Falsche Hoffnungen: Die sechs Düdelinger Kriegsopfer des 2. September 1944

Falsche Hoffnungen: Die sechs Düdelinger Kriegsopfer des 2. September 1944

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Vor 75 Jahren mussten sechs Düdelinger ihr Leben lassen. Dabei dachten alle damals, der Krieg sei endlich vorbei. Heute wird in der „Forge du Sud“ der Befreiung des Großherzogtums und der Opfer des Krieges gedacht. Der Historiker Jean Reitz blickt in einem Vortrag auf diese bewegten Tage im September 1944 zurück.

Am 6. Juni 1944 landen die alliierten Truppen in der Normandie, um Europa vom Naziregime zu befreien. Den Soldaten gelingt es, die deutsche Wehrmacht zurückzudrängen. Am 29. August wird Paris befreit. Ab dem Moment ist vielen Luxemburgern klar, dass ihre Befreiung nur noch eine Frage der Zeit ist. Am 2. September kommt es aber im Süden des Landes zu einem verheerenden Vorfall, bei dem sechs Zivilisten ihr Leben lassen müssen.

Die tödliche Bilanz

225 Bürger Düdelingens wurden in den Gefängnissen Grund, Esch, Diekirch, Wittlich, Rheingau und Siegburg inhaftiert.

136 Einwohner wurden in Konzentrationslager verschleppt, 24 in andere Lager eingesperrt. Zwölf von ihnen haben diese Zeit nicht überlebt.

554 „Diddelenger Jongen“ wurden zwangsrekrutiert. Nur 413 sollten wiederkehren. Insgesamt 84 sind für tot erklärt worden, sieben wurden wegen Widerstands erschossen und 57 gelten seit Ende des Krieges als vermisst.

30 Familien sind in den Osten umgesiedelt worden. Neun Düdelinger haben ihre Arbeit verloren, da sie nicht „die Gewähr boten“.

Am 1. September sind in Düdelingen deutsche Soldaten zu sehen, die in Richtung Hellingen unterwegs sind. Der deutsche Bürgermeister Schröder, die Schutzpolizei, Parteimitglieder und Kollaborateure bereiten ihre Flucht vor. Dafür heben sie über 12.000 Reichsmark von den Gemeindekonten ab. Zu dem Zeitpunkt gehen Gerüchte um, dass amerikanische Panzer nur drei Kilometer von der französischen Grenze entfernt stationiert seien.
„Die Vorfreude bei den Stadtbewohnern ist zu diesem Moment groß“, berichtet Jean Reitz. Ausgerechnet an diesen Tagen kommt es in Düdelingen zu mehreren Stromausfällen, sodass es nicht mehr möglich ist, den „Englänner“ – den britischen Radiosender der BBC – zu hören. In Wahrheit nämlich sind die Amerikaner in Sedan, etwa 119 Kilometer von der luxemburgischen Grenze entfernt. Sie sollen sich erst eine Woche später, am 8. September, auf den Weg nach Luxemburg machen.

Plötzlich kamen die SS-Männer zurück

Am 2. September versammeln sich die Düdelinger auf dem Rathausplatz in freudiger Erwartung auf die Amerikaner, die aus Richtung Volmerange-les-Mines kommen sollten. Morgens zwischen 8 und 9 Uhr läuten die Kirchenglocken. Luxemburgische Fahnen werden wieder aufgehängt, Bilder von Hitler und Hakenkreuzfahnen in der Öffentlichkeit verbrannt und Schilder von Nazi-Organisationen heruntergenommen. Die Luxemburger lassen ihre Wut an den Symbolen der Nazis aus – sowie an den deutschfreundlichen Luxemburgern, die nicht geflüchtet sind.

Der „Letzeburger Freihétsbond“ (LFB) übernimmt die Gemeindeverwaltung und hält eine Sitzung im Rathaus ab, um über Probleme in der Lebensmittelversorgung zu diskutieren. 70 Männer der Miliz verhaften die Nazis. Die allgemeine Euphorie wird abrupt unterbrochen, als um 14 Uhr auf einmal zwei deutsche Lkws mit Soldaten und SS-Männern durch die „Niddeschgaass“, damals Adolf-Hitler-Straße, fahren. Sie überraschen die versammelten Düdelinger und schießen mit Maschinengewehren über die Köpfe der Menschen hinweg die luxemburgische Fahne vom Rathaus ab. Die Spuren davon sind bis heute zu sehen. Norbert Scherer stirbt durch deutsche Kugeln hinter dem Rathaus. 80 „Gielemännercher“ – Luxemburger Nazikollaborateure – kommen wieder frei. Die Männer müssen sich vor dem Rathaus versammeln. 400 werden dort eine Zeit lang als Geiseln festgehalten. Der Rest versteckt sich in den Wäldern oder flüchtet in die Nachbardörfer.

Die Stadt Düdelingen im Jahr 1941

Ein Opfer war erst neun, ein anderes 17 Jahre alt

Die SS durchkämmt die Stadt. Gegen 16.00 Uhr wird JeanMichel Ney hinter der Kirche erschossen. Corneille Schmitz und die neunjährige Nicole Fossati erwischt es zur gleichen Zeit im Park Le’h. Am Geschäftshaus Preti in der Nähe des Rathauses hängen kommunistische Fahnen. Dort wird abends ein Feuer gelegt, bei dem Eléonore Preti-Peeters und ihre 17-jährige Tochter Blanche Smeets ums Leben kommen.

Gegen Mitternacht verlässt die SS Düdelingen. Für einen Tag kehrt wieder Ruhe ein – bis am 4. September gegen Mittag zehn Gestapo-Leute und 20 Polizisten einmarschieren. Sie wollen die 60 Gewehre zurückhaben, die die Schutzpolizei am 1. September zurückgelassen hat. Daraufhin werden 32 gut situierte Bürger verhaftet: 15 sind Geiseln. Die restlichen 17 sollen die fehlenden Waffen einsammeln. Dabei kommen 115 Gewehre, Karabiner und Munition zusammen. Die 15 Geiseln werden daraufhin freigelassen.

Am Nachmittag folgt der nächste Coup: Die SS verhaftet M. Bockler, F. Kohner und Nic Weiwers. Sie werden nie wiedergesehen. Am 5. September kehren der deutsche Bürgermeister Klöckner und die Schutzpolizei nach Düdelingen zurück. Dann, am 9. September, kommen die ersten Amerikaner in Rodange über die Grenze. Die deutsche Verwaltung verlässt Düdelingen endgültig und flüchtet mit einem Lkw und einem Fahrzeug der Schmelz zurück nach Deutschland. „Der große Witz dabei ist, dass Düdelingen nie befreit wurde, denn die Amerikaner sind nie bis dorthin gekommen“, sagt Jean Reitz, während er auf die Ereignisse vom 10. bis 12. September eingeht.

Schilder der Nazi-Organisationen wurden entfernt

Düdelingen symbolisch befreien

Am 10. September wird um 10 Uhr die Information übermittelt, dass die Amerikaner in Luxemburg-Stadt seien. Emile Weiler und das Komitee des LFB fahren dorthin und bitten die Amerikaner darum, kurz nach Düdelingen zu kommen – jedoch ohne Erfolg.
In Volmerange-les-Mines sind ebenfalls amerikanische Truppen stationiert. Joseph Huss und Michel Lutgen fahren mit der gleichen Bitte dorthin. „Diese Amerikaner lassen sich überreden, um Düdelingen symbolisch zu befreien“, berichtet der Historiker. Die Düdelinger begrüßen den Konvoi mit acht Jeeps enthusiastisch, bis er die Stadt schon nach zehn Minuten wieder verlässt. Der erwartete feierliche Umzug bleibt aus.

Am 11. September fährt der LFB wieder nach Luxemburg-Stadt. Dort trifft er im amerikanischen Headquarter auf Prinz Felix, der verspricht, nach Düdelingen zu kommen. Ein Versprechen, das er am darauffolgenden Tag einlöst. Gemeinsam mit Prinz Jean wird er in einem Militärfahrzeug auf dem Rathausplatz von den Düdelingern empfangen. Prinz Jean wird auf den Schultern der Menschen ins Gebäude getragen.

Am 16. September findet ein großes Freiheitsfest statt. Um 10 Uhr wird ein feierliches Tedeum abgehalten. Danach werden Blumen für die sechs Opfer des 2. September niedergelegt. Um 15 Uhr zieht ein großer Umzug durch die Hauptstraßen. Die „Diddelenger Musek“ gibt ein Konzert auf dem Kiosk vor dem Rathausplatz. Die Mitglieder des LFB halten eine Ansprache.