GastbeitragGender- und Rassismus-Debatten: Was ist Identitätspolitik?

Gastbeitrag / Gender- und Rassismus-Debatten: Was ist Identitätspolitik?
 Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Ob in der Politik, Medien oder Kommentaren, immer wieder taucht der Begriff „Identitätspolitik“ im Zusammenhang mit Rassismus-Debatten und Gendern auf. Meist mit einer negativen Konnotation. Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Ob national, kulturell oder individuelle Identität, das dem Menschen innewohnende Bedürfnis ist Gegenstand vieler Debatten. In einer globalisierten Welt und im Zuge zunehmender Individualisierung wird über den Verlust von Identität diskutiert. Im Raum steht die Frage, ob die Identität, im Sinne einer kollektiven Erfahrung, der Zugehörigkeit entgegensteht.

Die Zuschreibung für politisches Handeln, bei dem vor allem Bedürfnisse einer spezifischen Gruppen von Menschen im Mittelpunkt steht, bezeichnet man als Identitätspolitik. Die Zuschreibung zu einer Gruppe passiert über kulturelle, ethnische, soziale oder sexuelle Merkmale.

Befürworter*innen der Identitätspolitik sehen in ihr eine Möglichkeit für eine höhere Anerkennung der Gruppe und einer Verbesserung der gesellschaftlichen Position. Angestrebt wird soziale Gerechtigkeit. Im Gegensatz dazu führen Kritiker*innen an, dass die Zuschreibung zu einer spezifischen Gruppe dazu führt, dass man diese als homogen betrachtet. Gegner*innen eines identitätspolitischen Diskurses sehen darin einen übermäßigen Fokus auf Partikularinteressen wie Feminismus oder Homosexuellenrechte, der den Aufstieg der Rechten, wenn auch ungewollt, unterstützt.

Die ständigen Diskussionen um Diskriminierung führten dazu, dass die Frage nach der wirtschaftlichen Ungleichheit nicht mehr gestellt würde und viele ökonomisch benachteiligten Menschen in die Arme der Rechten triebe, in deren Politik sie sich vertreten fühlen.

Gendern – ein identitätsfixierter Dogmatismus?

Das „Gendern“ gehört zu den Aspekten der Identitätspolitik, die immer wieder debattiert werden. Die Ansicht, „Gendern“ erzeuge eine identitäre Differenz und mache es unnötig kompliziert, steht gegensätzlich zur Ansicht, dass gegenderte Schreibweisen bloß ein ausbuchstabierter Ausdruck der Realität wäre. Es fällt auf, dass dieser Gegensatz selten ernsthaft debattiert wird. Häufig entbrennt ein Streit zwischen denen, die „Identitätspolitik“ verantwortlich machen für den Untergang des rationalen Abendlandes, und denen, die darin einen Teil der Herrschaftskritik sehen.

„Identitäre“ Bewegungen werden vor allem dem rechten politischen Spektrum zugeordnet. In diesem Zusammenhang versteht man die „Identität“ als homogene, kulturelle Eigenart von Gruppen beziehungsweise Ethnien. Man versteht darin die Verteidigung des „eigenen“ gegenüber dem „anderen“.

Paradoxerweise benutzen „rechte“ und „linke“ dabei die gleiche Methode, um für die Rechte und Position einer Gruppe zu kämpfen. So werden Menschen einer Gruppe zugeordnet und formen eine „kulturelle Identität“. Werden aufgrund von einer solchen, vermeintlichen Identität Rechte gefordert, Anerkennung erwartet und Positionen formuliert, wird es politisch.

Der positionale Fundamentalismus bezeichnet in der Soziologie die vereinfachte und falsche Weise, wie soziale Position auf politische oder individuelle Position deterministisch kurzgeschlossen wird. Menschen ausschließlich über Religion, Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe zu definieren, ist kurzsichtig und eindimensional. Dieser Aussage würden wohl die meisten zustimmen, die sich nicht ausschließlich als „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder als „alte, weiße, heterosexuelle Cis-Männer“ definieren würden. In diesem Punkt herrscht weitestgehend ein Konsens unabhängig der politischen Ansicht.

Gruppenzugehörigkeit spielt eine Rolle

Es beim positionalen Fundamentalismus zu belassen, wäre aber ebenfalls zu kurzsichtig. Empirisch belegt ist, dass Gruppenzugehörigkeit und soziale Differenzen eine erhebliche Rolle in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft spielen. Unter anderem Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Alter, (Nicht-) Behinderung entscheiden (mit) über Bildungserfolg, Arbeit, Gesundheit und sogar Lebenserwartung. Zahlreiche Arbeiten, unter anderem die der Soziologin Villa Braslavsky, greifen die Effekte von Differenzen auf. Diese Unterschiede sind real. Daneben haben sie im Alltag einen Einfluss darauf, ob man zu der „Allgemeinheit“ beziehungsweise der „Normalität“ gezählt wird oder ob man als „anders“ empfunden und behandelt wird.

Krtitiker*innen führen immer wieder an, als wäre die Debatte um Identität ein neues Phänomen. Dabei spielt es seit der Moderne eine Rolle, wer spricht, wer sichtbar ist und wer in einer Machtposition ist. Soziale Kämpfe um Gleichberechtigung sind seit der Moderne dokumentiert. Um Gleichberechtigung zu erlangen, muss die Differenz erst deutlich und sichtbar gemacht werden. Seit jeher wurde von Herrschaftsmechanismen zwischen dem „Allgemeinen“ und den „anderen“ unterschieden. Historisch wurde zwischen „Menschen“ und Frauen, Schwarzen, Behinderten und Wilden unterschieden. Das Phänomen und die damit verbundenen sozialen Prozesse sind somit nicht als „Trend“ abzutun.

Abkehr von „Absolutismus“ und „Fundamentalismus“

Es wäre falsch Menschen, nur über ihre gesellschaftliche Positionierung zu definieren. Dies würde bedeuten, dass man die soziale Positionierung mit einer inhaltlichen Position gleichsetzt. Als weißer, heterosexueller Cis-Mann ist man nicht ausschließlich über diese Begriffe zu definieren. Genauso falsch ist es, wenn man die komplexe Identität eines Menschen pauschal mit Begriffen wie „Flüchtling“ oder „Feministen“ angrenzt.

Zeitgleich sollte ein Bewusstsein entstehen, dass soziale Positionierungen Haltungen mit konstituieren. Man ist nicht bloß ein weißer Mann, allerdings spielen diese Aspekte eine wesentliche Rolle in der Gesellschaft.

Die Debatte wäre spannend, wenn man versuchen würde, darüber zu sprechen, wie man eine Gesellschaft gestalten kann, in der Identität sein darf, ohne als fundamentalistisch, homogen und absolut angesehen zu werden. Eine Abkehr von einem unproduktiven, teilweise destruktiven „entweder, oder“ mit dem Ziel, Unrecht abzubauen, wäre ein Anfang.

* Andy Schammo studiert Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema „Institutionelle Diskriminierung im Luxemburger Bildungswesen“. Er setzt sich privat gegen Diskriminierung und Ungleichheiten ein.