Luxemburg und die Nachbarn„Nach wie vor in nationalen Denkmustern“: Experte fordert politischen Vertrag für die Großregion

Luxemburg und die Nachbarn / „Nach wie vor in nationalen Denkmustern“: Experte fordert politischen Vertrag für die Großregion
 Fotos: Tania Feller/Editpress

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Franz Clément (53) beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Thema Grenzgänger. Seitdem arbeitet der promovierte Soziologe am sozialwirtschaftlichen Forschungsinstitut Liser in der Abteilung „Arbeit und Beschäftigung“. Er plädiert für die Einführung eines echten Vertrags der Großregion, um die bilateralen Abhängigkeiten zu verringern. Ein Gespräch über Ungleichheiten, politische Integration und Weihnachtsbeleuchtungen.

Zur Person

Franz Clément (53) hat Politikwissenschaften an der Universität Louvain (B) studiert. Danach hat er seine Promotion im Fachbereich Soziologie in Paris am „Conservatoire national des arts et métiers“ über die Tripartite in Luxemburg geschrieben. Er arbeitet seit 1997 am Liser in Luxemburg und wohnt in Martelange auf der belgischen Seite.

Tageblatt: Herr Clément, Sie sind Belgier. Haben Sie auch mal als Grenzgänger in Luxemburg angefangen?

Franz Clément: Ja. Ich bin immer noch Grenzgänger. Als ich im Liser angefangen habe, habe ich mich im Rahmen des europäischen Netzwerks Eures mit der Förderung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb der EU beschäftigt. In der Großregion arbeiten 25 Prozent aller Erwerbstätigen grenzüberschreitend. Die Großregion ist die größte Grenzgängerregion innerhalb der EU.

Knapp 216.000 Grenzgänger sind es mittlerweile. Leben sie in einer Art „rechtsfreien Raum“, weil letztendlich ihr Wohnland für sie zuständig ist?

Ja und nein. Die Grenzgänger in Luxemburg zahlen ihre Steuern in Luxemburg und profitieren vom Sozialsystem. Das heißt, im Großen und Ganzen sind sie der Bevölkerung, die in Luxemburg wohnt, gleichgestellt. Trotzdem existieren regionale Unterschiede – je nach Herkunftsland. Ein Beispiel: Belgier und Franzosen dürfen 48 Tage im Jahr Zuhause in Telearbeit arbeiten, Deutsche dürfen das nur 19 Tage. Das schreiben binationale Abkommen fest.

Die Ungleichheiten gelten auch für den Fall einer Arbeitslosigkeit …

Das stimmt. Es ist eine der Ausnahmen im Sozialsystem. Im Falle einer Arbeitslosigkeit bekommen Grenzgänger Arbeitslosengeld in ihrem Wohnland auf der Basis der dort gültigen Sätze. Die ADEM springt nur für die ersten drei Monate ein.

Klingt ungerecht …

Arbeitgeber, Staat, Gewerkschaften, jeder weiß, dass die Grenzgänger gebraucht werden, um die Wirtschaft in Luxemburg am Laufen zu halten. Wenn sie gebraucht werden, müssen sie auch gleichbehandelt werden.

Wollen Sie deswegen weg von „Zusammenarbeit“ hin zu politischer Integration in der Großregion?

Ja. Heute ist die Großregion ein Raum der Kooperation. Manche sagen, das ist ein „Europa im Kleinen“. Ich sehe das nicht so. Die EU ist ein Raum politischer Integration seit den Verträgen von Rom 1957. Die Mitgliedsstaaten haben damals zugestimmt, Teile ihrer Verantwortung an die EU abzutreten und sie auf die EU zu übertragen. In der Großregion ist das nicht der Fall. Sie basiert auf bilateralen Kooperationen mit den jeweiligen Ländern, aus denen die Grenzgänger kommen. Ein Beispiel: Das deutsch-luxemburgische Schengen-Lyzeum. Die Gründung dieser Schule fußt auf einer bilateralen Vereinbarung zwischen Luxemburg und dem Saarland. Es gibt für die Großregion keinen wirklichen politischen Raum, in dem Entscheidungen getroffen werden, die für die ganze Region gleichermaßen gelten.

Die Großregion in Zahlen

Rund 216.000 Grenzgänger arbeiten laut Statec, die Zahlen stammen aus dem 4. Quartal 2021, in Luxemburg. Davon kommen 50.502 aus Belgien, 51.000 aus Deutschland und 114.920 aus Frankreich.  Insgesamt gibt es in Luxemburg rund 464.000 Beschäftigte, davon wohnen rund 248.000 in Luxemburg, der Rest sind Grenzgänger. Laut der interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle IBA lebten im Jahr 2019 rund 11,6 Millionen Menschen auf dem Gebiet der Großregion. Es umfasst die Wallonie (B), Lothringen (F) und die beiden Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland (D) sowie die Bevölkerung des Großherzogtums.  

Genau das fordern Sie aber, oder?

Um die Großregion handlungsfähiger zu machen, braucht es internationale Verträge zwischen den beteiligten Nationen. Das gab es ja schon mal mit Benelux. Dann können Vereinbarungen ausgehandelt werden, die für den ganzen Raum gelten. Belgien plant gerade ganz in der Nähe von Arlon ein Krankenhaus. In Esch entsteht das „Südspidol“. Wäre es nicht eine Idee gewesen, ein belgisch-französisch-luxemburgisches Krankenhaus zu planen? Die Großregion steckt nach wie vor in national geprägten Denkmustern. Es gibt keinen Geist, großregionale Entscheidungen zu treffen.

War die Pandemie der Auslöser für Überlegungen wie diese?

Sie hat das unterstützt. Schauen Sie nur mal die unterschiedlichen Einreisebestimmungen von Land zu Land während der letzten zwei Jahre. Sie haben in einem so kleinen Raum die Mobilität richtig kompliziert gemacht. Mit einem politischen Vertrag hätte man die Bestimmungen einheitlich für alle an der Großregion Beteiligten regeln können.

Hohe Benzinpreise, lange Anfahrten: Trotz des ständigen Anstiegs der Zahl der Grenzgänger entscheiden sich einige dafür, wieder in ihrem Wohnsitzland zu arbeiten …

Ich kann das verstehen, weil ich heute Morgen wieder zwischen Arlon und Esch gesehen habe, was auf der Autobahn los ist. Da überlegt man sich schon, weniger Gehalt in Kauf zu nehmen und kürzere Arbeitswege zu haben. Trotzdem werden weiterhin Grenzgänger kommen. Wenn die luxemburgische Wirtschaft bleiben will, was sie ist, braucht es rund 10.000 Arbeitnehmer zusätzlich pro Jahr. Aber: Die Pandemie hat die Bedeutung der Telearbeit gezeigt. Man hat das auf den Straßen gesehen. Ich denke, man muss das viel mehr ausbauen, um den Verkehr zu entzerren. Das gilt natürlich nur für die Berufe, wo es geht.

Liser-Experte Franz Clément: Er fordert einen politischen Vertrag für alle an der Großregion beteiligten Regionen
Liser-Experte Franz Clément: Er fordert einen politischen Vertrag für alle an der Großregion beteiligten Regionen Foto: Editpress/Tania Feller

Franzosen und Deutsche sind unzufrieden über den Vorteil der Junckers-Reynders-Lösung. Die Regierung handelt das ziemlich arrogant ab. Ist das Sprengstoff für die Großregion?

Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Grenzgänger nicht gleichberechtigt behandelt werden. Das Junckers-Reynders Abkommen geht auf die „Union économique belgo-luxembourgeoise“ (UEBL) von 1921 zurück. In den letzten 100 Jahren hat sich aber viel verändert. Ich persönlich befürworte auch Steuerabkommen mit den anderen Ländern. Es ist nicht normal, dass Belgien profitiert und Frankreich, aus dem Land kommen über 50 Prozent der Grenzgänger, nichts bekommt. Es muss ein allgemein gültiges Steuerabkommen mit allen Nachbarn geschlossen werden.

Premier Xavier Bettel (DP) hat aber doch gesagt, er zahlt keine Weihnachtsbeleuchtung bei den Nachbarn …

Genau das passiert aber in Belgien. Da kommt ein Briefumschlag mit Geld in Brüssel an und Brüssel verteilt das auf die Regionen, aus denen Grenzgänger kommen. Danach können die Gemeinden damit machen, was sie wollen. Sie könnten also auch Weihnachtsschmuck dafür kaufen …

Die luxemburgische „Rentenmauer“ ist ein Problem, das näher rückt …

Ja, aber nicht gleich. In den nächsten 10-20 Jahren stellt das noch kein Problem dar. Aber danach. Und das muss überlegt werden. Jedes Jahr ermahnt die Europäische Kommission Luxemburg, langfristig Vorschläge für eine Reform des Rentensystems auszuarbeiten. Es gibt aber einen fast schon dogmatisch anmutenden Willen, dies eben nicht zu tun. Die Arbeitgeber wollen es, die Gewerkschaften sind strikt dagegen. Es muss aber in den nächsten zehn Jahren angegangen werden.

Lothringen beklagt Fachkräftemangel vor allem im Gesundheitsbereich, das Saarland ebenso. Wer kann, geht nach Luxemburg arbeiten …

In Luxemburg wird netto mehr verdient, das ist klar. Das dünnt die Krankenhäuser jenseits der Grenze aus. In Arlon wurde zum Beispiel eine Prämie in Höhe von 7.000 Euro für diejenigen eingeführt, die sich mindestens drei Jahre fest an das Krankenhaus binden. Andererseits muss man sagen, in Luxemburg werden angesichts der wachsenden Bevölkerung gerade Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen gebraucht. Es gibt für Krankenschwestern keine Ausbildung im Großherzogtum.

Gibt es optimistische Aussichten für die Zukunft der Großregion?

Ich denke, man muss jetzt schnell handeln. Der erste Schritt ist die Erleichterung der Telearbeit.

HTK
5. Mai 2022 - 21.47

Mit all den Experten die täglich vorgestellt werden dürften wir doch eigentlich längst aus dem Schneider sein. Aber mir dünkt das Gegenteil ist der Fall. Ein weinig wie der PC,der Probleme löst die wir früher nicht hatten. Oh mei.

Bux /
5. Mai 2022 - 15.13

„Nach wie vor in nationalen Denkmustern“....., das konnte man wieder bei der letzen Triparti beobachten... Der Gehaltsverzicht für alle Arbeitnehmer wird nur in den nationalen Grenzen kompensiert. Das war zwar sehr clever, aber Verstand ohne Anstand ist meist zu kurz gedacht.