Emigranten sind das größere Problem: Abwanderung beunruhigt Süd- und Osteuropäer

Emigranten sind das größere Problem: Abwanderung beunruhigt Süd- und Osteuropäer
Inoffizielles Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, wo mehr Flüchtlinge leben als Einheimische. / Foto: AFP

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Von Polen bis Italien gehen populistische Parteien vor den Europawahlen mit der Angst vor einer Überfremdung auf Stimmenfang. Dabei sind es weniger die Immigranten als die Emigranten, die Ost- und Südeuropäer beunruhigen: Die verstärkte Abwanderung der Jungen macht der EU-Peripherie zu schaffen.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Belgrad

Zu „Europas Schicksalsfrage“ hat Ungarns nationalpopulistischer Premier Viktor Orban vor den Europawahlen im Mai wieder einmal den von ihm forcierten Feldzug gegen die Immigration erklärt.

Ungarns Ziel sei es, dass die „migrationsablehnenden Kräfte“ erst im Europaparlament, dann in der EU-Kommission und schließlich als Ergebnis nationaler Wahlen auch im Europäischen Rat die Mehrheit erlangten, erklärt er seine Absicht, die Europawahlen zum Votum gegen die Migration zu machen: „Die traditionelle Einteilung der Parteien in rechts und links ist einer Einteilung in migrationsfördernd und migrationsablehnend gewichen.“

Tatsächlich segelt der Rechtsausleger laut den heimischen Prognosen auch bei den Europawahlen einem weiteren sicheren Sieg entgegen. Doch im Gegensatz zu West- und Mitteleuropa ist es keineswegs das Thema der Immigration, das den Wählern und Nichtwählern in Ost- und Südeuropa am meisten unter den Nägeln brennt: Es ist die verstärkte Abwanderung vor allem junger Landsleute, die an der EU-Peripherie die Bürger der ärmeren Mitgliedsstaaten beunruhigt.

46.000 Europäer in 14 der 29 EU-Mitgliedstaaten hat die paneuropäische Denkfabrik ECFR mithilfe des Meinungsforschungsinstitutes YouGov im Februar und März befragen lassen, welche Sorgen sie vor den bevorstehenden Europawahlen am meisten umtreiben.

Mit 23 Prozent liegt das Thema Einwanderung europaweit zwar vor Arbeitslosigkeit, Lebenshaltungskosten, Gesundheitswesen, Korruption und Umwelt. Doch schlüsselt man die Prioritätenliste nach Ländern auf, ergibt sich ein differenzierteres Bild.

Andere Länder, andere Sorgen: Nur in vier reichen EU-Staaten wie Österreich, Deutschland, Dänemark und Schweden ist Zuwanderung das wichtigste Thema. Für Rumänen, Ungarn, Tschechen, Spanier, Italiener und Polen hingegen ist die sich beschleunigende Emigration eine gewichtigere Sorge als das Luxusproblem der Immigration: Selbst in Orbans Ungarn zeigten sich mit 39 Prozent fast doppelt so viele der Befragten über die Auswanderung besorgt als über die Einwanderung (20 Prozent).

Koffer gepackt

Der Osten und der Süden von Europas Wohlstandsbündnis drohen zunehmend zu vergreisen. Statistisch wandert beispielsweise alle drei Minuten ein Rumäne ab: Der Karpatenstaat hat im letzten Jahrzehnt nicht nur über ein Zehntel seiner Bevölkerung, sondern auch über ein Viertel seiner Ärzte durch Emigration verloren. 95 Prozent der in städtischen Regionen lebenden Rumänen kennen zumindest einen verwandten oder bekannten Landsmann, der bereits im Ausland lebt.

Laut einer 2018 veröffentlichten Studie planen 21 Prozent der noch im Land verbliebenen Rumänen, in den nächsten zwei Jahren selbst die Auswanderkoffer zu packen. Nur 4 Prozent wollen den Karpatenstaat für immer verlassen. Die zweifelnde Mehrheit schließt eine Rückkehr zumindest nicht aus.

55 Prozent der Rumänen empfinden die Emigration denn auch als „Problem“ – eine Einschätzung, die im Einwanderungsland Schweden nur von 4 Prozent und in Deutschland nur von 8 Prozent der Befragten geteilt wird.

Während viele im Osten und Süden des Kontinents bereits auf gepackten Koffern sitzen, würden andere den Exodus ihrer Landsleute am liebsten gesetzlich beschränken: Ein zeitweises Verbot oder die Kontrolle der Emigration befürworten über die Hälfte der Spanier, Griechen, Italiener und mehr als ein Drittel der Polen, Ungarn und Rumänen.