Frauenpower in Estland: Liberale Opposition besiegt Mitte-links-Regierung

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Estland befindet sich auf dem besten Weg, eines der wenigen Länder mit einer weiblichen Doppel-Spitze zu werden. Neben Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid (49) dürfte der kleinste und nördlichste Baltenstaat bald mit Kaja Kallas auch eine Frau als Regierungschefin bekommen.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Warschau

Die 41-jährige Juristin und bisherige Oppositionsführerin fuhr mit ihrer liberalen Reformpartei bei dem Parlamentswahlen vom Sonntag den Sieg ein. Kallas’ Reformpartei kam auf 28,8 Prozent der Stimmen, was ihr 34 Sitze (bisher 30 Sitze) im Riigikogu (Parlament) gibt. Sie verwies damit die bisher regierende sozialdemokratisch politisierende, aber weltanschaulich konservative Zentrumspartei (23,1 Prozent, 26 Sitze) klar auf den zweiten Platz.

Wie vor dem Wahlgang befürchtet, konnte die rassistische „Estnische Volkspartei“ (EKRE) ihre Sitzzahl nicht nur verdoppeln sondern gleich fast verdreifachen. Die 2012 aus zwei rechtsradikalen Parteien hervorgegangene EKRE kam auf 17,8 Prozent oder 19 Sitze (bisher: 7). Außerhalb der Hauptstadt Tallinn erreichte sie in allen historischen Wahlbezirken den zweiten Platz. In den ländlichen Regionen an der Grenze zu Russland und Lettland wurde sie gar zur stärksten Kraft.

Koalitionsgespräche begonnen

An der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte hingegen die rechte Parteineugründung „E200“, die im Wahlkampf mit simulierten ethnischen Trennlinien zwischen Esten und Russen polarisiert hatte. Nur knapp 68 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner Estlands sind Esten. Über 30 Prozent sind in Zeiten der sowjetischen Besatzung zugezogene Russen, Ukrainer und Weißrussen.

Bei den Wahlen eingesackt sind auch die bisherigen Juniorkoalitionspartner von Premierminister Jüri Ratas (Zentrum). Die Sozialdemokraten sackten von ehemals 15 auf 10 Parlamentssitze (9,8 Prozent) ab, die konservative Partei „Isaama“ (Vaterland) von 14 auf 12 Sitze (11,4 Prozent). Noch am späten gestrigen Mittag begann Wahlsiegerin Kaja Kallas (Reform) mit ersten Koalitionsgesprächen.

Koalition zwischen Zentrums- und Reformpartei

„Natürlich werde ich zu den Gesprächen gehen“, gab sich Verlierer Ratas auf entsprechende Nachfragen empört. Rein rechnerisch könnte seine Zentrumspartei mit den Rechtsradikalen und „Isaama“ zusammenspannen und eine Regierung bilden. Allerdings hatten alle etablierten Partei im Vorfeld eine Zusammenarbeit mit der EU-skeptischen EKRE ausgeschlossen.

Ratas hofft auf eine historische große Koalition zwischen Zentrums- und Reformpartei. Seine früher vor allem von der russischen Minderheit gewählte Zentrumspartei hat sich unter seiner Führung weit auf die Mitte hin geöffnet und in den letzten Jahren auch viele Esten angezogen. In einem Kommentar in der führenden estnischen Tageszeitung Postimees wurde allerdings auf mehrere schier unüberwindbare Gegensätze hingewiesen. So hatte Ratas im Wahlkampf progressive Steuern und die Abschaffung der Staatsbürgerprüfung auf Estnisch für russische Bürger versprochen. „Dies sind rote Linien für uns“, sagte Kaja Kallas in einem Interview mit der Postimees noch vor den Wahlen.

Reformpartei und „Isaama“

Als wahrscheinlicher gilt deshalb in Tallinn die Neuauflage der 2016 zerbrochenen Koalition zwischen Reformpartei und „Isaama“. Dieser müssten diesmal noch die Sozialdemokraten beitreten. Dieses politisch etwas instabile Bündnis käme auf 56 von 101 Parlamentssitzen. Als Hindernis für eine Einigung gelten nicht Programmunterschiede, sondern Kaja Kallas’ Misstrauen. Die Tochter des bekannten liberalen Ex-Premiers und späteren EU-Kommissars Siim Kallas erinnert sich gut daran, wie die Juniorpartner 2016 mitten in der Legislaturperiode zur oppositionellen Zentrumspartei desertiert waren.

Ohne vorgezogene Neuwahlen bekam das liberal regierte Estland damals so eine Mitte-links-Regierung. In der Hauptstadt Tallinn machten sich am Montag viele Bürger hingegen wieder ganz alltägliche Sorgen nach diesem Wahlausgang. „Wie geht es nun weiter mit den unentgeltlichen Trolleybusfahrten?“, fragten die Leser der russischsprachigen Version des Online-Portals der Tageszeitung Postimees.