GipfeltreffenEU-Staaten legen alle Optionen im Streit mit Polen über die Rechtsstaatlichkeit auf den Tisch

Gipfeltreffen / EU-Staaten legen alle Optionen im Streit mit Polen über die Rechtsstaatlichkeit auf den Tisch
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki beharrt beim EU-Gipfel auf seinem Standpunkt Foto: Olivier Hoslet/Pool/AFP

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Wie im Vorfeld abzusehen war, stand der Streit mit Polen über die Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt beim gestrigen Auftakt des zweitägigen Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Vorerst soll die Regierung in Warschau im Dialog überzeugt werden, auch wenn manche bereits mit dem Entzug von EU-Geldern drohen.

Am späten Donnerstagabend war noch nicht abzusehen, wie die Diskussionen zwischen den 27 über das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, das dem nationalen Recht Vorrang vor dem EU-Recht einräumt, enden würden. Das Thema wurde erst nach den Gesprächen über die Entwicklung der Energiepreise, die nach fast fünf Stunden vorerst ohne Einigung abgebrochen wurden, angesprochen. Klar war aber, dass der Streit nicht bei diesem Gipfeltreffen beigelegt werden würde. Dafür liegen die Ansichten über die Rechtsstaatlichkeit in der EU zu weit auseinander.

Einfach dürfte die Aussprache zwischen den 27 jedoch nicht gewesen sein, denn es geht um die Grundfeste der Europäischen Union. Und um sehr viel Geld, zumindest für Polen. Die Positionen sind spätestens seit Beginn dieser Woche klar und wurden gestern vor dem Beginn der Beratungen von verschiedenen Akteuren noch einmal dargelegt. Insbesondere von den Vertretern der Benelux-Staaten. Am deutlichsten wurde der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Er habe ein Problem damit, wenn aus dem Corona-Wiederaufbaufonds viel Geld nach Warschau fließen sollte – immerhin geht es dabei um insgesamt 36 Milliarden Euro –, wenn die Frage „der Unabhängigkeit der Justiz in Polen“ noch nicht geklärt sei. Denn hier sieht der Niederländer, ebenso wie Xavier Bettel, das eigentliche Problem.

Der luxemburgische Premierminister wies darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in einem Urteil im Sommer die Legitimität des obersten polnischen Gerichts infrage gestellt hatte. Dies gelte es zuerst zu klären, bevor man sich mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts befasse, sagte Xavier Bettel. Der Luxemburger setzt vorerst auf Dialog, meint aber, dass Geld ebenfalls als Argument gegenüber Warschau eingesetzt werden könne.

Polen muss die finanzielle Drohkulisse, die da ist, sehr ernst nehmen

Alexander Schallenberg, österreichischer Bundeskanzler

Grundwerte seien unverhandelbar, „es kann kein Werte-Rosinenpicken geben“, meinte seinerseits der neue österreichische Kanzler, Alexander Schallenberg. Er warnte ebenso wie andere EU-Staaten die Regierung in Warschau vor möglichen Konsequenzen in dieser Auseinandersetzung. „Polen muss die finanzielle Drohkulisse, die da ist, sehr ernst nehmen“, so Schallenberg.

Orban unterstützt PiS-Regierungschef

Im Gegensatz daz, sieht der ungarische Regierungschef keinen Handlungsbedarf. „Polen? Das beste Land in Europa!“, meinte Viktor Orban beim Eintreffen im Ratsgebäude. Die Frage nach eventuellen Sanktionen gegen Polen quittierte der Ungar mit einem: „Das ist lächerlich!“ Und er belehrte die Journalisten, dass nichts über den Vorrang des EU-Rechts in den Verträgen stehe. EU-Recht habe nur Vorrang in jenen Bereichen, in denen die EU Kompetenzen habe. Hingegen würden „EU-Institutionen die Rechte nationaler Parlamente und Regierungen umgehen und die Verträge ändern“, ohne dazu legitimiert zu sein, wiederholte Viktor Orban die gleichen Argumente, die der polnische PiS-Regierungschef Mateusz Morawiecki bereits am Dienstag in einer Debatte im Europäischen Parlament (EP) angeführt hatte.

Gestern Abend wurde erst einmal auf Dialog gesetzt. Das hatte vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angemahnt. Es müssten „Wege und Möglichkeiten“ gefunden werden, „hier wieder zusammenzukommen“, sagte sie vor dem Beginn des Gipfels. „Eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ist noch keine Lösung des Problems, wie Rechtsstaatlichkeit gelebt werden kann“, so die deutsche Kanzlerin weiter, die allerdings auch das Vorgehen der EU-Kommission in der Angelegenheit unterstützt. Und die hat, das hatte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag gegenüber Mateusz Morawiecki deutlich gemacht, gleich mehrere Möglichkeiten zur Hand: ein Vertragsverletzungsverfahren; sie kann den Rechtsstaatsmechanismus aktivieren, womit die Kommission die Auszahlung von EU-Geldern an Polen aussetzen kann; oder sie leitet ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags ein, die sogenannte „Nuklearoption“, die für die polnische Regierung die Aussetzung des Stimmrechts in der EU bedeuten kann. Dem Vernehmen nach haben sich mehrere Mitgliedstaaten während der Diskussionen gestern Abend dafür ausgesprochen, alle Instrumente einzusetzen, die in den EU-Verträgen und bestehenden Gesetzestexten dazu vorgesehen sind.

„Ich denke, wir als Europäischer Rat haben ebenfalls eine Rolle zu spielen, nicht nur die Kommission. Wir können weiter am Artikel 7 arbeiten“, hatte zuvor bereits Mark Rutte erklärt. Denn gegen Polen läuft aufgrund der „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“ bereits ein solches Verfahren, das die EU-Kommission schon im Dezember 2017 wegen der polnischen Justizreform eingeleitet hatte. Seitdem hat sich in diesem Fall allerdings nichts getan.

Keine Einigung bei Energiefrage

Keine Einigung gab es gestern Abend vorerst darüber, wie auf die steigenden Energiepreise reagiert werden soll. Einige EU-Staaten sprachen sich für gemeinsame Gaseinkäufe aus. Xavier Bettel hatte zuvor erklärt, dass dazu erst eine Impaktstudie gemacht werden sollte und jene Staaten, die dies wünschten, dies auch tun könnten. Die EU-Kommission hatte bereits vergangene Woche vorgeschlagen, Verbraucher durch unterschiedliche finanzielle Maßnahmen wie Gutscheine und Steuersenkungen zu unterstützen. Einen Eingriff in den Energiemarkt lehnten mehrere Staaten allerdings ab. Zudem wurde von mehreren Ländern die Vermutung verworfen, dass die steigenden Energiepreise in direktem Zusammenhang mit der „Fit for 55“-Strategie der EU-Kommission stünden, laut der bis 2030 die Treibhausgasemissionen in der EU um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 reduziert werden sollen.