Entspannung durch ASMR: Was Haareanfassen und der Maler Bob Ross gemeinsam haben

Entspannung durch ASMR: Was Haareanfassen und der Maler Bob Ross gemeinsam haben

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Mit der Zunge schnalzen, mit den Fingern über das Mikrofon streichen, Papier zerknüllen, mit der Schere Geräusche machen … und das Ganze filmen, das ist ASMR. Wieso macht man es und was löst es bei den Zuschauern aus?

Seit einigen Jahren kursieren auf YouTube diese komischen Videos. Sie sollen gestressten Menschen helfen „runterzukommen“, eine Einschlafhilfe darstellen und sogar eine therapeutische Wirkung bei diversen psychischen Erkrankungen haben. Viele sind inzwischen sogar regelrecht süchtig nach den Videos.

Aber um was handelt es sich dabei eigentlich? ASMR steht für „Autonomous Sensory Meridian Response“. Das Phänomen entstand im Jahr 2010 im angloamerikanischen Raum und breitet sich seither rasant aus. Ausgangspunkt für den Trend waren YouTube-Videos. Inzwischen gibt es Millionen solcher Filme. Einige YouTuber haben inzwischen eigene ASMR-Kanäle ins Leben gerufen, auf denen sie regelmäßig neue Videos posten.

ASMR wird oft als Gegenpol zur hektischen, kurzlebigen und stressigen Welt angesehen. Es sind grob gesagt Alltagsgeräusche, die auf unsere Psyche wirken. In den Filmen, die zwischen einigen Minuten und mehreren Stunden dauern können, tippen die Protagonisten vor der Kamera gegen Glasvasen, streichen über ihren Pullover, cremen sich die Hände ein, schneiden oder zerknüllen Papier, waschen minutenlang diverse Objekte unter fließendem Wasser usw. Meist flüstern sie dabei. Das schafft Nähe und eine intime Atmosphäre, die zum Wohlfühlen einlädt, und gibt Sicherheit, heißt es. Leises Vorlesen ist ebenfalls eine beliebte ASMR-Technik, genauso wie Rollenspiele. So simulieren z.B. Personen vor der Kamera einen Friseur- oder Arztbesuch.

Geräusche, die man sonst nur im Hintergrund hört, rücken in den Vordergrund. Diese akustischen, visuellen und taktilen Sinnesreize werden Trigger genannt. Sie entfalten ihre Wirkung am besten, wenn man Kopfhörer benutzt, erklären die Produzenten der Videos, die sich auch ASMRtists nennen.

Angenehmes Kribbeln

Visuelle Reize gehören ebenfalls zu den Triggern. So beobachten viele Leute gerne ASMR-Künstler beim Zeichnen oder Malen. So erfreuen sich z.B. die Videos des US-amerikanischen Malers und Fernsehmoderators Bob Ross großer Beliebtheit.
Aber auch haptische Reize (Berührungen etc.) rufen manchmal etwas bei den Zuschauern hervor. Hier löst vor allem das Haareanfassen angeblich ASMR aus. Nagellack- oder Make-up-Auftragen sind außerdem ebenfalls beliebt.

Viele Nutzer beschreiben das Anschauen der Videos dann auch als beruhigend, stimulierend. Einige berichten von einem Kribbeln im Hinterkopf, einem kalten Schauer oder Gänsehaut, die sich vom Schädel über den Rücken bis hin in die Arme und Beine ziehen kann. Das sind im Fachjargon sogenannte „Tingels“. „Ich liebe es, die Videos abends auf dem Sofa, nach einem stressigen Tag an der Uni, zu sehen. Es kommt häufig vor, dass ich dann selig einschlafe“, erklärt Clara (20). Auch Claude, ein Banker Mitte 40, schwört auf die beruhigende Wirkung der Filme. „Ich liebe Barber- und Massagevideos, sie dürfen aber nicht zu lang sein.“ Seine Frau Maria (39) kann indes nichts mit dem neuen Hype anfangen. „Mich langweilt das nur. Es ist reine Zeitverschwendung. Aber manchen Menschen scheint es zu helfen.“

ASMR wirkt also nicht auf jedermann. Es gibt in der Tat viele Menschen, welche die Geräusche einfach nur nerven oder für die ASMR reine Theorie ist. Jeder reagiert anders auf die Reize. Warum aber ist unsere Wahrnehmung so unterschiedlich? „Weil jeder Mensch sich neurologisch voneinander unterscheidet“, sagen Experten.

ASMR wird auch oft mit Synästhesie in Verbindung gebracht. Bei Synästheten, die nur etwa 4 Prozent der Bevölkerung ausmachen, verknüpfen sich Reize, die eigentlich nicht zusammengehören. Dieses Phänomen betrifft zum Beispiel die Farbe und Temperatur (wie warmes Grün), aber auch Töne, die Musik oder die Räumlichkeit. Die Ursachen liegen laut Wissenschaftlern im Gehirn und der Genetik. Seit den 1990er Jahren existieren Methoden, um die Synästhesie wissenschaftlich zu erfassen.

ASMR ist jedoch noch nicht viel erforscht worden. Im Augenblick fehlen einfach die Erfahrungswerte. Größere Studien sind noch Mangelware. Einige Forscher berufen sich auf die sogenannten Nachtvideos, die im Fernsehen nach Sendeschluss gezeigt werden und bei denen zum Beispiel Städte oder Landschaften überflogen werden, Bilder in Schleife gezeigt werden … Auch sie sollen eine beruhigende, einschläfernde Wirkung haben.
Wenn man die Videos anschaut, sollte man aber eines nicht vergessen: Den PC, das Tablet usw. sofort nach dem Video abschalten, denn das blaue Licht der Bildschirme ist wenig hilfreich für einen gesunden Schlaf.

Suchtpotenzial

Auch warnen Spezialisten prophylaktisch vor einem zu großen Konsum. Wie bei jedem neuen Trend bestehe eine gewisse Suchtgefahr. So gab es bereits Fälle von Menschen, die stundenlang vor ihrem PC oder Fernseher saßen, sich ASMR-Videos angeguckt haben und sich gar nicht mehr davon lösen konnten.

Die Werbewelt hat in Zwischenzeit ebenfalls ASMR für ihre Zwecke entdeckt. Und auch viele Prominente, darunter viele Hollywood-Schauspieler, veröffentlichen immer mehr ASMR-Performances.

Jetzt, da der Trend immer mehr in die Öffentlichkeit drängt, beschäftigen sich auch immer mehr Forscher damit. Man muss ihnen aber Zeit geben, um das Phänomen zu analysieren, Studien durchzuführen und die Ergebnisse auszuwerten. Also heißt es jetzt: abwarten und Tee trinken – und warum nicht ein ASMR-Video dabei gucken.


Mittel gegen Depressionen?

Es gibt nicht viele ausführliche Studien über ASMR oder wie es genau auf die Zuschauer wirkt. Nur wenige Untersuchungen gehen weiter als die einfache Beschreibung des Phänomens. Es wird aber angenommen, dass sich ASMR positiv auf die Gesundheit der Betrachter auswirkt. Auch bei Patienten mit einer Depression oder Menschen, die unter Angstzuständen leiden, soll ASMR helfen. So wurde bei den Probanden der Studie von Barratt und Davis ein deutlicher Stimmungsanstieg beim Schauen der Videos verzeichnet, der sogar noch Stunden danach noch anhielt. Je stärker die Depression, desto höher war zudem der Stimmungssprung.

Quasi alle Befragten (98%) der Studie gaben des Weiteren an, dass sie ASMR als entspannend empfinden. Bei 82% halfen die Videos beim Einschlafen. 70% konnten durch das Anschauen der Filme Stress abbauen. 5% gaben an, durch die Videos sexuell erregt worden zu sein. Für die breite Mehrheit stellt ASMR aber keinen sexuellen Fetisch dar. Einige erklärten sogar, dass ihre chronischen Schmerzen durch das Anschauen der Videos gelindert wurden.

Bei der Untersuchung wurden außerdem Hirnscans bei den Teilnehmern durchgeführt. Es wurde herausgefunden, dass bei Menschen, die auf ASMR ansprechen, manche Gehirnregionen, darunter jene, die für die Sinneswahrnehmung verantwortlich sind, enger miteinander verknüpft sind, andere dafür aber weniger. Da aber nur 11 Personen pro Gruppe (pro-ASMR und anti-ASMR) untersucht wurden, konnte man keine aufschlussreichen Ergebnisse erzielen. Um einen etwaigen therapeutischen Nutzen von ASMR zu beweisen, bedarf es deshalb laut Experten weiterer Analysen und Feldstudien.

Einige Zahlen

Trotz der Tatsache, dass ASMR ein relativ junges Phänomen ist, hat es schon eine beachtliche Entwicklung hinter sich. Inzwischen gibt es laut Schätzungen mehr als 13 Millionen ASMR-Videos. Die Filme der bekanntesten ASMRtisten, wie die Russin mit dem Pseudonym „Maria Gentle Whispering“, werden über 80 Millionen Mal angeklickt. Von den weltweit 50 beliebtesten Produzenten von ASMR-Videos sind die Mehrheit Frauen. In Deutschland gibt es schätzungsweise etwa 50 ASMR-Künstler.
Obwohl der Internet-Trend an Bedeutung gewinnt, steckt seine wissenschaftliche Erforschung noch in den Kinderschuhen. Es gibt nur einige, nicht-repräsentative Umfragen und Studien zum Thema. In einer dieser Umfragen gaben in den USA 53 von 91 Befragten an, dass ASMR bei ihnen eine Wirkung erzielt.

In einer anderen detaillierteren Analyse von Emma L. Barratt und Nick J. Davis aus dem Jahr 2015 wurden 247 Personen im Alter von 18 bis 54 Jahren befragt. Hierbei kam unter anderem heraus, dass das Flüstern (75%), die persönliche Aufmerksamkeit (69%), das Knistern, Knacken und Rascheln (64%), langsame Bewegungen (53%) und sich wiederholende Bewegungen (36%) die Haupt-Trigger von ASMR sind. Aber auch ein einfaches Lächeln (13%), Flugzeug-Geräusche (3%), Staubsauger-Töne (2%) und Lachen (2%) erzielen eine Wirkung bei ASMR-affinen Personen.

„Den richtigen Ton treffen“

Lara ist 20, Psychologiestudentin und seit einiger Zeit ASMRtistin, auch wenn sie sich noch gar nicht in dieser Rolle sieht. „Durch mein Studium habe ich ASMR entdeckt und angefangen, mich dafür zu interessieren. Außerdem wollte ich immer schon Videoclips drehen. Ich fange aber erst damit an. Meine Produktionen werden von Freunden veröffentlicht, ich habe noch keinen eigenen Kanal. „Meine Videos sind noch nicht so ausgereift wie bei anderen. Auch weiß ich noch nicht, was die Leute interessiert. Das kommt mit der Erfahrung.“

Ihre Clips scheinen aber gut anzukommen. „Meine Freundinnen sagen, ich hätte sie schon mehrmals in den Schlaf gewiegt. Das macht mich zuversichtlich“, grinst sie. Über die Videos sagt sie, es würde an sich nicht lange dauern, sie herzustellen. „Man hält die Kamera drauf, natürlich im richtigen Winkel und los geht es. Bei ASMR ist vor allem der Ton wichtig. Hier erfordert die richtige Einstellung schon etwas Zeit und Mühe.“ Welche Ambitionen sie hat, wollte das Tageblatt wissen. „Keine speziellen. Ich mache das aus Spaß. Wenn sich viele Menschen meine Filme anschauen, desto besser. Reich werde ich aber wahrscheinlich nicht damit“, erklärt Lara und lacht.