Ukraine-KriegEU-Justizminister wollen internationales Sondertribunal für russische Kriegsverbrechen

Ukraine-Krieg / EU-Justizminister wollen internationales Sondertribunal für russische Kriegsverbrechen
Der schwedische Justizminister Gunnar Strömmer begrüßt seine luxemburgische Amtskollegin Sam Tanson beim informellen Treffen der EU-Justizminister in Stockholm Foto: Jessica GOW/TT News Agency/AFP

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Zumindest die europäischen Staaten sind sich einig darin, dass die von Russland begangenen Kriegsverbrechen in der Ukraine geahndet werden müssen. Wie das gehen soll, unter anderem darüber berieten gestern die EU-Justizminister während einer informellen Ratstagung in Stockholm.

Spätestens nachdem im Frühjahr vergangenen Jahres die Verbrechen russischer Soldaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung, vor allem in den Städten Butscha und Irpin, bekannt wurden, steht zumindest für die EU-Staaten fest, dass im Zuge des russischen Invasionskrieges in der Ukraine begangene Kriegsverbrechen bestraft und die Urheber zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Es könne keine Straflosigkeit für diese Verbrechen geben, stellte der schwedische Justizminister und EU-Ratsvorsitzende Gunnar Strömmer gestern in Stockholm klar. Vergangene Woche bereits hatte das Europäische Parlament die Schaffung eines Sondertribunals zur Ahndung russischer Kriegsverbrechen in einer mit großer Mehrheit verabschiedeten Resolution gefordert. Am Donnerstag nun schloss sich der Europarat, dem neben den 27 EU-Staaten noch 19 weitere europäische Staaten angehören, einstimmig dieser Forderung an.

Doch vorerst müssen sich die EU-Staaten darüber einig werden, welche Art von Tribunal sie sich vorstellen. Zwar ist der Internationale Strafgerichtshof bereits in die Erhebung von Beweisen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine eingebunden. Da Russland dem Gerichtshof in Den Haag jedoch nicht beigetreten ist, kann dieser die Verbrechen nicht verfolgen. Für die Schaffung des neuen Gerichtshofs seien derzeit alle Optionen auf dem Tisch, sagte EU-Justizkommissar Didier Reynders gestern in Stockholm. Demnach stünden sowohl die Einrichtung eines internationalen Spezialtribunals als auch die eines „hybriden Tribunals“ zur Diskussion. Letzteres hätte seinen Sitz in der Ukraine, sei aber mit internationalen Richtern besetzt, so Reynders. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatte vorgeschlagen, ein Gericht nach ukrainischem Recht einzurichten. Auch die französische Vertreterin beim gestrigen Rat, Isabelle Jegouzo, meinte, ihr Land tendiere zu einem hybriden Gerichtshof.

Sam Tanson will keinen „hybriden Gerichtshof“

Andere EU-Staaten lehnen dies allerdings ab. Die luxemburgische Justizministerin Sam Tanson erklärte in Stockholm, die „Analyse“ ergebe, „dass es zu einem Spezialtribunal kommen muss“. Dieses sollte „in aller Unabhängigkeit“ arbeiten können. Tanson sprach sich gegen einen hybriden Gerichtshof und für ein internationales Tribunal aus, das komplementär zum Internationalen Strafgerichtshof funktionieren sollte. Es sollte vermieden werden, dass die Unabhängigkeit des Gerichts infrage gestellt wird, so die luxemburgische Justizministerin.

Das sehen auch andere EU-Staaten so. So strebt der belgische Justizminister Vincent van Quickenborne eine internationale Unterstützung für das Sondertribunal an. Es sollte weltweit Unterstützung finden und nicht nur von europäischen Staaten und den USA getragen werden, so der Belgier. Die lettische Justizministerin Inese Libina-Egnere sprach sich ebenfalls für ein internationales Gericht aus und gab an, dass die drei baltischen Staaten in dieser Frage auf einer Linie lägen. Auch Didier Reynders wünscht sich eine möglichst breite Unterstützung, inklusive jene der Vereinten Nationen. Doch zunächst müssten die Europäer eine gemeinsame Position über die Art des Tribunals finden, bevor es zu einer Diskussion in der Generalversammlung der Vereinten Nationen kommt. Womöglich könnte diese über die Einsetzung des Tribunals entscheiden, wozu jedoch eine entsprechende Mehrheit erforderlich ist. Der Weg, über den UN-Sicherheitsrat für die Schaffung eines Sondertribunals zu gehen, ist hingegen sinnlos, da Moskau hier über ein Veto-Recht verfügt.

„Viele Fortschritte“

Die 27 hätten gestern „viele Fortschritte“ gemacht, sagte der EU-Justizkommissar, doch bleiben noch viele Fragen offen. Etwa, wer vor dem Tribunal zur Rechenschaft gezogen werden soll. „Ich denke, es ist sehr, sehr wichtig, dass Russland und alle Kriegsverbrecher hier zur Rechenschaft gezogen werden“, meinte Sam Tanson. Was allerdings, aufgrund der Anzahl der bereits registrierten Kriegsverbrechen, eine enorme und kaum zu bewältigende Aufgabe wäre. Fast 65.000 Vorfälle mutmaßlicher internationaler Verbrechen seien bislang aus der Ukraine berichtet worden, sagte Didier Reynders. Dies sei die größte Zahl an dokumentierten Kriegsverbrechen aller Zeiten. Und es sei das erste Mal, dass so früh mit der Dokumentation von Kriegsverbrechen begonnen wurde. Der EU-Justizkommissar meinte, dass das möglicherweise „ein Wendepunkt“ bei der Verfolgung solcher Verbrechen sein könnte.

Didier Reynders verwies darauf, dass mittlerweile 14 EU-Mitgliedstaaten Untersuchungen zu internationalen Verbrechen in der Ukraine aufgenommen hätten. Bei der Beweisaufnahme würden zudem Eurojust und die ukrainischen Behörden zusammenarbeiten. Der EU-Justizkommissar plädierte jedoch, dafür als ersten Schritt eine Strafverfolgungsbehörde aufzubauen, die die Beweise über Kriegsverbrechen sammelt und sichert. Daran werde derzeit zusammen mit dem Internationalen Strafgerichtshof und der Ukraine gearbeitet.