„Ich bin nicht Louis XIV“ – Christian Mosar über seine Visionen als Künstlerischer Leiter von Esch 2022

„Ich bin nicht Louis XIV“ – Christian Mosar über seine Visionen als Künstlerischer Leiter von Esch 2022

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Nachdem die Verträge von Andreas Wagner und Janina Strötgen nicht verlängert wurden und das Projekt Esch 2022 aufgrund interner Streitereien und Neubesetzungsprozessen fast ein Jahr lang kaum voranschritt, hat die Kulturhauptstadt mit dem Duo Braun/Mosar neue Gesichter gefunden. Wir haben uns mit dem neuen Künstlerischen Leiter Christian Mosar unterhalten.

Von Luc Laboulle und Jeff Schinker

Lesen Sie zum Thema auch unseren Kommentar „Bereit für die zweite Staffel“ und den „Interviewsteckbrief der etwas ehrlicheren Art“ mit Christian Mosar.

Tageblatt: Was hat Sie dazu veranlagt, sich nach so vielen Jahren der Unabhängigkeit in das Wespennest Esch 2022 zu begeben?

Christian Mosar: Die Motivation, mich in dieses, wie Sie sagen, „Wespennest“ zu setzen, kommt daher, dass es sich um eine einmalige Gelegenheit handelt. Als der Posten im Juni ausgeschrieben wurde, habe ich mich fast sofort gemeldet. Ich dachte mir: So eine Gelegenheit wird sich in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht mehr ergeben. Und wenn ich nochmal zehn Jahre warte, redet sowieso niemand mehr mit mir. (lacht)

Am 20. November fand die Anhörung vor der EU-Kommission in Brüssel statt. Waren Sie dabei, und falls ja, wie lief es?

Weil mein Arbeitsvertrag offiziell erst am 1. Dezember in Kraft tritt, war ich als externer Berater dabei. Es waren Vertreter der EU-Kommission, des Parlaments und der Europäischen Kulturhauptstadt anwesend. Sie haben uns ihre volle Unterstützung zugesagt. Doch sie haben uns auch darauf hingewiesen, dass wir bei den Projekten aus dem Bidbook die europäische Dimension nie aus den Augen verlieren dürfen.

Eine weitere wichtige Empfehlung war, dass wir ein gutes Netzwerk mit den beteiligten Gemeinden und dem Gemeindesyndikat Pro-Sud aufbauen.

Wie steht es um die Empfehlungen, welche bereits vor einem Jahr von der Jury ausgesprochen wurden? Diese stellen ja Aufbesserungen dar, die es zu berücksichtigen gilt.

Darauf wurde bisher nicht gepocht. Das wird noch kommen. Aber die wissen auch, das Nancy Braun erst vor ein paar Wochen den Posten der Generaldirektorin angetreten hat.

Das Team für Esch 2022 steht noch nicht. Das Bidbook hingegen schon. Ist es eine dankbare oder eine problematische Ausgangslage, in die konzeptuellen Fußstapfen Ihrer Vorgänger zu treten?

Das Bidbook ist nicht immer leicht zu verstehen. Es ist z.B. oft nicht sofort ersichtlich, welches Projekt welchem Kunstmedium angehört. Es ist folglich nicht leicht, in diese Fußstapfen zu treten. Aber es ist sehr beruhigend, das Bidbook zu haben. Das Bidbook ist ein prall gefülltes Dokument – teilweise vielleicht zu sehr. Es gibt 18 große Projekte, einige sind zudem in drei oder mehrere Unterprojekte unterteilt.

Interview-Steckbrief

Etwas salopp ausgedrückt könnte man sagen: Der 50-jährige Christian Mosar, seines Zeichens freiberufliches Mädchen für alles (was mit Kunst und Kultur zu tun hat), Partner, Vater zweier Kinder und Einwohner von Walferdingen war schon „mat de grousse (bloen) Hirsche pissen“: Bereits 2007 agierte er als Kurator beim Kulturjahr, 2009 als Kommissar des luxemburgischen Pavillons bei der Biennale in Venedig und 2010 betreute Mosar ebenfalls den Pavillon bei der Weltausstellung in Schanghai. Kann es dem Kunstkenner und Akademiker (Hautes Etudes en Histoire de l’art et en Arts plastiques) da überhaupt gelingen, wieder klein zu denken und eine gemeinsame Sprache mit dem Publikum in Esch zu finden?

„Ich mache seit 30 Jahren genau das. Ich habe die Pionierzeit in Luxemburg miterlebt, also den Kampf in den 90ern, bei dem es darum ging, Gegenwartskunst überhaupt irgendwem erklären zu dürfen. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Damals gab es sehr viele Menschen, die Kunst richtig ,Scheiße‘ fanden und das auch sehr laut sagten. Um es auszusprechen, kamen manche sogar extra ins Museum und machten ihrer Abneigung Luft. Diese Führungen bekam komischerweise immer ich. (lacht) Manchmal hat es keine drei Minuten gedauert, bis jemand sagte: ,Aber jetzt mal im Ernst, das kann doch jetzt nicht stimmen, dort hängt doch keine Kunst, das ist einfach ein Faden …‘

Ich habe in all der Zeit mit sehr unterschiedlichen Besuchern im Rahmen von Führungen, aber auch Ateliers gearbeitet, darunter waren Staatsbeamte, Kinder, beispielsweise auch Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Ich denke schon, dass ich dafür gerüstet bin, vielen unterschiedlichen Menschen Kultur näher zu bringen.“

Das soll aber auch so sein: Die Richtlinien für die Europäische Kulturhauptstadt sehen vor, dass in einem späteren Stadium das Bidbook nochmal gefiltert werden soll. Diese Richtlinie gilt wohl auch für Städte mit budgetären Schwierigkeiten – was hier in Luxemburg nicht der Fall ist. Nichtsdestotrotz muss abgewogen werden, was alles durchführbar ist.

Weiterhin findet man im Bidbook eine Reihe von Projekten, die den erwarteten Knalleffekt haben sollen. Ich habe aber mittlerweile den Eindruck, dass dies nicht länger von den europäischen Gemeinschaften erwartet wird. Aufgrund der aktuellen Krise, die Europa durchmacht, lautet die Frage heutzutage vielmehr: Wie könnt ihr, als Europäische Kulturhauptstadt, mit eurem Hintergrund, den europäischen Gedanken stärken? Was tragt ihr dazu bei, um einen Ausweg aus der Krise zu finden?

Sie haben von Filtern gesprochen. Wie konkret können und möchten Sie die Projekte des Bidbooks beibehalten – und was würden Sie ändern?

Das wird eine meiner ersten Aufgaben sein. Ich werde mit jedem der Partner, die im Bidbook erwähnt sind, reden, muss erörtern, was bereits getan wurde, welche Gespräche schon geführt wurden, ob es mündliche Absprachen gab, ob Künstler bereits mit ihrer Arbeit an Projekten begonnen haben. Nach dieser Bestandsaufnahme wissen wir mehr.
Ich muss hinzufügen: Im Bidbook sind viele Projekte mit 1,5 bis 2 Millionen budgetisiert, manchmal stößt man aber auch auf Projekte, die ein Budget von 5 bzw. 6 Millionen fordern. Das sind sehr große Geldsummen. Wenn sich unser Team vergrößert hat und wir einen Finanzdirektor gefunden haben, dann werden wir, zusammen mit Generaldirektorin Nancy Braun, solche Themen durchdiskutieren.

Das Bidbook ist eine gute Basis. Ich kann zu diesem Zeitpunkt kaum prozentual ausdrücken, wie viel davon durchgeführt wird. Aber so viel steht fest: Alles, was gut darin ist, wird umgesetzt.

Es gibt im Bidbook eine Reihe von Projekten, die das historische Bewusstsein wecken sollen – zentral sind hier der Tunnel in Lasauvage, der der großherzoglichen Familie im Zweiten Weltkrieg einen Fluchtweg bieten sollte, das KZ im französischen Thil und der Ceausescu-Besuch in Esch Anfang der 70er-Jahre. Solche Projekte vertrauen viel auf die Zusammenarbeit mit der Universität. Wie schätzen Sie die Wichtigkeit dieser Projekte ein?

Dieser Aspekt ist im Bidbook sehr gewichtig. Hier wird, wie Sie sagen, auch stets die Uni mit einbezogen. Es wird also wesentlich sein, die Uni schnellstmöglich zu kontaktieren. Beim Lesen des Bidbooks spürt man, dass mit der Uni bereits so einiges im Vorfeld geplant wurde. Hier gilt es, den Kontakt sofort aufzunehmen.

Viele Projekte drehen sich um den Zweiten Weltkrieg. Es geht aber auch oft um das Territorium wie beim oftmals vergessenen „Remix Nature“-Aspekt: Die Leute beschweren sich über Staus und mangelnde Parkplätze – Projekte des Bidbooks bieten ihnen die (Wieder-)Entdeckung eines natürlichen Terrains.

Im Rahmen dieser Aufarbeitung eines zum Teil geschichtlichen Raumes taucht dann der Ceausescu-Besuch auf. Auf persönlicher Ebene finde ich das Aufarbeiten dieses Besuchs eine weniger interessante Idee.

Weil dessen Besuch eine wenig angenehme Seite unserer Geschichte aufwirft?

Die Weltkrieg-Projekte verhandeln auch eine unterdrückte, dunkle Seite unserer Geschichtsschreibung. Aber weil wir mit Kaunas nicht eben eine rumänische Partnerstadt haben, muss man sich fragen, ob verschiedene Dinge nicht anders zentriert werden sollen. Ich verstehe durchaus die Absicht, die im Bidbook durchscheint. Andreas Wagner und Janina Strötgen wollten unerforschte Themen wieder ans Tageslicht bringen. Das mit dem Ceausescu-Besuch wusste ich beispielsweise zuvor nicht. Ich wusste nur, dass die Queen mal in Differdingen war. Die fand aber (verständlicherweise) keinen Platz im Bidbook. (grinst)

Ceausescu oder die Queen: Handelt es sich dabei um eine politische Entscheidung?

Man merkt, dass sich das Bidbook viel um die Zeit vor und nach dem Mauerfall dreht. Um die Konsequenzen, die Aufarbeitung des zweigeteilten Westens. Wir denken immer, die momentane Europakrise wäre das Symptom einer außergewöhnlichen Situation. Dabei vergessen wir, dass Europa in den 90ern schon mal eine solche Krise miterlebt hat. Wir müssen versuchen, das Thema Europa wieder verstärkt in das Remix-Thema einzubetten. Eventuell aus einer weniger historischen Perspektive. Und ohne die durchaus interessanten Projekte des Bidbooks fallen zu lassen.

Wegen des Umbaus der Verwaltungsstruktur bei Esch 2022 kam es bei verschiedenen Projekten zu Verzögerungen. Die Projekte im Bidbook unterliegen einer gewissen Verpflichtung, die zumindest mündlich besiegelt wurde. In dem Zusammenhang wurde auch schon die Frage nach Ausgleichszahlungen gestellt. Wissen Sie etwas davon?

Nein, davon ist mir nichts bekannt. Ich glaube nicht, dass schon Verträge unterzeichnet wurden. Ich fange erst am Samstag an. Das ist zu hypothetisch, deshalb kann ich nichts dazu sagen.

Was beabsichtigen Sie zu tun, um auf Künstler zuzugehen, die aufgrund der Esch-2022-Vorgeschichte dem Projekt gegenüber skeptisch geworden sind beziehungsweise abspringen möchten?

Das ist in der Tat eine reale Angst, die ich habe. Ich werde versuchen, nochmals Kontakt mit jedem Einzelnen aufzunehmen. Wenn ein Künstler mir sagt, er habe keine Lust mehr, mitzumachen, dann ist das sein gutes Recht. Die Entscheidung des Künstlers muss ich respektieren – ich bin ja nicht Louis XIV. Es wird Künstler geben, die enttäuscht sind und uns aus moralischen Gründen eine Absage erteilen werden. Das verstehe ich durchaus. Aber es wird auch diejenigen geben, die verunsichert sind, weil sie vielleicht schon mit der Arbeit am Projekt begonnen haben und die wir nun beruhigen können.

Mit Nancy Braun, Ihnen, einem Finanzdirektor und einem Direktionsassistenten wird das Team von Esch 2022 vier Mitarbeiter umfassen. Reicht das aus?

Nein, die große Herausforderung besteht darin, das Team in ganz kurzer Zeit stark zu vergrößern.

Wie sieht es mit dem geplanten „Appel à candidatures“ aus?

Auch daran werden wir sofort weiterarbeiten. Es gab zwar noch kein offizielles Treffen zwischen Nancy Braun und mir. Aber wir haben uns bereits getroffen und werden in unserer ersten offiziellen Versammlung diesen Aufruf ausarbeiten, textlich formulieren. Ich kann hierzu noch kein Datum preisgeben, aber es wird sehr bald sein.

Freuen Sie sich auf die Zusammenarbeit mit Nancy Braun?

Ich war überaus froh, als angekündigt wurde, dass Nancy Braun die Generaldirektorin sein würde. Wenn es Probleme gibt, gibt Nancy Braun dies sofort zu verstehen. Das spart sehr viel Zeit und Nerven. Aber wir brauchen halt jetzt noch Verstärkung.

Sie möchten sich für die europäische Idee einsetzen, so wie es in Brüssel auch empfohlen wurde. Soll dies in einer „Friede, Freude, Eierkuchen“-Optik sein, oder hat dieser Einsatz auch die Konnotation eines Kulturkampfes?

Der Kulturkampf, der findet statt, das kann man kaum verdrängen. Es geht darum, den Gedanken der Freiheit des EU-Bürgers zu bewahren und zu vermitteln, dass man diese nur gewährleisten kann, wenn man miteinander arbeitet und den anderen versteht. Dieser Gedanke wird einen zentralen Aspekt des Remix-Projekts darstellen müssen. Man findet diese Idee im Bidbook in der Form eines „Multilinguale“ getauften Kolloquiums – allerdings erscheint sie mir vielleicht nicht deutlich genug formuliert. Wir brauchen ein Projekt, das nicht nur verhandelt, dass wir hier viele Sprachen sprechen, sondern dass wir in einem konkret mehrsprachigen Raum leben. Dies darf aber nicht die Form eines akademischen Kolloquiums annehmen.

Wenn man bedenkt, wie heftig die Spannungen zwischen Ihren Vorgängern und den Lokalpolitikern waren, befürchten Sie nicht, dass sich solche Schemata wiederholen könnten?

Zumindest darauf habe ich eine sehr klare Antwort: Nein. Dafür bleibt einfach keine Zeit mehr.

Der Süden Luxemburgs und insbesondere Esch sind aus historischen Gründen stark politisiert. Wo würden Sie sich im politischen Spektrum positionieren?

Als Freiberufler hätte ich auf diese Frage nicht geantwortet, aber als Künstlerischer Leiter muss man das vielleicht. Ich würde mich nicht in der Mitte verordnen. Und auch nicht im rechten Spektrum. Ich bin nicht Mitglied einer Partei, aber ich bin auch nicht unpolitisch.

 

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