FilmI Don’t Wanna Be Your Dog

Film / I Don’t Wanna Be Your Dog
„Cruella“ ist eine enttäuschende „villain origin story“

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Immer wieder wird Hollywood vorgeworfen, keine neuen Ideen mehr zu haben. Wenn man dieser Kritik Glauben schenken will, macht die Traumfabrik sonst nichts, als sich immer und immer wieder zu recyceln. Disney muss sich diesen Vorwurf schon länger anhören. Angefangen bei den Marvel-Superheldenfilmen ‒ denen das Serielle ihrer Comicvorlagen schon von Natur prädestiniert zu Gesicht steht ‒ bis zu der Mode der sogenannten „live action remakes“ von Animationsklassikern. Diese Remakes lassen sich noch einmal unterteilen in eine Kategorie von Filmen, in welche auch „Cruella“ zu klassifizieren ist. Die „villain origin story“ ‒ die Entstehungsgeschichte eines Bösewichtes.

Cruella heißt zu Beginn des Films Estella. Das kleine Mädchen hat es in den 1960ern nicht sehr einfach. In der Schule wird sie gehänselt, aber anstatt es über sich ergehen zu lassen, greift sie durch. Ganz zur Missgunst der englischen Schulautorität. Keep calm and carry on – aber nicht mit Estella. Sie wird von der Schule verwiesen. Ihre Mutter entscheidet, mit Kind und wenigen Kegeln in Richtung London aufzubrechen, um dort einen Neuanfang zu versuchen.

Der Umweg bei einer ehemaligen Arbeitgeberin stellt sich als verhängnisvoll dar. Die Dalmatiner der Chefin überwältigen die Mutter und stürzen sie von einer Klippe in den Tod. Das Waisenkind Estella findet sich somit alleine in London wieder, trifft dort zwei Gleichgesinnte und verbrüdert sich mit diesen. Auch zehn Jahre später sind Estella, Jasper und Horace noch zusammen unterwegs und verdienen als Taschendiebe und Trickser ihren bescheidenen Lebensunterhalt. Aber Estella hat Träume. Sie möchte gerne Modedesignerin werden und wirbt bei der berühmt-berüchtigten Baroness um eine Anstellung. Dass das Zusammentreffen der zwei Figuren ungeheilte Wunden aufreißt, ist nur eine Frage der Zeit.

Es mag wie ein Mantra klingen, welches niemand mehr hören will. „Mulan“, „The Beauty and the Beast“, „Aladdin“ usw. – die Remakes bringen nichts Neues auf den Tisch, jeder weiß es und niemand hat eigentlich Lust auf den ganzen Kram. Aber das letzte Fünkchen Nostalgie und Kindheitserinnerungen lassen einen nicht in Ruhe – und plötzlich hat man dann doch wieder den Eintrittspreis gezahlt, nur um aufs Neue enttäuscht zu werden.

„Cruella“ versprach, anders zu werden. Oder wusste sich vorab anders zu verkaufen. Vielleicht war es die Punkästhetik in Verbindung mit einer der glorreichsten Antagonistinnen aus dem Disney-Katalog, die einfach total Sinn machte. Vielleicht waren es die Kreativköpfe vor und hinter der Kamera. Die Emmas im Doppelpack auf der Leinwand, „I, Tonya“-Regisseur Craig Gillespie (interessant) und „Moonlight“-Komponist Nicholas Britell (überaus interessant). Was hätte da eigentlich schiefgehen können?

Dass sich gerade ein Disney-Film die Farben und Formen des Punks aneignet, klingt weniger wie ein zynischer Akt als vielmehr wie die logische Folge dieses Looks. Punk wurde nämlich in den USA geboren und im Vereinigten Königreich kommerzialisiert. Die Sex Pistols waren eine Art Proto-Boyband, die aus den Köpfen von Malcolm McLaren und Vivienne Westwood entsprungen sind. Und so wie Westwood die Ziehmutter der Pistols war, ist sie das nun auch von Cruella und der Kostümdesignerin Jenny Beavan. Beavans Kostüme sind nämlich für so manches verantwortlich. Sie halten das Universum des Cruella-Londons zusammen, halten die Dramaturgie auf ihren Schultern und wenn erinnerungswürdige Momente bleiben, dann sind auch hier die Kostüme dafür verantwortlich. Aber ein Disney-Film sollte nicht nur von Kostümen aufrechterhalten werden.

„Goodfellas“-Imitation?

Kurz gesagt: „Cruella“ ist eine noch größere Enttäuschung als die vorhin aufgezählten Remakes. „Cruella“ ist reine Oberfläche. Die Punk-Chic-Ästhetik poliert diese Oberfläche auf Hochglanz. Regisseur Gillespie macht sich mit seiner Inszenierung dazu auch noch keinen Gefallen. Er versucht Scorseses „Goodfellas“ nachzuäffen. Ein „exercice de style“, den er schon mit „I, Tonya“ machte.

Was Gillespie und Disney wohl nicht ganz verstanden haben, ist, dass die Kamerafahrten, die Voiceovers, der schnelle Schnitt und die Needledrops im Gangsterfilm nicht nur die gezeichnete Welt außerhalb des gefilmten Rahmens aufleben ließen, sondern den Figuren vor der Kamera auch eine gewisse Tiefe verpasst haben. In „Cruella“ ist nichts dergleichen vorzufinden. Der Schnitt ist eine Katastrophe und lässt die über 130 Minuten (!) des Films noch viel länger wirken. Das Voiceover von Emma Stone erklärt zum großen Teil, was man eh auf der Leinwand sieht und die Musik erschlägt einen nicht nur mit mindestens einem für 15 Sekunden angespielten Song pro Minute.

Die Musik lässt das gezeichnete Universum auch implodieren. In einer Szene hört mam „I Wanna Be Your Dog“ von den Stooges − Sie verstehen: Dog, Hunde, Dalmatiner, haha, sehr lustig −, in der nächsten „Should I Stay Or Should I Go“ von The Clash. Ein Song, der 1982 erschienen ist. Kohärenz ist das A und O des World Building. „Joker“ ist ein ähnlich leerer Film, aber der wusste wenigstens eine Stimmung heraufzubeschwören.

Oder man erwischte sich dabei, wie man sich mit einem Soziopathen identifizierte. Das eigentlich noch viel Schlimmere ist, dass „Cruella“ nichts dergleichen auch nur ansatzweise versucht. Cruella De Vil ist eine manisch exaltierte Antagonistin, die immerhin etwas über hundert Dalmatiner-Hunde häuten will, um sich damit einen Mantel nähen zu lassen. Spoiler Alert: Cruella ist Anno 2021 einfach nur eine junge Frau mit Problemen, Opfer ihrer Umstände – und das mit den Dalmatinern, ach, das kriegen wir auch noch hin. Die sind im Film zwar alle computergeneriert, haben trotzdem alle so ein Fell wie Estellas Haare. Wieso also nicht Freunde werden? Should you stay or should you go? Erraten Sie es selbst.