Naher Osten„Es war noch nie schlimmer“ – Aktivisten äußern sich zur Menschenrechtssituation in Ägypten

Naher Osten / „Es war noch nie schlimmer“ – Aktivisten äußern sich zur Menschenrechtssituation in Ägypten
Abdel Fattah al-Sisi regiere das Land mithilfe des Militärs, erklären die Aktivisten. Die Streitmacht sei seine eigentliche politische Partei, so Menschenrechtler Mohamed Zaree. Foto: Editpress/Christine Lauer

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Ägypten wird in den nächsten Wochen und Monaten eine wichtige Rolle als Vermittler im Nahostkonflikt spielen. Umso wichtiger ist die politische und gesellschaftliche Stabilität des Landes. Diese könnte jedoch bedroht werden durch die nationale Menschenrechtssituation, die in den Augen von drei bekannten Aktivisten schlimmer denn je erscheint. Wir sprachen in Kairo mit den drei Menschenrechtlern Mohamed Zaree, Mohamed Lotfy und Ragia Omran. Die Möglichkeit dazu gab die Dienstreise von Außenminister Jean Asselborn durch den Nahen Osten, an der auch das Tageblatt teilnimmt.

„Ägypten wirkt wie ein stabiles Land, aber es ist sehr zerbrechlich“, sagt der Mann mit der hellblauen Brille und dem karierten Sakko. Wir befinden uns gerade in der niederländischen Botschaft in Kairo, durch das Fenster sehen wir das übersättigte Grün des Kunstrasens und dahinter die meterhohen Metallstäbe des Zauns, der das Gebäude von den lärmenden Straßen der Metropole trennt. Bei dem Mann, der die Augen hinter dem rund umrahmten Glas nervös zusammenkneift, handelt es sich Mohamed Zaree, einem unserer Gesprächspartner am Mittwochnachmittag. Wie die anderen beiden Vertreter der Zivilgesellschaft, mit denen die Journalisten der ministeriellen Delegation an dem Tag reden dürfen, engagiert er sich für Menschenrechte in der arabischen Welt. Seine Einschätzung über die aktuelle Lage in Ägypten: „Es war noch nie schlimmer.“

Das Land, bekannt wegen seiner phänomenalen Kulturstätten und dem Suezkanal, hat in den letzten Jahrzehnten viel durchlebt. Nach dem autoritären Regime Mubaraks von 1981 bis 2011, das durch den Arabischen Frühling jäh beendet wurde, zog 2012 mit Mohammed Mursi erstmals ein Vertreter der Muslimbruderschaft ins ägyptische Präsidentenamt ein. Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi putschte sich dann mithilfe des Militärs ein Jahr später an die Macht – seitdem regiert er Ägypten auf autoritäre und repressive Weise. „Auch Mubarak war totalitär, doch er leitete das Land mit einer gewissen Rationalität“, erklärt Zaree seine Sicht der Dinge. „Aber jetzt gibt es nur noch blinde irrationale Repression.“ Al-Sisi habe nämlich gesehen, was mit Mubarak passiert sei, und davor habe er jetzt selbst Angst. Deswegen gehe er eisern gegen die Art der Opposition vor.

Mindestens 107 Exekutionen in Ägypten

Mit der Ansicht, dass sich die Situation in Ägypten verschlimmere, steht Zaree nicht allein da. Auch Mohamed Lotfy, der an diesem heißen Nachmittag neben Zaree sitzt, ist betroffen von der Entwicklung in seinem Land und erzählt von den Vergehen der Regierung gegen die ägyptische Bevölkerung. Menschen, die als Opponenten eingestuft würden, würden verschwinden und/oder festgenommen werden. Sie würden – wie uns die dritte Anwesende, Juristin Ragia Omran, später genauer erklärt – für unbestimmte Zeit in Haft sitzen, ohne dass sie zuvor schuldig gesprochen worden wären. Oder aber sie würden nach einer Verurteilung in einem oft unfairen Prozess zunächst eine Haftstrafe verbüßen und dann, kurz vor ihrer Entlassung, wegen einem anderen Vergehen neu angeklagt und verurteilt werden, sodass sie in einem sogenannten „Rotationssystem“ Freiheitsentzug nach Freiheitsentzug über sich ergehen lassen müssten. Dabei würde auch Folter als Mittel, ein Geständnis zu erzwingen, eingesetzt werden.

Die Erzählungen der drei Aktivisten, die sich durch ihr Engagement der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen, deuten in dieselbe Richtung wie die Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch. Laut letzterer habe der ägyptische Sicherheitsapparat im Jahr 2020 Zehntausende von Personen willkürlich belangt (hier zum aktuellen Ägypten-Report). Folterverbrechen an Gefangenen seien „systematisch und weit verbreitet“. Auch Kinder seien davon betroffen. Als trauriger Höhepunkt entpuppt sich jedoch die Zahl der verhängten Todesstrafen und Exekutionen im Jahr 2020. Laut Amnesty International habe Ägypten vergangenes Jahr mindestens dreimal so viele Menschen als 2019 hingerichtet – mindestens 107 sollen es gewesen sein. Damit belegt Ägypten weltweit den zweiten Platz und ist mit dem Iran (mindestens 246 Hinrichtungen), dem Irak (mindestens 45 Hinrichtungen) und Saudi-Arabien (27 Hinrichtungen) für 88 Prozent aller Exekutionen verantwortlich – die Volksrepublik China, über die kein Datenmaterial bekannt ist, ausgeklammert.

Demokratie als Zukunftstraum

Der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House zufolge liegt Ägyptens Demokratieindex bei 18 von 100 Punkten. Damit gilt Ägypten als „nicht freies“ Land. Mit in die Errechnung dieses Wertes fließen Faktoren wie der politische Pluralismus oder individuelle Rechte ein. Auch die Meinungs- und Pressefreiheit werden für die Ermittlung des Indexes mit einbezogen. „Der ägyptische Mediensektor wird von regierungsfreundlichen Sendern dominiert; die meisten kritischen oder oppositionell orientierten Sender wurden nach dem Putsch 2013 geschlossen“, schreibt Freedom House in seinem aktuellen Bericht über Ägypten. Dass sich die Medien unter der vollständigen Kontrolle der Regierung befänden, erzählen uns auch Zaree und Lotfy. Erst vergangene Woche habe es wieder eine vom Geheimdienst gesteuerte Schmutzkampagne gegen Bekannte von ihnen gegeben, sagt Zaree. Das heißt: Die Presse wird als Propagandamaschine genutzt, um als gefährlich eingestufte Personen öffentlich zu diskreditieren. Kritische Berichterstatter würden indes mundtot gemacht werden. „Nur in der Türkei und in China gebe es mehr verhaftete Journalisten als hier“, sagt Lotfy.

„Stabilität geht einher mit Gerechtigkeit und Menschenrechten“, sagt Zaree, und spricht damit am Ende des Gesprächs die Zukunftsvision an, die ihn und Lotfy in ihrem Aktivismus vereinen. Beide Männer glauben nach wie vor an die Möglichkeit einer freieren Gesellschaft. Für sie führt der Weg dahin über die Einführung und Festigung eines demokratischen Systems. „Diese Region ist fähig zur Demokratie“, bekräftigt Lotfy. Für diesen Glauben setzen er und seine Mitstreiter weiter ein, auch wenn die Frage, wie genau dieses Ziel zu erreichen ist, bis zuletzt unbeantwortet bleibt.

Der Arabische Frühling sei eine Chance gewesen, eine freie Gesellschaft zu schaffen, sagt Mohamed Lotfy. Was folgen würde, konnte damals niemand ahnen.
Der Arabische Frühling sei eine Chance gewesen, eine freie Gesellschaft zu schaffen, sagt Mohamed Lotfy. Was folgen würde, konnte damals niemand ahnen. Foto: Editpress/Christine Lauer

Mohamed Lotfy

Mohamed Lotfy ist einer der Gründer der Ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheiten (ECRF), einer Organisation, die seit 2013 in mehreren Gouvernements für die friedliche Verteidigung der Menschenrechte arbeitet. Die ECRF dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und fördert das Bewusstsein der Bürger und die Beteiligung der Gemeinschaft an Menschenrechts- und Entwicklungsbemühungen. Ihre Mitglieder ermitteln das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen und Folter im Land. Lotfy war Rechercheur bei Amnesty International. Er hat auch die Schweizer Staatsbürgerschaft, die ihm einen gewissen Schutz bietet, aber seine Frau, Amal Fathy, wird strafrechtlich verfolgt, um ihn unter Druck zu setzen. 2018 wurde Lotfy mit dem Deutsch-Französischen Menschenrechtspreis ausgezeichnet.

Ägypten gebe sich nach außen hin progressiv, erzählt Mohamed Zaree, doch in den letzten Jahren habe es viele Rückschritte gegeben, was die Rechte von Frauen und Minoritäten anbelangt
Ägypten gebe sich nach außen hin progressiv, erzählt Mohamed Zaree, doch in den letzten Jahren habe es viele Rückschritte gegeben, was die Rechte von Frauen und Minoritäten anbelangt Foto: Editpress/Christine Lauer

Mohamed Zaree

Mohamed Zaree ist ägyptischer Landesdirektor des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien (CIHRS), einer unabhängigen regionalen Nichtregierungsorganisation, die sich für die Achtung der Prinzipien von Menschenrechten und Demokratie in der arabischen Region einsetzt. Im Jahr 2017 wurde Mohamed Zaree mit dem Martin-Ennals-Preis ausgezeichnet. Aufgrund zunehmender Bedrohungen verlegte das CIHRS 2014 seinen Hauptsitz nach Tunis. Ende letzten Jahres wurde sein Direktor, Bahey el-Din Hassan, vom Fünften Terrorismusgericht in Kairo zu 15 Jahren Haft verurteilt – es war das erste Mal, dass ein Terrorismusgericht in Ägypten über einen Menschenrechtsfall urteilte. Wie Baghat unterliegt auch Zaree einem Reiseverbot und seine Bankkonten sind wegen des Foreign Funding Case eingefroren.

„Viele meiner Freunde befinden sich zurzeit im Gefängnis“, sagt Rechtsanwältin Ragia Omran
„Viele meiner Freunde befinden sich zurzeit im Gefängnis“, sagt Rechtsanwältin Ragia Omran Foto: Editpress/Christine Lauer

Ragia Omran

Ragia Omran ist eines der wenigen unabhängigen Mitglieder des Nationalrats für Menschenrechte. Von Beruf Unternehmensanwältin mit fast zwanzigjähriger Erfahrung in Bank- und Finanzgeschäften ist sie in ihrer Freizeit als Anwältin in Menschenrechtsfällen tätig. Omran ist Gründungsmitglied der Front to Defend Egypt’s Protesters und von No to Military Trials for Civilians, zwei Gruppen, die pro bono Rechtshilfe und Unterstützung für Familien von Inhaftierten anbieten. Sie war auch eine langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin des Hisham Mubarak Law Center, das kostenlose Rechtshilfe für Opfer von Folter und willkürlicher Inhaftierung anbietet. Sie ist auch ein führendes Mitglied der New Woman Foundation, die sich für reproduktive Rechte und die politische Partizipation von Frauen einsetzt. 2017 wurde sie mit dem Deutsch-Französischen Menschenrechtspreis ausgezeichnet.


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