist ein dicker Verband gewickelt. Erst vor einer Woche seien sie nach Serbien gelangt, erzählt mit leiser Stimme sein neben ihm sitzender Vetter Saheel. Vor einem Jahr seien sie aus Kabul aufgebrochen. Nun hängen sie wegen der Bisse eines ungarischen Polizeihundes vorläufig fest. „Wenn mein Vetter wieder gesund ist, werden wir es wieder versuchen“, sagt Saheel.

Schon seit Wochen nur auf Krücken bewegt sich der bleiche Ahmed. Er habe sich beim Sprung vom Zaun den „Knöchel gebrochen“, sagt der Syrer aus Idlib. „Die ungarischen Polizisten fanden mich und ließen mich auf den Knien nach Serbien zurückkriechen. Sie filmten mich und machten Witze über mich.“

Die ungarischen Polizisten fanden mich und ließen mich auf den Knien nach Serbien zurückkriechen. Sie filmten mich und machten Witze über mich.

Ahmed, Flüchtling aus dem syrischen Idlib

Verletzungen durch Schläge wiesen die Rückkehrer von der Grenze seit einiger Zeit kaum mehr auf, sagt Kovacevic: „Meist verletzen sie sich bei den Sprüngen vom vier Meter hohen Zaun.“ Gebrochene Beine und Bänderrisse, aber auch vom Stacheldraht aufgerissene Arme seien die häufigsten Verletzungen, die die Grenzgänger erlitten, erzählt ein anderer Lager-Mitarbeiter: „Sie klettern mit Leitern auf die Zäune und springen, als wären sie Spiderman. Aber der Sockel des Zauns ist betoniert.“

Für die Flüchtlinge nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Westen: Eingang zum Aufnahmelager in Subotica
Für die Flüchtlinge nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Westen: Eingang zum Aufnahmelager in Subotica Foto: Thomas Roser

Schüsse und MG-Salven im Grenzwald

Nur das stetige Pumpen eines Tankwagens, der in Makova Sedmica eine Fäkaliengrube leert, übertönt in der Mittagshitze das Zirpen der Grillen. Sie habe „keinerlei Probleme mit den Migranten“, versichert die Obstverkäuferin in dem zu Subotica zählenden Dorf unweit der ungarischen Grenze: „Sie sind normale Leute. Sie fragen nach dem Weg oder kaufen etwas Obst, Zwiebeln und Gemüse.“ Doch alle Anwohner seien „erschrocken, als im Wald die Schießereien losgingen“: „Das waren Abrechnungen krimineller Gruppen. Woher haben die Leute ihre Waffen? Ich bin keine ängstliche Frau. Aber ich habe auch zwei Kinder. Und allein gehe ich in den Wald sicher nicht mehr rein.“

Schüsse und MG-Salven aus dem Grenzwald rissen die Bewohner des Weilers am 3. Juli in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf. Bei der blutigen Abrechnung konkurrierender Schlepperbanden wurde ein Afghane getötet, sieben Menschen zum Teil schwer verletzt, darunter ein 16-jähriges Mädchen. „Wegen der Migranten Tag und Nacht in Angst“, titelten hernach die Novosti.

Wütende Anwohner-Proteste ließen die nationalpopulistische Regierung in Belgrad nicht lange ruhen. Anti-Terror-Einheiten durchkämmten bei einer Großrazzia Mitte Juli die Wälder von Makica Sedmica. Die den Medien überlassenen Polizei-Videos dokumentierten, wie vier Dutzend aufgestöberter Rucksackträger eskortiert von schwerbewaffneten Einsatzkräften mit erhobenen Händen im Gänsemarsch aus dem Wald marschierten.

„Klare Unterschiede“ zwischen Flüchtlingen

Serbiens Innenminister Aleksandsar Vulin inspizierte persönlich, wie die verhinderten Grenzgänger mit gebeugten Häuptern auf dem Feld kniend auf ihren Abtransport warteten. Serbien sei „kein Parkplatz für Migranten“, und werde nicht zulassen, dass es zum „Ort von Banditen und Abschaum aus ganz Asien“ werde, so seine über die Medien verbreitete Botschaft.

Aber in der Öffentlichkeit wird der Eindruck erweckt, dass die Flüchtlinge das Problem seien. Dabei sind sie die ersten Opfer der Schlepperbanden.

Rados Djurovic, Direktor des Zentrums zum Schutz von Asylsuchenden (APC) in Belgrad

Die Schlepperbanden rekrutierten sich keineswegs nur aus ausländischen, sondern auch aus serbischen Kriminellen, sagt hingegen Djurovic: „Aber in der Öffentlichkeit wird der Eindruck erweckt, dass die Flüchtlinge das Problem seien. Dabei sind sie die ersten Opfer der Schlepperbanden.“ Einerseits würden Politiker versuchen, mit der Verteufelung der Migranten „politisch zu punkten“. Andererseits solle deren Kriminalisierung die Öffentlichkeit auf „noch mehr Zäune und Polizeikontrollen“ vorbereiten, um „die Migration an der Balkanroute abzubremsen und zu stoppen“.

Es würden in Europa „klare Unterschiede“ zwischen den Flüchtlingen von der Balkanroute und denen aus der Ukraine gemacht, konstatiert Djurovic. Zum einen sei das Verständnis für deren Nöte durch die intensive Berichterstattung merklich größer. Zum anderen würden die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine als „Europäer aus demselben Kulturraum, mit derselben Religion und demselben Aussehen“ wahrgenommen: „Sie genießen darum Priorität.“