BelarusHunderttausende gegen den Diktator – Lukaschenko will Putins Hilfe statt Neuwahlen und Dialog

Belarus / Hunderttausende gegen den Diktator – Lukaschenko will Putins Hilfe statt Neuwahlen und Dialog
„Hoch lebe Belarus! Lukaschenko hau ab!“: Bis zu einer halben Million Menschen forderten gestern in Minsk den Rücktritt von Europas letztem Diktator Foto: AFP/Sergei Gapon

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Obwohl sich immer mehr Menschen an den Protesten in Belarus beteiligen, gibt Staatschef Lukaschenko nicht nach. Neuwahlen lehnt er ab, einen Dialog auch. Stattdessen sucht er Hilfe bei Putin. Doch die fällt erst mal verhalten aus.

„Hoch lebe Belarus! Lukaschenko hau ab! Freiheit den politischen Gefangenen!“, riefen gestern Zehntausende Weißrussen auf den Straßen von Minsk. „Wir glauben, wir können, wir siegen!“, wurde in volksfestartiger Stimmung skandiert. Die nach Litauen ausgereiste Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja hatte zu dem Freiheitsmarsch aufgerufen, an dem laut unterschiedlichen Schätzungen bis zu einer halben Million Belorussen teilnahmen. Eine solch große Demonstration hatte es seit der Unabhängigkeit von 1991 nicht gegeben.

Gestern Abend setzte sich der Zug vom Museum des Zweiten Weltkriegs vor das erst in der Nacht umzäunte Regierungsgebäude am Minsker Unabhängigkeitsplatz in Bewegung. Die zu Beginn der Woche brutal dreinschlagenden Sicherheitskräfte schritten nicht ein. Noch immer befinden sich rund 5.000 Demonstranten in U-Haft.

Zuvor hatten die Behörden am Unabhängigkeitsplatz um die Mittagszeit das erste öffentliche Meeting mit Alexander Lukaschenko für dessen ausgewählte Unterstützer organisiert. Laut dem unabhängigen Nachrichtenportal tut.by nahmen daran Tausende mit Bussen aus dem ganzen Land herangekarrte Staatsangestellte unter der Entlassungsdrohung bei Zuwiderhandlung teil. Laut Angaben des Präsidentenpalastes sollen es 50.000 gewesen sein, eine Zahl, die kaum stimmen kann. Sie schwenkten die offiziellen rot-grünen Landesflaggen und skandierten „Wir sind für Batka!“. „Batka“, Väterchen, ist der volkstümliche Übername Lukaschenkos, der seit 1994 vorgibt, sich wie einst der Zar auch um die kleinsten Belange seines Volkes zu kümmern.

„Fake News“ als letzte Hoffnung 

„Die NATO-Führung fordert Neuwahlen“, behauptete Lukaschenko während seines ersten öffentlichen Auftritts seit Beginn der Proteste. „Wenn wir einlenken, stirbt unser Land“, warnte er und versprach, dies nie zuzulassen. Lukaschenko behauptete erneut, ausländische Strippenzieher stünden hinter den Protesten. „Sie wollen die Staatsgrenze von heute Brest wieder bis vor Minsk schieben, so wie vor 1939“, behauptete der Diktator. Die NATO habe bereits Panzer und Flugzeuge 15 Minuten von der belorussischen Grenze entfernt in Bereitschaft gestellt, behauptete Lukaschenko. Dies ist ein Bluff, denn im litauischen Rukla rund 110 Kilometer von der belorussischen Grenze stehen schon seit 2017 NATO-Truppen, darunter auch Luxemburger und Deutsche.

Lukaschenko hatte zuvor seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin zum zweiten Mal am Wochenende angerufen. Bereits am Samstag hatte Lukaschenko mit Putins Angst vor „bunten Revolutionen“ gespielt. „Die Verteidigung von Belarus bedeutet Verteidigung unseres ganzen Raums“, hatte der Autokrat kurz vor dem Telefongespräch gesagt. Aus Moskau hieß es nach jener Unterredung nur, dass Putin überzeugt sei, dass sich die Situation bald regeln lassen würde.

Gestern gab es eine kurze Verlautbarung des Kremls, der Belarus eine militärische Intervention im „Rahmen des gemeinsamen Sicherheitspakts“ versprach. Gemeint ist dabei allerdings ein Verteidigungspakt zwischen Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Belarus für den Fall eines Angriffs auf die Souveränität von außen oder die verfassungsgemäße Ordnung. Der Kreml-Text kann auch als Aufforderung an die Opposition zu Verhandlungen verstanden werden.

EU macht es Putin leichter 

Da sich die EU-Außenminister am Freitag nur auf persönliche Sanktionen gegen einige Stützen des belorussischen Regimes geeinigt hatten, von denen zudem erst eine Liste erstellt werden soll, fällt es Russland leichter, vorerst eine neutrale Haltung zu bewahren.

Vor heimischem Publikum warnt Lukaschenko bereits seit Tagen vor einer aus dem Ausland koordinierten „farbigen Revolution“. Die Ausländer arbeiteten professionell, so würden sie gar Filmaufnahmen fälschen, erklärte der Diktator. Dies mag eine Anspielung an die vielen aus Telegram-Kanälen verbreiteten Bürgervideos von Gewaltexzessen der Sicherheitskräfte sein. Die exzessive Gewalt hatte am Mittwoch einen ersten Wendepunkt bei den Protesten provoziert, als tagsüber Tausende weiß gekleidete Frauen Solidaritätsketten gegen Gewalt bildeten.

In Minsk hatte bereits am Samstag das Begräbnis des ersten Todesopfers, Alexander Tarajkowskis, Zehntausende auf die Straßen gezogen. Der 34-Jährige hatte sich in der Protestnacht zum Dienstag laut offiziellen Angaben beim Werfen eines Molotow-Cocktails selbst tödlich verletzt, doch bestehen erhebliche Zweifel an dieser Version. Der Todesort, die U-Bahnstation „Puschkinskaja“, ist inzwischen zu einer Art Minsker „Maidan“ geworden.

Auch in Dutzenden Provinzstädten gingen am Wochenende wieder Tausende von Bürgern auf die Straßen. In Grodno waren es mindestens 30.000 Teilnehmer. Viele dieser Proteste erinnerten an Volksfeste. Die Stimmung war ausgelassen. Die Sicherheitskräfte schritten nicht ein, es kam zu keinen Festnahmen mehr. Vereinzelt sah man auf den durch den Telegram-Kanal „Nexta“ verbreiteten Bürgervideos auch Verbrüderungen zwischen Demonstranten und Polizisten.

Seit Freitagabend streiken sechs der zehn wichtigsten Staatsfirmen, darunter jene zwei Ölraffinierien, die Lukaschenko durch ihre Benzinexporte mit wichtigen Devisen versorgen. Zwei weitere Staatsfirmen wollen heute in Streik treten. Die Arbeiter haben sich den Forderungen der unter Zwang nach Litauen ausgereisten Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja gestellt. Auch das technische Personal des Staatsfernsehens kündigte einen möglichen Streik für Montag an.

Schattenregierung nimmt Form an

Der von Tichanowskaja ins Leben gerufene „Koordinationsrat“ hat am Wochenende damit begonnen, eine Schattenregierung zu bilden. Dem Rat sollen Geschäftsleute, Vertreter der Zivilgesellschaft und der bisherigen Staatsmacht angehören und damit den Machttransfer sicherstellen. Tichanowskaja soll als mutmaßliche Wahlsiegerin den Rat leiten und als Übergangspräsidentin Neuwahlen organisieren. In den nächsten Tagen wolle sie sich offiziell zur Wahlsiegerin erklären, hieß es.

Allerdings machte Lukaschenko, von dem in Belarus alle Machtstrukturen abhängen, gestern nicht den Eindruck, an einem Dialog mit Tichanowskaja interessiert zu sein. Der Autokrat hatte am Samstag das Verteidigungsministerium besucht und sich dessen Loyalität versichern lassen. Ab heute will die belorussische Armee ein viertägiges Manöver beim bald in Betrieb genommenen AKW Astrawets und in der umliegenden Oblast Grodno an der Grenze zu Litauen und Polen abhalten.

Dagegen erklärte der weißrussische Botschafter in der Slowakei als bisher höchster Lukaschenko-Beamter seine Solidarität mit den Protestierenden. Im ganzen Land hissten viele Theater, Museen und Schwimmbäder am Wochenende statt der offiziellen Staatsfahne die oppositionelle weiß-rot-weiße Flagge.

Lesen Sie zu den Protesten unser Interview mit dem in Belarus geborenen Schriftsteller Viktor Martinowitsch.

Auch in Luxemburg wird der Diktatoren-Sturz in Belarus gefordert. Am Freitag trafen sich rund 40 Menschen zur Mittagsstunde vor der „Maison de l’Europe“ in Luxemburg-Stadt zu einem Flashmob, um ihre Unterstützung mit den Protestierenden in Belarus zu untermauern.
Auch in Luxemburg wird der Diktatoren-Sturz in Belarus gefordert. Am Freitag trafen sich rund 40 Menschen zur Mittagsstunde vor der „Maison de l’Europe“ in Luxemburg-Stadt zu einem Flashmob, um ihre Unterstützung mit den Protestierenden in Belarus zu untermauern.  Foto: privat
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17. August 2020 - 13.09

Sollte Putin mit militärischem Einsatz Lukaschenko zur Hilfe eilen, gibt es eigentlich nur eine Antwort seitens unserer Politik , die Empörung und Boykott gerufen hat ,die militärische Option. Ansonsten wird diese Politik unglaubhaft und die protestierenden Bürger verlieren das Vertrauen in den Westen.