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Der Drang nach mehr Unabhängigkeit ist in der Europäischen Union Realität geworden. Woher kommen die Probleme? Welche Lösungen gibt es? Zwei Ansichten von Dhiraj Sabharwal und Eric Rings.

Von EU-Austritt über Separatismus bis hin zu Autonomiebewegungen: Der Drang nach mehr Unabhängigkeit ist in der Europäischen Union Realität geworden. Brexit, Schottland, Katalonien, Baskenland, Korsika, Wallonien/Flandern, Südtirol – die Liste der Unzufriedenen ist lang. Ab Sonntag rückt nun Italien stärker in den Fokus. Wie soll jedoch mit Unabhängigkeitsbestrebungen umgegangen werden? Woher kommen die Probleme? Welche Lösungen gibt es?

Die Journalisten Dhiraj Sabharwal und Eric Rings plädieren für zwei unterschiedliche Herangehensweisen: eine sozialere, solidarische EU mit weniger Macht für die Nationalstaaten versus eine EU der Regionen mit mehr Bürgernähe.

Solidarität statt Klein-Klein

Eigentlich sollte sich niemand darüber wundern, dass sich die Menschen in ihr regionales oder lokales Schneckenhaus zurückziehen wollen. Gerade die aus den USA importierte Finanzkrise entwickelte sich zu einer katastrophalen, globalen Wirtschaftskrise, die bei vielen den Glauben an internationale Kooperation schwinden ließ. Noch vor der TTIP- und CETA-Katastrophe konnte sich jeder davon überzeugen, wie wenig selbst ein EU-Mitgliedstaat wert ist, wenn er in finanzielle Nöte gerät. Spätestens das entwürdigende Griechenland-Bashing und die damit einhergehende Austeritätspolitik auf EU-Ebene ließen den Glauben an eine gleichberechtigte und im gegenseitigen Respekt gestaltete EU-Sozialpolitik platzen. Schuld daran waren konservative Politiker – nicht Rechtspopulisten oder -extreme – wie Wolfgang Schäuble, Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, José Manuel Barroso, Mariano Rajoy, aber auch liberale Sozis wie François Hollande u.v.m., die heute im Vergleich zu all den rechten Demagogen wie Unschuldslämmer wirken, dabei selbst am Erstarken des Nationalismus und Regionalismus schuld sind.

Man sollte jedoch aus dieser brandgefährlichen Politik nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Denn die aktuellen Autonomie-, Unabhängigkeits- und Anti-EU-Bewegungen stehen mit ihrer Solidaritätsfeindlichkeit zwar für Symptombekämpfung, die ihnen zugrunde liegende Ursachenanalyse ist aber falsch. Denn in Europa entstand aus einer von Konservativen herbeigeführten Wirtschaftskrise eine soziale Krise – nicht umgekehrt. Die hässliche Fratze der einseitigen, neoliberalen Wirtschaftsordnung wurde lediglich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise potenziert. Denn bereits vor dieser Zäsur gab es die von Sozialdemokraten (!) eingeführte „Agenda 2010“-Prekaritätspolitik, die Sozialabbau mit Hilfe der Genossen in der EU salonfähig machte. Es war nicht weniger als ein Bruch mit der sozialen Marktwirtschaft, die an erster Stelle dem Menschen, nicht dem Kapital zu dienen hat. Sozialdumping wird seitdem auf dem Rücken Osteuropas ausgetragen, während die Briten ohnehin seit Jahrzehnten feuchte Brexit-Träume in den Köpfen ihrer Bürger kultivieren.

All diese Beispiele zeigen, dass der Rückzug ins Identitäre den sozialen Kahlschlag nicht verhindert. Im Gegenteil: Es ist eben gerade eine von nationalen sowie regionalen Egoismen im Rat der EU bestimmte Politik, die sich nicht für ein sozialeres Europa einsetzt, sondern für heimische Wirtschaftsmodelle. Sozialrecht, Erhöhung der Mindestlöhne und Stärkung der Arbeitnehmerrechte spielen bei diesen oft eine Nebenrolle.

Es ist weniger die Internationalisierung von Politik, die Menschen heute zur vermeintlich sichereren Unabhängigkeit jenseits der EU oder zu mehr Autonomie ermutigt, sondern es sind vielmehr die mit Blick auf Sozialfragen verlogenen Politiker, die ausklammern, wie viel ihre Staaten vom Subsidiaritätsprinzip der EU profitiert haben. Sie stehen lieber für Lohnkürzungen, Reduzierungen der Tarifverbindungen, widerwärtige Arroganz („Pleitegriechen“) und mangelnden Mut (Reform der EU-Institutionen). All dies hat zum „désamour“ zwischen den Menschen, der EU und selbst ihren Nationalstaaten geführt. Politiker wie David Cameron oder Carles Puigdemont haben es verstanden, diese Emotionen zu instrumentalisieren.

Denn am Ende geht es allen Unabhängigkeits- und Autonomiebewegungen vor allem um eins: Wohlstand. Wer aber den Menschen vorgaukelt, der Rückzug ins Klein-Klein wäre ihre Rettung, verschweigt, dass nur der Kampf für eine solidarischere EU, in der eben nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht, soziale Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt ermöglicht.

Dhiraj Sabharwal, stv. Chefredakteur, Ressortleiter Auslandsredaktion, dsabharwal@tageblatt.lu

Klein-klein ganz groß

Aufsteigender Rechtspopulismus und vermehrte Autonomie- oder gar Unabhängigkeitsbestrebungen in einzelnen Regionen lassen aufhorchen. Wird die geografische Landkarte Europas in zehn Jahren überhaupt noch wiederzuerkennen sein? Großbritannien steigt aus der EU aus, Schottland und Nordirland wollen aber drin bleiben. Die Katalanen haben bereits weitgehende Autonomierechte, wollen aber die totale Unabhängigkeit. Und in Italien stimmen die Regionen Venetien und Lombardei am Sonntag per Referendum über vermehrte Autonomierechte ab. Es gibt weitere Beispiele.

Was sich zurzeit in Europa abzeichnet, ist eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Status quo. Vielleicht ist es auch das Riesenkonstrukt Europa, das vielen undurchsichtig und indirekt erscheint und deshalb abschreckt. Oder die weltweite Globalisierung, deren Gegenpol das Regionale darstellt. Die Menschen scheinen sich vermehrt mit ihrem regionalen Umfeld identifizieren zu wollen. So schreibt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse: „Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion“. Zum Regionalen zählt er die Sprache, das Essen, die Kultur. Im Nationalen sieht er nur eine Erzählung.

Nationalstaaten sind ein Zusammenwürfnis unterschiedlicher Regionen. Und diese Nationalstaaten bilden zusammen die Europäische Union. Wäre es denn nicht sinnvoller, eine EU der Regionen zu schaffen, statt eine Union der Nationalstaaten? Dieser Ansicht waren die Vordenker der europäischen Idee, in den 20er bis 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. 50 bis 60 Regionen zogen sie in Erwägung. Diese europäischen Föderalisten sprachen sich für ein „nachnationales“ Europa aus.

Ihre Devise: Ein Europa, das aus Nationalstaaten bestehe, sei nicht machbar, da es immer wieder zu Konkurrenz und deshalb zu einem Erstarken des Nationalismus führen würde. Und genau hier kann das Regionale trumpfen. Im heutigen Europa gibt es große Regionen, die – weil sie „nur“ eine Region und kein Staat sind – keine direkte Mitbestimmung in der EU haben. Andererseits gibt es kleine Staaten (wie Luxemburg), die viel kleiner sind als manche Region und direkt auf EU-Ebene ein Mitbestimmungsrecht haben.

Große Staaten wie Deutschland und Italien sind Zusammenschlüsse mehrerer Regionen, die in ihrem Ganzen dann den Nationalstaat bilden. Eigentlich sind diese Staaten künstliche Konstrukte. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist in den nördlichen Regionen Venetien und Lombardei doppelt so hoch wie im süditalienischen Kalabrien. Aber alles ist Italien. Und Rom spricht für alle diese Regionen in Brüssel. Klar, dass rechtspopulistische Parteien wie die Lega Nord mit ihrem separatistischen Vorhaben bei vielen Norditalienern punkten können. Aber aufgepasst: Eben dieses rechte Gedankengut gilt es zu verhindern in der EU.

Deshalb sollte man sich für ein Europa der Regionen starkmachen, statt wohlhabende Regionen wie die Lombardei in Italien, Katalonien in Spanien oder Bayern in Deutschland vom jeweiligen Nationalstaat abzuspalten. Einzelne Wohlstandsinseln helfen niemandem weiter. Im Gegenteil. Sie spielen Rechtspopulisten in die Hände. Stattdessen sollten alle Regionen den gleichen Status bekommen mit einem gemeinsamen Überbau. Dieser Überbau sollte nicht der Nationalstaat, sondern die Europäische Union sein. Jeder Bürger sollte auf diese Weise eine Stimme im EU-Parlament bekommen. Und die Regionen würden einzeln den Senat wählen. Die Demokratie wäre auf diese Weise direkter, gerechter und näher am Bürger. Klein-klein also ganz groß.

Eric Rings, Journalist, Auslandsredaktion, erings@tageblatt.lu

BillieTH
22. Oktober 2017 - 16.12

comment allez-vous convaincre les citoyens de ces regions 'aissees' de vouloir appartenir a une telle Europe ? avec une Union Europeene qui soutient un etat membre qui tire avec des balles caoutchouc sur des gens qui s'exprime ds un referendum ? en leur imposant l'adhesion d'un etat qui se situe 90pct hors europe et dont l'adhésion changerait profondement le charactere culturel de l'Europe ? en imposant support et approbation an une nouvelle vague d'immigration a la Merkel qui a le meme resultat ? en imposant des nouveaux accords CETA et TTIP ? commence peut etre avec un Europe qui ecoute a ses citoyens... meme si cela veut dire abandonner certains principes sacres de Politiciens comme Angela, Jang ou Bocassa ( mais qui n'etaienent jamais les notres)

Ekojhang
22. Oktober 2017 - 15.57

War es denn nicht der Komissionspräsident Jean-Claude Junker selbst der im sich zur Neige gehenden XXten Jarhundert von einem Europa der Regionen im XXIten Jahrhundert sprach? Heute scheint man diese Aussage vergessen zu haben. Passt ja aktuell auch nicht in den Kram. Blöde Aussage eines jungen Junker die man schnellstmöglich vergisst. Aber manche erinnern sich.

Jeannosch
22. Oktober 2017 - 12.47

Ein Europa oder ein Europa der Regionen kann wohl für Wirtschaft stehen, allerdings steht es nicht für die kulturelle Identität und Eigenständigkeit einzelner Völker.Wer diese kulturelle Identität und Eigenständigkeit in Frage stellt, stellt auch Europa in Frage , wo im Respekt auf Gegenseitigkeit basierend Handel betrieben , der Frieden gewahrt werden soll.Es wächst nicht zusammen, was nicht zusammen wachsen soll und wer mehrere eigenständige Völker zwingt zu einer Nation oder einem Nationalstaat Europa zusammenzuwachsen, wird erkennen dass dies ein Ding der Unmöglichkeit wird.

Pierre W
22. Oktober 2017 - 12.06

Wie der kommenrar von lucas. Kann ich gut verstehen die leute moegen. Keine. Merkelsteine. Und junker keine kleinstaaten. 27 reichen ihm aber haelt die hand gross auf um dicke gehaelter zu kassieren.. 80 tsd. Deren gibts....und die ander 300 Mio muessen sich kl..broetchen begnuegen...das ist der untergang. Der EU. Bei neuwahlen der spa... Wissen wirs

Lucas
22. Oktober 2017 - 11.42

Wenn innerhalb der EU ein Land zu stark und einflussreich wird im Verhältnis zu all den andern, dann müssen irgendwann Steine aufgestellt werden. Siehe "Merkelsteine"! Dasselbe gilt natürlich, wenn verschiedene Länder Gemeinsamkeiten stärker bündeln würden, um sie als Druckmittel gegen all die anderen Partnerländer durchsetzen zu wollen. Der Beitritt der Türkei würde der EU so 80 Millionen Muslime auf einmal zuführen, plus 3 Millionen Flüchtlinge im Schlepptau. Deutschland, Frankreich, Belgien und andere Länder haben so schon ihre Schwierigkeiten mit der Integration dieser Menschen. Und die Warnung über mögliche Anschläge nehmen jetzt schon eher zu als ab. Cf. die Aussagen der jeweiligen Geheimdienste.