Pflegemangel„Flexible Lösungen“ treffen auf wenig Zustimmung

Pflegemangel / „Flexible Lösungen“ treffen auf wenig Zustimmung
Ungeachtet der üblichen Krankschreibungen und „Congés pour raisons familiales“ fehlen laut „Fédération des hôpitaux luxembourgeois“ (FHL) zurzeit 250 der insgesamt 8.000 Mitarbeiter in den Luxemburger Krankenhäusern Foto: Editpress/Tania Feller

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Wegen Isolation, Quarantäne, Übermüdung oder Krankheit wird der Pflegemangel in den Luxemburger Krankenhäusern akut. Dabei werden Fachkräfte wegen des rasanten Anstiegs der Hospitalisierungen dringend gebraucht. AMMD und CNS fordern „flexible Lösungen“ und greifen damit noch ausstehenden Verhandlungen am „Gesondheetsdësch“ vor. Die liberale Ärzteschaft und die Gesundheitskasse haben sich mit ihren Ansichten aber weitgehend selbst isoliert. Die meisten anderen Akteure sprechen sich im Wesentlichen für eine Stärkung des öffentlichen Krankenhauswesens aus. 

Stößt das öffentliche Gesundheitssystem in Luxemburg wegen der zweiten (oder dritten oder vierten) Coronawelle an seine Grenzen? In den vergangenen Wochen sei der Personalmangel in den Spitälern akut geworden, warnen Experten. Ausfälle wegen Isolation und Quarantäne, Übermüdung oder Krankheit häufen sich. Allein in den „Hôpitaux Robert Schuman“ (HRS) stünden rund 60 der über 2.400 Mitarbeiter nicht zur Verfügung, wie deren Direktor Claude Schummer am Mittwoch gegenüber RTL Radio bestätigte. Ähnlich gestaltet sich die Lage im Escher „Centre hospitalier Emile Mayrisch“ (CHEM). Seit Anfang der Woche seien dort rund 70 der insgesamt 1.900 Mitarbeiter in Quarantäne oder Isolation gewesen, sagte der Leiter der CHEM-internen Krisenzelle, Serge Meyer, am Donnerstag dem Luxemburger Wort. Ungeachtet der üblichen Krankschreibungen und „Congés pour raisons familiales“ würden zurzeit 250 Mitarbeiter in den Krankenhäusern fehlen, erklärte der Generalsekretär der „Fédération des hôpitaux luxembourgeois“ (FHL), Sylvain Vitali, am Donnerstag auf Radio 100,7. Insgesamt beschäftigen die vier großen Krankenhausgruppen in Luxemburg knapp 8.000 Mitarbeiter.  

Von einer weiteren Rekrutierung medizinischen Personals aus der Grenzregion sei den Spitälern laut Schummer abgeraten worden. Sowohl im französischen „Département Moselle“ als auch in der belgischen „Province de Luxembourg“ beklagten sich Ärzte und Behörden vergangene Woche über die zunehmende Abwanderung von Krankenhaus- und Pflegepersonal nach Luxemburg. Um dem steigenden Bedarf im Großherzogtum gerecht zu werden, wirbt Luxemburg seit Jahren mit hohen Gehältern in der Großregion Ärzte und Krankenpfleger ab. In der Corona-Krise ist diese aggressive Abwerbungspolitik nun mehr denn je umstritten, weil die Gesundheits- und Pflegekräfte auch in ihren Herkunftsländern dringend benötigt werden. Seit einigen Wochen geht in Luxemburg sogar die Angst um, Frankreich oder Belgien könnten ihr Gesundheitspersonal aus dem Großherzogtum abziehen, um sie zum Dienst in ihrem Heimatland zu verpflichten.

Gefahr von Stellenabbau

Einen erneuten umfassenden oder partiellen wirtschaftlichen Lockdown lehnt die luxemburgische Regierung bislang ab. Um zu gewährleisten, dass das Gesundheitssystem trotz steigender Hospitalisierungen weiter funktionieren kann, haben Regierung und Parlament am Mittwoch eine Änderung des Arbeitsrechts beschlossen, derzufolge die maximale Arbeitszeit für Beschäftigte aus bestimmten Sektoren unter gewissen Auflagen auf zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche erhöht werden kann. Ferner sollen BTS-Schüler sowie Pfleger im Ruhe- und Vorruhestand den Personalbestand im Gesundheitswesen stärken. Der Präsident der Vereinigung freiberuflicher Ärzte (AMMD), Alain Schmit, hatte am Samstag auf RTL Radio gefordert, die Krankenpfleger von ihren Verwaltungsaufgaben zu befreien, damit sie näher am Patienten arbeiten könnten. Zur Entlastung der Krankenhäuser hatte Schmit zudem vorgeschlagen, die medizinische Versorgung zu Hause auszubauen und die Betreuung durch die Pflegenetzwerke zu unterstützen. Die Gesundheitskasse CNS zeigte sich in einer am Dienstag verschickten Mitteilung offen gegenüber diesen Vorschlägen und sprach sich für mehr Flexibilität beim Einsatz von Personal sowohl zwischen den einzelnen Krankenhäusern als auch außerhalb der Kliniken aus.

Die Gewerkschaft OGBL steht sowohl der Arbeitszeiterhöhung als auch der Befreiung von administrativen Tätigkeiten skeptisch gegenüber. Grundsätzlich sei die Gewerkschaft zwar dafür, dass Pflegekräfte weniger Zeit mit Verwaltungsaufgaben verbringen sollten, doch gleichzeitig müsse bedacht werden, dass die Dokumentation Teil eines Mechanismus sei, mit dem Engpässe beim Personal verhindert werden sollen, erklärt Pitt Bach, Zentralsekretär des Syndikats Gesundheit und Sozialwesen beim OGBL. Mit der Dokumentation sollen die Bedürfnisse des Pflegepersonals festgehalten werden, die anschließend als Grundlage für die Berechnung zukünftiger Personaldotationen dient. „Wenn weniger dokumentiert wird, könnte das auch bedeuten, dass den Krankenhäusern später weniger Personal zugestanden wird, weil weniger Tätigkeiten registriert worden sind”, befürchtet Bach. Damit bestehe die Gefahr, dass mittel- bis langfristig Stellen in den Spitälern abgebaut werden. Bereits jetzt würden den Krankenhäusern lediglich 82% des benötigten Personals bewilligt. Auch die Krankenhäuser selbst gaben AMMD und CNS in einer Versammlung am Montag zu verstehen, dass sie nicht bereit seien, ihre Verwaltungsaufgaben zu vernachlässigen und damit zu riskieren, dass ihre Personaldotationen gekürzt werden.

Von der Teilzeit in die Vollzeit

Kritik übt der OGBL auch an der Erhöhung der Arbeitszeiten über den Weg einer Änderung des Arbeitsrechts. Die maximale Arbeitsdauer hätte im Rahmen der erst kürzlich begonnenen Kollektivvertragsverhandlungen im Krankenhaussektor geregelt werden müssen, moniert die Gewerkschaft. Auf diese Weise hätte eine angemessene Entschädigung für die Angestellten ausgehandelt werden können. Viele Beschäftigte aus dem Gesundheits- und Pflegesektor seien müde. Seit Beginn der Corona-Krise sind sie im Dauereinsatz und hatten kaum Zeit, sich zu erholen. Wie die nun geplante zusätzliche Arbeitsleistung kompensiert werden soll, sei nicht geklärt, bemängelt Bach.

Um zusätzliche Kräfte freizumachen, ohne im Ausland rekrutieren zu müssen, schlägt die Gewerkschaft vor, Krankenpflegern, die per Teilzeitvertrag angestellt sind, eine Vollzeitstelle anzubieten. Auch der Krankenhausverband FHL hat gestern auf Radio 100,7 die Schaffung von 70 zusätzlichen Vollzeitstellen gefordert. Im Gesundheits- und Pflegesektor sei der Anteil an Teilzeitverträgen hoch, sodass die Personalleistung auf diese Weise wesentlich gesteigert werden könne, erläutert Pitt Bach. Um den Angestellten den Übergang von der Teilzeit zur Vollzeit zu erleichtern, müsse die Kinderbetreuung in den Krankenhäusern aber ausgebaut werden. Stattdessen werde nun in den Budgetverhandlungen zwischen CNS und Krankenhäusern darüber diskutiert, die finanziellen Mittel zur Kinderbetreuung zu streichen, bedauert Bach.

Covid-19 scheint den Befürwortern einer Rationalisierung des Krankenhauswesens und einer Liberalisierung des Gesundheitssystems indirekt in die Karten zu spielen. Die im Koalitionsabkommen der blau-rot-grünen Regierung festgeschriebene „ambulante Wende“ könnte schneller kommen als ursprünglich geplant. So griff die CNS in einer Mitteilung am Dienstag auch die von der AMMD bereits mehrfach geäußerte Forderung nach einer Telemedizin-App auf, um die Fernkommunikation zwischen Patienten und Ärzten zu verbessern. Ob die vorwiegend älteren Patienten mit dieser App überhaupt umgehen können, ist zu bezweifeln. Deshalb lautet der Vorschlag von AMMD und CNS, dass Mitarbeiter der eh schon überforderten häuslichen Pflegedienste den Patienten dabei helfen sollen. Wie die Telearbeit, die sich seit Beginn der ersten Welle in vielen Wirtschaftszweigen etabliert hat, soll Corona nun auch die Digitalisierung im Gesundheitssektor schneller vorantreiben.

Wohin mit der „Clinique Sainte-Marie“?

Eine weitere systemische Änderung der AMMD scheint nun ebenfalls wieder an Aktualität zu gewinnen. Alain Schmit hatte am Samstag auf RTL erneut die Idee eines Covid-Krankenhauses ins Spiel gebracht. In der „Clinique Sainte-Marie“ in Esch/Alzette könnten kurzfristig 80 bis 100 Betten für Covid-Patienten zur Verfügung stehen, meinte Schmit. Der Besitzer der „Clinique Sainte-Marie“, die „Fondation Hôpitaux Robert Schuman“, hatte 2017 mit dem Gesundheitsministerium vereinbart, dass die Klinik spätestens im Dezember 2022 alle ambulanten und stationären Tätigkeiten einstellen werde. Seit 2017 funktioniert dort nur noch ein geriatrischer Dienst, der in den nächsten Jahren nach Kirchberg verlegt werden soll. Was nach 2022 mit dem ehemaligen Kongregationsspital passieren soll, ist noch ungeklärt. Die HRS-Stiftung hat die Schuldentilgung für das Gebäude beschleunigt und sich schon nach einem Käufer umgesehen. Mit dem Pandemie-Krankenhaus könnte die „Clinique Sainte-Marie“ nun eine neue Zweckbestimmung finden. Tageblatt-Informationen zufolge unterstützt der Verwaltungsrat der Fondation HRS um ihren Präsidenten Jean-Louis Schiltz die von der AMMD vorgebrachten Pläne für ein Covid-Spital. Eine entsprechende Nachfrage wurde am vergangenen Montag vom HRS-Pressedienst mit dem Hinweis abgewiesen, die Krankenhausleitung gebe zurzeit keine Interviews.

Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) hatte am Samstag auf RTL betont, es sei schwierig und nicht opportun, systemische Änderungen während einer Krise umzusetzen. Ein kurzfristiges Covid-Krankenhaus hatte sie bereits im Juni für unrealistisch erklärt. Am Samstag wiederholte sie diese Aussage. Ferner bliebe noch zu klären, wo das Personal für den Betrieb eines möglichen Covid-Spitals herkommen soll. Experten zufolge ist die Betreuung von Corona-Patienten personalintensiver als viele andere Behandlungen. In dieser Woche war die Ministerin auf Nachfrage nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Laut Tageblatt-Informationen haben sich Vertreter von CHL und CHdN am Montag im Namen aller vier Krankenhausgruppen gegen ein Covid-Spital ausgesprochen. 

Paradigmatische oder systemische Änderungen sollen eigentlich in Gesprächen im Rahmen des „Gesondheetsdësch“ verhandelt werden. Die Runde sollte im Februar 2020 beginnen, wurde wegen Covid-19 aber auf September verschoben. Die Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung einer Out-of-hospital-Strategie hat sich schon vor einem Monat getroffen. Wie die Wochenzeitung d’Lëtzebuerger Land berichtete, habe die AMMD aber bislang keine konkreten Konzepte, beispielsweise für den Aufbau von privaten Ärztezentren, vorlegen können. Die Diskussionen über den Einsatz neuer Technologien und die zukünftige Finanzierung des Gesundheitssystems sollen erst im kommenden Dezember am „Gesondheetsdësch“ stattfinden. Mit ihrem Vorstoß haben AMMD und CNS diesen Verhandlungen nun vorgegriffen. Ungewiss ist die Haltung von Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) gegenüber der ambulanten Wende. Der Koalitionsvertrag wurde noch von ihrem Vorgänger Etienne Schneider ausgehandelt. Das Abkommen könnte ihren Handlungsspielraum am „Gesondheetsdësch“ einschränken. Gleichzeitig wächst in ihrer Partei der Druck, den Privatisierungstendenzen im Gesundheitssektor stärker entgegenzuwirken.