Interview mit einer Auschwitz-Überlebenden„Ich habe den Gestank der Leichenberge und den Rauch der Krematorien noch heute in der Nase“

Interview mit einer Auschwitz-Überlebenden / „Ich habe den Gestank der Leichenberge und den Rauch der Krematorien noch heute in der Nase“
Blick auf das Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“ Foto: Robert Michael/zb/dpa

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Marianna Rog wurde unter ihrem Mädchennamen registriert. Sie heißt heute anders und ist immer noch traumatisiert. Dies ist erst ihr zweites Gespräch außerhalb der engsten Familie über Auschwitz. Rog will keine Fotos veröffentlicht sehen, denn sie fürchtet ihre Peiniger noch heute.

Tageblatt: Weshalb kamen Sie ins KZ Auschwitz-Birkenau?

Marianna Rog: Ich war eine politische Gefangene. Meine Eltern und meine beiden älteren Brüder waren im polnischen Widerstand aktiv, bei den Partisanen der „Heimatarmee“ (AK). Wir waren eine sehr politische Familie. Im Herbst 1941 zingelten die deutschen Besatzer das Haus meiner Eltern am Stadtrand ein und nahmen mich, meine 16-jährige Schwester und meine Mutter fest. Wir alle wurden ins Krakauer Gestapo-Gefängnis an der Montelupich-Straße abgeführt. Dort habe ich meine Mutter das letzte Mal gesehen. Auch ich wurde gefoltert. Dann brachten sie mich und meine Schwester ins Frauenlager des KZ Auschwitz-Birkenau.

Was erwartete Sie dort?

Wir kamen im Winter an. Es war sehr kalt und feucht. Wir bekamen nur leichte Häftlingskleider und Holzschuhe. Im Lager wütete die Tuberkulose und raffte viele dahin. Das Essen, das sie uns gaben, kann man nicht als Essen bezeichnen. Es bestand aus einer wässrigen Suppe, mit etwas Kartoffeln, aber ohne Gemüse. Dazu gab es etwas Brot, aber dieses schien aus Sand oder Sägemehl anstatt richtigem Mehl gebacken. Dabei hatten wir es noch gut, denn die Juden mussten oft Gras essen.

Hatten Sie Kontakt zu jüdischen Häftlingen?

Nein, das war strengstens verboten, wir durften nicht miteinander sprechen. Aber wir sahen sie von unserer Baracke in Birkenau aus.

Wurden Sie von Ihrer Schwester getrennt?

Nein, wir waren in derselben Baracke. Oft kam ich nur dank meiner Schwester zum Essen. Sie war drei Jahre älter als ich, schon fast 17, als wir ins KZ kamen, und sie war sehr kräftig. Sie wurde in ein spezielles Kommando eingeteilt, bekam eine Schaufel und musste Straßen bauen, aber auch Leichengruben ausheben. Wenn sie den Bottich mit der Suppe brachten, brachen oft Kämpfe darum aus. Meine Schwester aber war stark und eroberte oft für uns beide etwas.

Wurden auch Sie krank?

Ich war so schwach und ausgezehrt, dass ich einmal für eine Woche „aufs Revier“ kam, das heißt ins Krankenlager. Das war kein Spital, das kann man gar nicht vergleichen. Dort war es nur etwas besser als in der Baracke und die Kranken mussten nicht zur Arbeit gehen. Gleichzeitig konnte das Krankenlager schnell auch den Tod bedeuten. Viele dort hatten Tuberkulose und starben schnell dahin. Wer dort nicht den Tod fand, wurde anderswo erschossen. In Auschwitz-Birkenau konnte man sehr schnell einfach erschossen oder brutal geschlagen werden. Wenn man seine Gefangenennummer auf Deutsch nicht schnell genug aufsagen konnte, wurde man schrecklich geschlagen.

Sie waren erst 13 Jahre alt. Mussten auch Sie arbeiten?

Ich war noch ein Kind, aber ich wurde nicht wie ein Kind behandelt. Bei der Einweisung hieß es, ich könnte in die Mittelschule, stattdessen aber nahmen sie mich zur Arbeit in die Strickstube. Zum Glück hatte mir meine Mutter früher das Stricken beigebracht. So konnte ich nun in Auschwitz Socken und Handschuhe für die Wehrmacht herstellen. Diese wurden den Soldaten an die Ostfront geliefert. Für diese Arbeit erhielt ich ein halbes Stück mehr Brot. Dieses hat mir sehr geholfen, zu überleben. Die Arbeit in der Strickstube hatten mir zwei etwas ältere Geschwister, Lehrerinnen aus Poznan, verschafft. Wir freundeten uns im KZ an und deshalb bin ich nach dem Krieg hierhin gezogen. Von der Strickstube aus sah man die Leichenberge. Ich habe den Gestank der Leichen und den Rauch der Krematorien noch heute in der Nase.

Mit vielen Kindern in Auschwitz wurden medizinische Experimente gemacht, unter anderem von Mengele …

Die Deutschen machten mit uns, was sie wollten. Es gab auch solche Mädchen, die als Geliebte geholt wurden. Sie machten mit, weil sie hofften, dass sie sich dadurch retten können. Andere wurden für medizinische Experimente geholt. Wir alle waren völlig rechtlos. Mich und meine Schwester haben sie zum Glück weder für das eine noch das andere abgeholt.

Wurden auch Sie am 27. Januar vor 75 Jahren aus dem KZ befreit?

Nein. Wir sollten ins KZ Buchenwald evakuiert werden. Auf diesem Todesmarsch starben viele. Wer nicht weitergehen konnte, wurde von den Deutschen erschossen. Mit meiner Schwester freundeten wir uns gegen Ende des Marsches mit zwei Jüdinnen an, denen es gelungen war, unentdeckt zu bleiben. Flugzeuge beschossen unseren Zug und schließlich blieben wir abends auf einer Wiese zurück. Das war in Bayern. Niemand wollte uns Unterschlupf gewähren. Die Deutschen verriegelten die Häuser; sie hatten Angst vor uns. Am nächsten Tag kamen zum Glück Amerikaner, begrüßten uns und gaben uns zu Essen, selbst Schokolade verteilten sie.

Verfolgt Sie Auschwitz bis heute oder versuchen Sie, zu vergessen?

Wie kann ich meine Familie vergessen?! Mein Vater ist in Auschwitz ermordet worden, meine Mutter im Gestapo-Gefängnis in Krakau, meine Schwester hat das KZ überlebt, aber sie war danach sehr schwach und ist auch schon lange tot. Meine Brüder und die älteste Schwester haben wir zusammen mit meinem Sohn jahrzehntelang mithilfe des Roten Kreuzes gesucht, doch sie bleiben verschwunden. Heute denke ich sehr selten ans Lager, meist weine ich einfach.

Dieses Gespräch hat in mir schlimme Erinnerungen zurückgerufen. Niemand hat mich zu diesem Gedenktag eingeladen, ich bin bald 92 Jahre alt und kann eh nicht mehr so weit reisen. Aber ich würde dieses KZ gerne noch einmal sehen. Kommen Sie mich besuchen, wenn Sie aus Birkenau zurück sind! Erzählen Sie mir dann, wie es dort heute aussieht.

 Foto: AP/Czarek Sokolowski