Jugendschutz-Serie (Teil 6)Gilbert Pregno: Unfreiwillige Einzelkämpfer*innen an Luxemburgs Schulen

Jugendschutz-Serie (Teil 6) / Gilbert Pregno: Unfreiwillige Einzelkämpfer*innen an Luxemburgs Schulen
Der langjährige Psychotherapeut und Präsident der Menschenrechtskommission Gilbert Pregno Archivfoto: Editpress/Julien Garroy

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Jahrelang konnte ein Lehrer des „Lycée classique de Diekirch“ (LCD) ungestört seinen Schüler*innen private Nachrichten schicken. Die Schule bestreitet, von den Vorwürfen gewusst zu haben, und die Betroffenen berichten von ergebnislosen Bitten nach Hilfe. Teil 6 unserer Jugendschutz-Serie: Für ein harmonisches Miteinander in der Schule werden klare Regeln benötigt. Ein Gespräch mit dem Psychologen Gilbert Pregno.

„Man spricht eigentlich immer nur dann über Menschen-, Grund- oder Kinderrechte, wenn gegen diese Rechte verstoßen wurde“, so Gilbert Pregno. Der langjährige Psychotherapeut und Präsident der Menschenrechtskommission sieht in ihnen eine mögliche Orientierung und Inspiration für unser Wertesystem und das Zusammenleben als Gemeinschaft. Obwohl Pregno die Strukturen der beiden betroffenen Schulen nicht bis ins letzte Detail kennt, kann er mit seinem Wissen und Interesse an sozialen Institutionen wertvolle Einschätzungen bieten.

Gemeinschaftliche Regeln

„Normalerweise gibt es an sozialen Institutionen ein Leitbild, das festlegen soll, welche Regeln dort gelten und welche Werte dort vertreten werden“, so Pregno. Dieses Leitbild wird oft, aber nicht immer, von den Menschenrechten abgeleitet. Werden die Regeln nicht eingehalten und ein Fehlverhalten nicht gemaßregelt, kann es laut Pregno zu einer Inflation dieses Verhaltens kommen. Dies könnte auch bei den Vorfällen am „Lycée classique de Diekirch“ (LCD) passiert sein: „Durch das, was ich bisher in den Medien mitgekriegt habe, würde ich meinen, dass dort Dinge nicht unbedingt zur richtigen Zeit untersucht und kontrolliert wurden.“ Damit spielt Pregno auf die Aussagen mancher Schüler*innen des LCD an. Bereits vor der Bekanntgabe der Vorfälle hätten diese sich mit ihren Erfahrungen Hilfe suchend an Lehrer*innen und an die Schulleitung gewendet. Jedoch ohne Erfolg. Die Schulleitung bestreitet diese Behauptungen vehement. Sie hätte erst durch die Veröffentlichung der Screenshots von unzähligen Vorwürfen gegenüber einem ihrer Lehrer erfahren.

Das Leitbild einer Schule solle laut Pregno verdeutlichen, welchen Sinn und Zweck diese Institution hat. Außerdem sollen Rahmenbedingungen für das tägliche Miteinander geschaffen werden, die dann als Orientierung dienen können. „Es ist normal, dass sich Jugendliche ausprobieren. Da kann es schon mal zu Reibungspunkten kommen“, erklärt Pregno. „Wenn aber beispielsweise nicht auf Warnhinweise oder Hilfeersuchen reagiert wird, kann es problematisch werden. Entweder war das Leitbild nicht stark genug oder es wurde nicht respektiert. So weit darf es gar nicht erst kommen. Egal ob das wegen Unwissen oder Unachtsamkeit passiert.“ Leitbilder können nicht immer dafür sorgen, dass keine Konflikte entstehen. Sie sollen jedoch Grenzüberschreitungen erkennbar machen und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, wenn es zu solchen Überschreitungen kommt. Reagieren die Autoritätspersonen jedoch nicht auf Fehlverhalten, verlieren die Hilfesuchenden das Vertrauen in die Institution. Den Schuldigen wird wiederum die Möglichkeit zur Selbstreflexion und Besserung genommen. Letztere könnten dann nämlich annehmen, dass ihr Verhalten akzeptabel ist und deshalb nicht interveniert wird.

Die Verwirtschaftlichung sozialer Institutionen

Pregno kritisiert, dass soziale Institutionen zunehmend auf Methoden und Kulturen der freien Wirtschaft zurückgreifen. Erfahrungen in den Bereichen Management und Budgeting werden bei der Suche nach neuem Führungspersonal immer öfters priorisiert, während die menschliche Ebene in den Hintergrund rückt. „Lehre und Wissensvermittlung sind auf einmal zu Waren geworden, das ist ein großer Verlust. In Schulen herrschte sonst noch eine Kultur und Atmosphäre, in der sich Menschen für Werte und Ideen begeistern konnten. Es war möglich, sich als Teil der Schulgemeinschaft zu fühlen und sich mit der Institution zu identifizieren“, argumentiert Pregno. Die zunehmende Anonymisierung an Schulen sieht er deswegen auch kritisch. Diese könne nämlich zu einer Form der Entmenschlichung führen.

Die Gebäude der Sekundarschulen werden immer steriler und großräumiger. Alleine die schiere Masse an Schüler*innen erschwere das Aufkommen eines Gemeinschaftsgefühls. „Der Mensch orientiert sich an seinem Umfeld und wenn dieses Umfeld kalt und ausladend ist, dann weiß man nicht, wie man als Mensch dort reinpassen und sich verhalten soll“, ergänzt der Psychologe und ist dankbar dafür, dass sich dieses Phänomen noch nicht an Grundschulen beobachten ließe.

Fehlendes Gemeinschaftsgefühl

Das fehlende Gemeinschaftsgefühl hat aber nicht nur Einfluss auf die Schüler*innen. Der Psychologe betont, dass auch Lehrer*innen unter der fehlenden sozialen Komponente leiden können: „[Sie] werden oft zu unfreiwilligen Einzelkämpfer*innen, weil sie nicht Teil einer Gemeinschaft sind und ihren Beruf in einer relativ großen Isolation ausüben. Der Zusammenhalt ist, zumindest aus meiner Erfahrung, nicht besonders stark zwischen dem Lehrpersonal.“ Obschon es sich hierbei um logische Schlussfolgerungen handelt, steht zumindest letztere in direkter Opposition zu der allgemeinen Wahrnehmung schulischer Strukturen. In den Gesprächen mit den anderen Expert*innen dieser Artikel-Serie wurde den Schulen eher ein Handeln oder ein fehlendes Handeln wegen falscher Loyalität vorgeworfen. Genauer: die Loyalität zur eigenen Institution und die Loyalität zwischen dem Schulpersonal. Diese Art von Loyalität finde man jedoch nicht nur an Schulen, sondern in fast allen Branchen und Unternehmen. Weswegen selbstregulierende Systeme dazu neigen würden, blinde Flecke für die eigenen Probleme zu entwickeln.

Die Balance zwischen Privat- und Berufsleben

Abseits dieser strukturellen Kritik verdeutlicht Pregno noch mal die Rolle des Lehrpersonals: „Ich denke, dass es vielen Lehrer*innen nicht bewusst ist, was sie für einen Einfluss auf die Schüler*innen haben können. Deshalb sollten sie exemplarisch agieren. Man muss nicht brillant oder allwissend sein, aber es muss deutlich werden, dass hinter der Fassade auch ein Mensch steckt. Das kann einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Schüler*innen haben.“ Deshalb muss es zu einem gewissen Grad erlaubt sein, das Privatleben mit ins Klassenzimmer zu bringen. Bei dem beschuldigten Lehrer des LCD ging dies aber eindeutig einen Schritt zu weit. Er erklärte sein Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt unter anderem mit mentalen Problemen.

Als erfahrener Psychologe kann Pregno nachvollziehen, was Menschen dazu treibt, sich übergriffig zu verhalten, und wie es dazu kam, dass der Lehrer sich dazu entschieden hat, seinen Schüler*innen private Nachrichten zu schicken. Er betont aber auch, dass diese Erklärungen nichts an der Tatsache ändern, dass ein solches Verhalten nicht zu entschuldigen sei. Seiner Meinung nach hätte das Schulpersonal die Verantwortung Kolleg*innen auf solche schwerwiegenden Probleme aufmerksam zu machen und die Person darauf anzusprechen: „Ich weiß natürlich nicht, ob es in diesem Fall Lehrer*innen gab, denen etwas aufgefallen ist und ob jemand ihn darauf angesprochen hat und damit Verantwortung übernommen hat. In Schulen sollte das aber der Fall sein.“

Es sei sicher eine gute Idee, Strukturen für Lehrer*innen zu schaffen, an die sie sich auch mit persönlichen Problemen wenden können oder die ihnen die Möglichkeit bieten, anonym Beschwerden einzureichen. Trotzdem dürfen solche Strukturen nicht dazu führen, dass das gegenseitige Verantwortungsgefühl des Schulpersonals obsolet wird, fordert Pregno. Sie sollen sich auch weiterhin als Gemeinschaft verstehen, die sich kollektiv Grenzen setzt und gegenseitig zur Verantwortung zieht, wenn Grenzen überschritten werden.

Annick Goergen
Annick Goergen Foto: privat

*Annick Goergen, geboren 1992 in Esch/Alzette, ging 2014 nach Köln, um dort an der Universität Deutsche Sprache und Literatur sowie English Studies zu studieren. Schnell wurde klar, dass sie im Ausland bleiben will. Sie war zwei Jahre lang im Vorstand des Studierendenradios Kölncampus und hat sich dort als Online-Chefredakteurin engagiert. Außerdem hatte sie die Möglichkeit, an einem Podcast-Projekt des deutschen Bildungsministeriums teilzunehmen und europaweit mit Expert*innen über das Thema Digitalisierung an Schulen zu sprechen. Momentan arbeitet sie als Werkstudentin bei der Produktionsfirma I&U TV und schreibt dort Skripte für das Online-Wissenschaftsformat Breaking Lab.

Cordier
15. August 2021 - 9.51

De Probleem ëm de ganzen LCD wier ganz séier geléisst, ''Den Direktor soll gewiesselt ginn, awer sou laang de Meisch d'Hand iwwert hien häellt, geschitt him guer näischt,,. Den Direktor ass well laang iwwerfäelleg( Papp vum Meedchen wat willkürlech sollt suspendéiert ginn)

J.C. Kemp
9. August 2021 - 19.47

Da war doch diese Sache mit dem Dresscode 'nur für Mädchen' in Diekirch. Und jetzt das hier. Die Frage nach dem Zusammenhang. Das LCD scheint da ein unterschwelliges Problem zu haben.