FeierstundeEuropäisches Parlament feiert 70 Jahre, ist aber noch nicht volljährig

Feierstunde / Europäisches Parlament feiert 70 Jahre, ist aber noch nicht volljährig
Das Europäische Parlament gestern während der Rede von Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel zum 70. Jahrestag des Bestehens der europäischen Volksvertretung Foto: Frederick Florin/AFP

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Viele Worte und keine Torte gab es zum 70. Geburtstag des Europäischen Parlaments. Der Jubilar steht gerade in Zeiten des Krieges in Europa für die Bedeutung des europäischen Friedensprojekts. Er hat sich im Laufe der Jahrzehnte viele Rechte erkämpft. Es sind längst nicht genug.

Keine Blumengirlanden, kein Streichquintett. Das Europa-Parlament begeht seinen 70. in Straßburg im eher schlichten Arbeitsmodus, quasi im Vorübergehen. Vorher debattieren die 705 Männer und Frauen über die künftige Verpflichtung aller größeren Firmen in der EU, mehr Frauen in die Aufsichtsräte zu bringen, hinterher wird der Abstimmungsmotor angeschmissen – von der kritischen Infrastruktur bis zu Fischereirechten. Möglicherweise ist das sogar der größte Beweis für den in Straßburg plakativ gehissten Anspruch, „70 Jahre europäische Demokratie in Aktion“ feiern zu können. Die Maschine läuft. Aber funktioniert der europäische Parlamentarismus wirklich gut?

Helmut Kohl, der deutsche Bundeskanzler von 1982 bis 1998, und François Mitterrand, der französische Präsident von 1981 bis 1995, bekommen bei der Zeremonie an diesem Dienstag im Straßburger Plenarsaal heftigen Applaus, als sie im 70-Jahre-Video auftauchen. Der eine sagt im Überschwang des Mauerfalls: „Der Aufbau des vereinten Europas ist vor allem ein Werk des Friedens.“ Der andere bringt es wenig später auf den Punkt: „Nationalismus, das ist der Krieg.“

Einem geht das unter die Haut. Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel legt seine vorbereitete Festrede beiseite, greift vielmehr die Bilder auf, weil sie noch klarer gemacht haben, was da sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg als Gemeinsame Versammlung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl seinen Anfang nahm. Er selbst hätte im vom Nationalsozialismus beherrschten Europa „kein Lebensrecht“ gehabt, sagt Bettel – als liberaler Politiker mit jüdischen Wurzeln, der mit einem Belgier verheiratet sei.

Er verknüpft die damals überwunden geglaubte Vergangenheit mit der Gegenwart, in der die Existenz der Gaskammern wieder geleugnet werde – und unterstreicht damit die Bedeutung von Simone Veil. Damit erinnert er daran, dass 1979 eine Holocaust-Überlebende erste Präsidentin des ersten direkt gewählten Europa-Parlaments wurde. Es ist bezeichnend, dass es Beifall im ganzen Haus für die Kritik an der Leugnung der Gaskammern gibt, nicht jedoch von den ohnehin spärlich besetzten Reihen der rechtspopulistischen und rechtsextremen Abgeordneten.

Große Defizite an parlamentarischen Abläufen

EKR-Fraktionschef Ryszard Legutko tut der Zeremonie sogar den Gefallen, die Gefahren durch Populismus und Verschwörungserzählungen in den Plenarsaal zu holen. Die „bittere Wahrheit“ sei, dass das Europa-Parlament „viel Schaden in Europa angerichtet“ habe und ein „politisches Vehikel der Linken“ sei, um „anderen Stimmen“ mit Intoleranz zu begegnen. Kühl reagiert Parlamentspräsidentin Roberta Metsola auf die vom polnischen PiS-Politiker begangene Provokation. Er habe „soeben unter Beweis gestellt, dass es hier Vielfalt gibt“.

Es ist jedoch zumeist eine trist präsentierte Vielfalt. Das Europa-Parlament könnte stellvertretend für alle 450 Millionen Europäer in der EU um den richtigen Weg durch die Krise ringen, ein europäisches Forum für die nationenübergreifenden Grundentscheidungen bilden. Doch meistens treten die Redner für eine in 60 bis 90 Sekunden gepresste Rede ans Pult, ohne die Vorredner gehört zu haben oder auf diese einzugehen. Die bisherigen Reformen haben an den großen Defiziten in den Abläufen zu wenig geändert.

Dass die EU-Parlamentarier immer noch die Debatte von der Abstimmung trennen, dazwischen nicht nur Stunden oder Tage, sondern mit unter sogar Wochen verstreichen lassen, macht die Sympathie für den EU-Parlamentarismus zu einer herausfordernden Sache. Erst recht, wenn Dutzende oder Hunderte von Änderungsanträgen binnen weniger Sekunden in Form einer Abfolge von Buchstaben und Ziffern per Knopfdruck abgewickelt werden. Der konkrete Inhalt des wichtigen legislatorischen Aktes erschließt sich in solchen Augenblicken nicht einmal den meisten Abstimmenden.

Dem Altersjubilar fehlen Rechte

Das ist nur die Oberfläche der problematischen Situation. Dem Altersjubilar fehlen die Rechte eines Volljährigen. Das Parlament kann nicht einmal selbst darüber entscheiden, wo es tagt. Denn der Rat der Regierungen will sich nicht darauf einlassen, den Wanderzirkus zwischen Brüssel, Straßburg und Luxemburg infrage zu stellen. Und selbst das Königsrecht eines Parlaments, die gesamten Finanzen zu gestalten und zu kontrollieren, kollidiert mit der Realität, in der das Parlament auf viele Sondertöpfe außerhalb des Haushalts mit Multi-Milliarden-Programmen keinen Zugriff hat. Genauso bleibt das Parlament bei den Details der Energiepreisgestaltung außen vor. Der Jahrestag stehe auch für 70 Jahre Demokratiefortschritte, sagt Parlaments-Vizepräsidentin Katarina Barley. „Das Europäische Parlament ist bereit, den nächsten Schritt zu gehen“, sagt die S&D-Politikerin dem Tageblatt. Selbst Gesetzentwürfe einzubringen und transnationale Listen für die Europawahlen aufzustellen, sei „der nächste logische Schritt auf dem Weg zur Stärkung der europäischen Demokratie“. Beides fehlt. Wie vieles andere.

Und doch. Das Parlament ist hinter den Kulissen oft wirkmächtiger, als es von einer auf Kommission und Regierungsgipfel fixierten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Tatsächlich treten die Abgeordneten täglich den Beweis an, dass europäische Verständigung zwischen mehr als hundert Parteien durchaus gelingen kann. „Es ist kein Zufall, dass die EU-Flagge über Cherson gehisst wurde nach der Befreiung“, hält Parlamentspräsidentin Metsola fest. Das Parlament sei für die Verteidigung der Demokratie ein „Leuchtturm“. Metsola beschränkt sich nicht aufs Verwalten, sie will mehr, reist durch die Lager und Hauptstädte, um das Parlament mit Überzeugungsarbeit voranzubringen. Dass eine wie sie zum 70. die Spitze bildet, ist deshalb ein gutes Zeichen.

Von den Anfängen zur Direktwahl

1952 bilden Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS/CECA). Die erste supranationale Behörde kann Regeln für alle erlassen und wird flankiert von der „Gemeinsamen Versammlung“ mit 78 von den Mitgliedsländern ernannten Parlamentariern.

1958 kommen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft hinzu. Das Parlament mit nun 142 entsandten Abgeordneten befasst sich mit allen drei Gemeinschaften und nennt sich nun „Europäische Parlamentarische Versammlung“. Alle haben folglich ein Doppelmandat – national und europäisch.

1979 erfolgt nach jahrelangem Ringen zwischen Rat und Parlament und der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten die erste Direktwahl der Europa-Abgeordneten. Heute sind es 705 aus 27 Ländern, davon sechs aus Luxemburg. Die nächste Wahl ist im Frühjahr 2024.