Editorial„Ich cancele euch aus meiner Welt“: Adèle Haenel spielt nicht mehr mit

Editorial / „Ich cancele euch aus meiner Welt“: Adèle Haenel spielt nicht mehr mit
Adèle Haenel kehrt der Filmbranche den Rücken

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Eine knappe Woche vor dem Beginn der Filmfestspiele in Cannes wollte die französische Wochenzeitung Télérama wissen, was eigentlich aus Adèle Haenel geworden ist. Haenel, eine der talentiertesten französischen Schauspielerinnen, die 2019 mit mehreren Filmen, darunter Céline Sciammas feministisches Historiendrama „Portrait de la jeune fille en feu“, in Cannes vertreten war, hatte vor drei Jahren für einen Eklat gesorgt, weil sie die César-Zeremonie verließ, nachdem der von sechs Frauen wegen sexueller Übergriffe angeklagte Roman Polanski dort mit dem Preis des besten Regisseurs gewürdigt wurde.

Seitdem war es still um die Schauspielerin geworden, die in den vergangenen Monaten aktiv gegen Macrons Ruhestandsreform protestiert hatte. In einem Brief, den sie an die Redaktion schrieb, verkündet sie nun ihren definitiven Rückzug aus der Kinobranche und verurteilt die „Nachsicht“ der Filmindustrie gegenüber Sexualverbrechern und ihre „Kollaboration mit der tödlichen, rassistischen und umweltverseuchenden Weltordnung“ eines spätkapitalistischen Systems, in dem es „kurzfristig keine lebbare Zukunft für niemanden gibt“.

Das Vorhaben, das Kino angesichts der Weltnotlage(n) leger zu halten, sei nichts anderes als eine Manipulation: Man gedenke, dem Publikum das Bürgertum als so selbstverständlich wie „das Blau des Himmels“ zu verkaufen, starke Frauenfiguren werden höchstens homöopathisch zwecks kapitalistischer Ausbeutung weiblicher Schicksale in Filmen eingestreut.

Fast noch aussagekräftiger als Haenels Stellungnahme, die in Ausdruck, Vehemenz und Kompromisslosigkeit an die linksradikalen feministischen Freiheitskämpferinnen aus Antoine Volodines Büchern erinnert, sind die diversen Reaktionen, die Haenels Abgesang auf das Kino bislang provoziert hat, und die in ihrem entrüsteten Zynismus nicht nur genau die Misogynie bestätigen, die Haenel anprangert, sondern von einem gesellschaftlichen Unbehagen zeugen, das, getreu eines heute trendigen „Please shoot the messenger“-Prinzips, auf die Anklägerin projiziert wird.

Der Vorwurf, ihr Engagement wäre bloß eine heuchlerische Salon-Revolte, erinnert dabei ein bisschen an all diejenigen, die dem rezent konvertierten Veganer vorwerfen, er trage noch die vom Großvater geerbte Wildlederjacke, während sie genüsslich ihr Schweinenackensteak in die Fleischsauce tunken.

Anderswo wird Haenels Extremismus angeprangert, ihr feministisches Engagement mit dem Diskurs von Maoisten verglichen und der Geschlechterkrieg (ein Unwort, das leider immer treffender wird) mit totalitären Regimen assoziiert. Man vergisst hier aber willentlich, dass Haenel aus der Sicht der Opfer spricht – und pro Weinstein unzählige Vergewaltiger auf freiem Fuß bleiben.

Klar ist Haenels Aussage übertrieben: Immerhin gibt es Autor*innenkino, in dem feministische Stimmen nicht bloß eine Quote erfüllen, auch wenn speziell im Kino oft eine Balance zwischen Engagement und Entertainment verlangt wird, die Sichtbarkeit solcher Filme vom kommerziellen Vertrieb oder Festivalpräsenz abhängig ist – und die Entscheidungskraft an jenen Stellen noch viel zu oft in den Händen des Patriarchats liegt.

Auch wenn es etwas einfach wirkt, die Filmwelt pauschal zu verurteilen, streut Haenels Brief Salz in die klaffende Wunde existierender struktureller Probleme, denen die Branche dringend entgegenwirken muss – man erinnere sich an das chauvinistische Titelbild der Zeitschrift Le film français, deren Gestalter die Rettung des französischen Kinos offenbar ohne Frauen (und Ausländer) imaginierten; an die erstaunlich wenig überraschten Reaktionen auf die Anklagen gegen Depardieu oder die Zwiespältigkeit, mit der auf mehrere Vorfälle, darunter die sexueller Übergriffe während des Drehs von Catherine Corsinis neuem in Cannes vorgestellten Film „Le retour“, reagiert wurde. Der Industrie den Rücken zu kehren, mag keine Lösung für alle sein – aber vielleicht bewegt Haenels Entscheidung ja Filmemacherinnen dazu, die Branche von innen zu sabotieren.

stefanie.guenther68
21. Mai 2023 - 22.03

Ein Artikel, der mir aus dem Herzen spricht. Adèle Haenel bringt es doch auf den Punkt. Und sie ist unglaublich mutig, dass sie all dies tut und nicht verstummt oder verzweifelt, anlässlich der massiven und völlig unsachlichen Angriffe, die sie derzeit z.B. via Social Media erhält. Ich gehe übrigens schon seit Jahren kaum noch ins Kino. Der Grund: In vielen Filmen ist Gewalt gegen Frauen überpräsent. Es gibt viele Sexszenen, mit vorwiegend nackten Frauen, viele dumme sexistische Sprüche und queere Menschen wie ich sind so gut wie unsichtbar.

Grober J-P.
15. Mai 2023 - 13.19

Hat sie aufgegeben, warum?