GaskriseEU-Partner dringen auf längere deutsche Atomkraft

Gaskrise / EU-Partner dringen auf längere deutsche Atomkraft
Das deutsche Atomkraftwerk Neckarwestheim sollte nur noch bis zum Jahresende Strom liefern Foto: AFP/Thomas Kienzle

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Belgien sagt den Atomausstieg ab, Estland will in die Kernkraft einsteigen, viele bauen aus. Einen Gasnotstand im Winter vor Augen, erwarten EU-Partner auch von Deutschland, das Aus für die letzten AKW zu verschieben.

Es wurde viel wechselweise Solidarität beschworen, als es in dieser Woche um einen Gasnotfallplan der EU ging. Die EU-Kommission tat es und verwies darauf, dass angesichts der unklaren Gas-Lieferlage Russlands eine Krise in einem Mitgliedsland Folgen auch in den anderen haben würde. Und Deutschland tat es. Denn es gehört zu denen, die sich am stärksten von russischem Gas abhängig gemacht haben – und deshalb vermehrtes Gassparen in der EU einfordern. Doch einige andere Staaten schicken die Solidaritätserwartung nun zurück, adressiert an die deutsche Bundesregierung. Die solle gefälligst die Kernkraftwerke durch die kritische Energiephase weiter laufen lassen. Und gerade abgeschaltete wieder ans Netz bringen.

Neue Kernkraftwerke planten einige EU-Mitglieder schon vor dem russischen Angriffskrieg. Polen gehört dazu, Bulgarien, Rumänien, Tschechien, die Slowakei und Frankreich sowieso. Unter dem Eindruck der jüngsten Entwicklungen hat Belgien den für 2025 fixierten Atomausstieg um mindestens zehn Jahre nach hinten gelegt. Die im deutsch-belgischen Grenzraum wegen Tausender von Haarrissen besonders kritisierten Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 sollen zwar noch in diesem Jahr endgültig runtergefahren werden. Doch die Verhandlungen über zehn weitere Jahre für Doel 4 und Tihange 3 sind in dieser Woche deutlich vorangekommen.

Estland will mit Hochdruck in die Kernenergie einsteigen, und zwar mit moderner SMR-Reaktortechnik. Dieses „Small Modulare Reactor“-Konzept beruht auf kleineren, modularen und sichereren Typen, die zwar weniger Strom liefern, aber billiger und schneller verfügbar sind. Damit liebäugelt auch Finnland bei der Ausweitung seines Atomstroms. Politisch getrieben wird das finnische Atomprogramm auch von den mitregierenden finnischen Grünen, die schon vor Jahren eine Kehrtwende betrieben, um bei der Energieversorgung schneller klimaneutral sein zu können.

Kernkraftwerke weiter laufen lassen

Das sei ursprünglich auch einmal Überzeugung in Deutschland gewesen: Ein Energiemix aus Wind- und Kernenergie, erinnert der EU-Industrie-Experte Christian Ehler. Als Reserve für Spitzenzeiten und Flauten. In seinen Gesprächen mit Energie-Experten anderer EU-Länder hört Ehler vor allem zwei Erwartungshaltungen heraus: Dass Deutschland seine Energiepolitik endlich mit den benachbarten Partnern abstimmt und diese nicht länger mit Sonderwegen vor den Kopf stößt, wie etwa beim gleichzeitigen Ausstieg aus Kernkraft und Kohle. Und dass das Land alles tut, um einen bei vielen befürchteten Winter-Blackout mitten in Europa zu verhindern. Alles schreiben sie mit A, wie Atomkraft.

Konkret machte das jüngst unter anderem der slowakische Energieminister Richard Sulik beim Ministertreffen in Brüssel. Deutschland möge seine drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke weiterlaufen lassen, beziehungsweise die drei im vergangenen Jahr abgeschalteten wieder hochfahren. Ähnlich äußerte sich Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Und auch aus Polen sind derartige Vorschläge zu hören. Unionschef Friedrich Merz griff das nach seinem Polen-Besuch auf und erinnerte daran, dass selbst der TÜV einen Weiterbetrieb für unproblematisch halte.

Die drei letzten zum Ausstieg am Jahresende anstehenden Kernkraftwerke liefern derzeit noch Strom von Niedersachsen (Emsland), Bayern (Isar 2) und Baden-Württemberg (Neckarwestheim) aus. Die drei für ein Neuanfahren in Frage kommenden stehen in Schleswig-Holstein (Brokdorf) sowie ebenfalls in Niedersachsen (Grohnde) und Bayern (Grundremmingen). EU-Partner rechnen vor, dass Deutschland damit 15 Milliarden Kubikmeter Gas durch Atomstrom ersetzen könnte – die Hälfte dessen, was die EU insgesamt diesen Winter einzusparen versuche.

Viele wollen mit Strom heizen

Die deutschen Grünen in Europa halten dagegen: „Der Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke würde den Gasverbrauch in Deutschland um gerade einmal ein Prozent senken“, sagt der Energie-Experte und Europa-Abgeordnete Michael Bloss. „Jeder bei Verstand sieht, dass der Weiterbetrieb die ineffizienteste Variante wäre, Gas einzusparen.“ Frankreich und Ungarn hätten beim Ausbau von Wind- oder Solarkraft jahrelang geschlafen oder ihn aus ideologischen Gründen abgelehnt. „Frankreichs Atomindustrie bröckelt vor sich hin, weshalb Deutschland dem Land mit grünem Strom aushilft“, erinnert Bloss.

Die FDP in Deutschland will die Laufzeitverlängerung, aus der SPD ist zu hören, dass zumindest ein „Strecken“ des Betriebs bis zum Aufbrauchen der vorhandenen Brennstäbe vorstellbar sei. Und die Grünen haben sich mit einem „Stresstest“ erst einmal Zeit erkauft. Es zeichnet sich als Kompromissangebot der „Streckbetrieb“ zumindest eines Werkes ab. Doch ob sich der Strombedarf der Deutschen in einem strengen Winter exakt vorhersagen lässt, steht auf einem anderen Blatt. Die letzten Wochen waren geprägt von einem Run auf elektrische Heizlüfter. Viele denken offenbar daran, die teuren Gasheizungen runterzuregeln und es sich mit Strom warmzumachen. Dann käme der Druck auf den Atomstrom nicht nur aus dem Ausland, sondern auch von innen.

Grober J-P.
31. Juli 2022 - 9.28

Was bleibt uns denn noch? Mosel leer, Lac du Mirgenbach leer, Cattenom steht still. Leute blasen, blasen, Wind machen!