ObdachlosigkeitEine Sache des Vertrauens: Viele Betroffene tun sich schwer damit, Hilfe anzunehmen

Obdachlosigkeit / Eine Sache des Vertrauens: Viele Betroffene tun sich schwer damit, Hilfe anzunehmen
Der Weg von der Straße zurück in die Gesellschaft ist schwer und steinig. Oft führt die kleinste Hürde dazu, dass man wieder bei null anfangen muss.  Foto: Editpress/Isabella Finzi

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Ein junger Obdachloser bewegt derzeit die Gemüter in der Gemeinde Käerjeng. Fast gleichzeitig stirbt ein junger Musiker aus Luxemburg in Berlin auf offener Straße. Beide, so sagen Bekannte und Behörden, haben Hilfsangebote regelmäßig abgelehnt. Ein gängiges Phänomen, wie Experten auch in Luxemburg bestätigen. Die Gründe dafür sind unterschiedlichster Natur.

„Eigentlich müsste in Luxemburg niemand auf der Straße leben“, unterstreicht Sarah*. „Mit den Notfallunterkünften, Tagesfoyers, Betreuungsprogrammen, Sozialämtern und Beschäftigungsinitiativen gibt es auf infrastruktureller Ebene ausreichend Angebote. Ob diese aber den aktuellen Bedürfnissen der Obdachlosen entsprechen, ist eine andere Frage“, so die gelernte Sozialarbeiterin. Zehn Jahre hat sie zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn mit Obdachlosen gearbeitet. „Bis der Job mir bis nach Hause gefolgt ist“, erklärt die 37-Jährige. „Plötzlich konnte ich Tag und Nacht nur noch an meine Schützlinge denken. Jeden Misserfolg habe ich persönlich genommen“, fährt sie fort. Der Druck, jeden Einzelnen von der Straße holen zu wollen, sei ihr plötzlich zu viel geworden.

Kräftezehrend sei die Arbeit mit Obdachlosen, Erfolge seien selten. „Man muss viel Geduld aufbringen, regelmäßig Präsenz zeigen und sich nicht entmutigen lassen“, erklärt die junge Frau, die gleichzeitig um Verständnis für Obdachlose wirbt. Die Gründe, weshalb eine Person plötzlich auf der Straße landet, seien mannigfaltig. „Und genauso komplex sind die Umstände, die dazu führen, dass den Betroffenen jeder einzelne Schritt raus aus ihrer Lage so schwerfällt.“

Man dürfe Obdachlose nicht an alltäglichen Maßstäben messen. „Diesen Fehler begehen viele Menschen, wenn auch unbewusst: Sie versuchen sich in die Lage der Betroffenen zu versetzen und wenden dabei Denkmuster an, die dem normalen Leben entstammen. Genau darin aber liegt das Problem: Das Leben in Obdachlosigkeit ist alles andere als normal. Es gibt immer Gründe, weshalb Menschen auf der Straße landen“, betont Sarah. Und oft seien es diese Gründe, die sie daran hindern, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Fälle wie der des 25-jährigen Johnny sind ihr nur allzu sehr vertraut. Seit über einem Monat schon lebt der junge Mann auf einem Spielplatz. Nur bei extremer Kälte übernachtet er in den Räumlichkeiten der „Wanteraktioun“ auf Findel. Ansonsten hat er in einem Betonrohr nicht unweit einer Wohnsiedlung in der Gemeinde Käerjeng Unterschlupf gefunden. Hier und da lässt er sich von Nachbarn und Unbekannten unter die Arme greifen, die ihm Nahrung, Decken und Kleidung zustecken. Hilfsangebote der Behörden aber hat er bis dahin ausgeschlagen.

Keine Sache des Willens

„Er braucht nur ins Sozialamt zu kommen, und schon hat er ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett, eine heiße Dusche und zwei Mahlzeiten am Tag“, erklärte die Käerjenger Schöffin Josée-Anne Siebenaler-Thill im Gespräch mit dem Tageblatt. Die Gemeinde hat sich nämlich übers Sozialamt bereit erklärt, dem jungen Mann den Aufenthalt in einer Jugendherberge zu zahlen. Angenommen aber hat er das Angebot bisher nicht.

Dass Johnny keine Ausnahme darstellt, weiß auch Alexandra Oxaceley. Die Direktorin der „Stëmm vun der Strooss“ hat regelmäßig mit solchen oder ähnlichen Fällen zu tun. „Oft geht es dabei nicht um den Willen, sondern ums Können!“, betont die langjährige Vorsitzende der bekannten Obdachlosenhilfe aus Bonneweg. Für Außenstehende sei es leichter, über Betroffene zu urteilen, als sich mit den Gründen für deren Lage auseinanderzusetzen. „Dabei ist es ein weiter, steiniger Weg aus der Obdachlosigkeit zurück in die Gesellschaft“, gibt Oxaceley zu bedenken. „Manche haben diese Kraft, andere wiederum nicht!“

Insbesondere der erste Schritt falle vielen Betroffenen schwer, sagt Sozialarbeiterin Sarah, die inzwischen nur noch mit Jugendlichen arbeitet. Zu sehr habe die Arbeit mit Obdachlosen an ihrer Psyche gezehrt. „Ich konnte irgendwann nicht mehr damit umgehen, dass meine Hilfe ausgeschlagen wurde, auch wenn ich noch so viel Verständnis für die Gründe habe“, gibt die junge Frau zu. Oft sei es eine Sache des Stolzes, aber öfter noch eine Vertrauensangelegenheit.

Es ist ein weiter, steiniger Weg aus der Obdachlosigkeit zurück in die Gesellschaft

Alexandra Oxaceley, Direktorin „Stëmm vun der Strooss“

„Viele Obdachlose haben das Vertrauen in die Gesellschaft verloren“, meint Sarah. Dieses müsse man zuerst wieder aufbauen. So sieht es auch Alexandra Oxaceley: „Es reicht nicht, einem Obdachlosen eine Karte zuzustecken mit den Worten: Geh doch mal dahin! Streetworker müssen viel Zeit und Geduld investieren und langsam wieder eine Beziehung aufbauen. Nur dann kann man sie vielleicht dazu bewegen, Hilfe anzunehmen“, so das Gesicht der „Stëmm vun der Strooss“.

Leider kann die kleinste Hürde dazu führen, dass man wieder bei null anfangen muss: Verschlossene Türen, beschäftigte Sozialarbeiter oder sogar nur die Frage nach einem Termin haben durchaus das Potenzial, Betroffene zu verunsichern und zu entmutigen. Ähnliches gilt bei Sozialarbeitern oder Streetworkern, die ihrem Job nicht gewachsen sind: „Leider gibt es in jedem Beruf die einen und die anderen“, betont Oxaceley. „Eine schlechte Erfahrung mit einem Streetworker kann zu Misstrauen führen. Beim nächsten Mal fällt es den Betroffenen nicht mehr so leicht, um Hilfe zu bitten. Ohne Vertrauen läuft hier nichts!“

Mit der Zeit falle es Betroffenen immer schwerer, um Hilfe zu bitten. Junge Menschen mit schlechten Erfahrungen hingegen verbinden die Straße mit Freiheit, ihre Clique mit einer Familie. „Bei vielen dauert es eine Weile, bis ihnen ein Licht aufgeht und sie sich dazu entscheiden, doch nicht auf diese Art und Weise leben zu wollen“, muss Oxaceley immer wieder feststellen.

Eine Sache des Vertrauens: Alexandra Oxaceley kennt die Gründe, weshalb viele Obdachlose nicht um Hilfe bitten
Eine Sache des Vertrauens: Alexandra Oxaceley kennt die Gründe, weshalb viele Obdachlose nicht um Hilfe bitten Foto: Editpress/Hervé Montaigu

„Nicht mehr zu retten“

So schwer es auch fällt, das einzugestehen: Es gibt immer Menschen, für die jede Hilfe zu spät kommt. „Einigen Obdachlosen kann man noch so viel Hilfe anbieten … Sie sind nicht mehr zu retten“, gesteht die Direktorin der „Stëmm“. In dem Fall bleibe nur die Möglichkeit, diesen Menschen das Leben auf der Straße so angenehm wie nur möglich zu gestalten. „Ein warmer, trockener Platz zum Schlafen, Nahrung und Zugang zu medizinischer Hilfe: Minimale Grundrechte sollten wir diesen Menschen schon zukommen lassen. Dass sie nicht gezwungen sind, in Mülltonnen nach Nahrung zu wühlen“, so Oxaceley.

Luxemburg könnte sich ein Beispiel an Projekten in französischen Städten wie Dijon nehmen, wo Obdachlosen nicht mehr als vier Wände und ein Dach über dem Kopf angeboten wird. Unregelmäßig schaut ein Sozialarbeiter nach dem Rechten. Ansonsten können sie ohne weitere Regeln dort mit ihrer Matratze und ihren wenigen Habseligkeiten hausen, gar Alkohol und Drogen konsumieren. Meist befindet sich ein Heim in der Nähe, wo sie im Notfall Hilfe erhalten. Auch wenn sie auf sich alleine gestellt sind, haben sie zumindest ein Dach über dem Kopf und die Möglichkeit, sich schnell medizinische Hilfe zu holen.

In Luxemburg scheint eine solche Initiative derweil unvorstellbar. Kritiker sorgen sich um die Sicherheit vor Ort, um fehlende Regeln. Genau die aber sind im Großherzogtum oft das Problem, darin sind sich Sarah und Alexandra einig. Heime wie das Foyer Ulysse, das Abrisud oder gar die Winteraktion sind mit gewissen Regeln verbunden, die viele Obdachlose davon abhalten, dort um Hilfe zu bitten. In manchen Unterkünften sei zudem die Sicherheit ein Problem. Oft sind es aber nur „Kleinigkeiten“ wie das Ausfüllen kurzer Formulare oder die Angabe persönlicher Daten. Ohne Anmeldung in einem Foyer aber haben die Obdachlosen auch keine Adresse. Und ohne Adresse können sie keine Arbeitslosenhilfe beantragen. Ein Teufelskreis, aus dem viele nicht auszubrechen vermögen.

Luxemburg sei in vielen Hinsichten führend, sagt Alexandra Oxaceley. Doch könne man sich durchaus ein Beispiel an Frankreich nehmen, wo in manchen Städten mit weniger Mitteln mehr erreicht werde. So ist auch die Obdachlosenhilfe hierzulande nicht ganz frei von Kritik. Ihr sei etwa aufgefallen, dass die Arbeit mit Obdachlosen im Großherzogtum oft auf Ausschlüssen oder Strafen gründe. „Repressiv“ nennt Sarah die Herangehensweise mancher Organisationen, die mit Obdachlosen zu tun haben. „Wer sich nicht an die Regeln hält, muss sofort gehen. Wer einen Termin nicht einhält, braucht nicht mehr anzufragen. Schwierige Fälle werden oft ausgesondert, die Betroffenen als verloren abgestempelt“, so die junge Frau.

„Das Problem ist, in Luxemburg können wir die Menschen zu nichts zwingen. Dabei wäre es manchmal vielleicht angebracht“, gibt Alexandra Oxaceley zu bedenken. Tatsächlich ist die Schwelle für Entmündigungen hierzulande extrem hoch. Nur wenn absolut erwiesen werden kann, dass der Betroffene eine Gefahr für andere und sich selbst darstellt oder schwerwiegende psychische Probleme vorliegen, nur dann kann die Person auch entmündigt werden. Obdachlose, die sich weigern, Hilfe anzunehmen, gelten dem Luxemburger Gesetz nach aber nicht als Gefährdung für sich selbst.

Dennoch: „Man sollte nie die Hoffnung aufgeben“, sagt Alexandra Oxaceley. „Man soll nicht glauben, weil ein Fall im Misserfolg endet, sei ein weiterer Fall auch zum Scheitern verurteilt. Je länger man aber tatenlos zusieht, umso größer die Chance, dass es auch wirklich schiefgeht …“

* Der Name wurde auf Wunsch der Betroffenen von der Redaktion geändert

Der Fall „Johnny“

Das Tageblatt hat vor einigen Tagen über einen 25-jährigen Mann aus der Gemeinde Käerjeng berichtet, der dort auf einem Spielplatz in einem Betonrohr übernachtet. Er selbst sei nach Streitigkeiten mit seinen Eltern von der Polizei des Hauses verwiesen worden und versuche jetzt, die Zeit bis März zu überbrücken. Dann dürfe er hoffentlich wieder nach Hause. In der Zwischenzeit versorgen ihn Menschen aus der Umgebung mit Decken, Nahrung und Kleidung. Weiterführende Hilfe aber schlägt der junge Mann aus. Inzwischen haben sich auch die „Stroossen Englen“ eingeschaltet, wollten den 25-Jährigen mit einem Schlafsack, Decken und einer warmen, trockenen Schlafunterlage versorgen. Doch ist „Johnny“, wie er sich selbst nennt, seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen worden. Niemand weiß, wo er sich gerade aufhält. Mit etwas Glück ist der junge Mann inzwischen irgendwo untergekommen.

Leila
23. Januar 2021 - 11.03

"Jeder ist seines Glückes Schmied" oder "Wie man sich bettet, so liegt man" ist oft wahr (Betonung auf OFT). Ich kenne verhältnismäßig viele, die in ihren guten Zeiten das Geld mit vollen Händen ausgaben, aber nicht für's Alter vorsorgten. Heute leben sie von Sozialhilfe und jammern. Sie erinnern mich an die Fabel "Die Grille und der Ameise" von Jean de la Fontaine.

CESHA
23. Januar 2021 - 7.46

"Jeder ist seines Glückes Schmied" - ist eine bequeme Ausrede für Wohlhabende, welche nicht gerne darüber nachdenken wollen, warum andere Menschen ein so elendes Leben führen müssen

Jimbo
22. Januar 2021 - 13.54

En Iesel kann e och just bei dBach brengen, et kann e en net zwengen vir ze drénken! Jiddereen lieft sain kuerz Liewen, wei et em grad gefällt. A wann et em net gefällt, muss en ëppes änneren. Jeder ist deines Glückes Schmied.

en ale Sozialist
22. Januar 2021 - 12.54

Es ist psychologisch bewiesen, dass in vielen Fällen, der Helfer für seine Hilfe vom Hilfsbedürftigen sogar verachtet wird. Aus welchen Gründen auch immer. Niemand will schwach sein und die Wenigsten wollen ihre Schwäche zeigen oder zugeben. Falscher Stolz? Scham? Kein Wunder in dieser Ellbogengesellschaft, wo der Mensch an seiner Leistung und an seinem Erfolg gemessen wird, wobei die Mittel beides zu erreichen zweitrangig sind. Hat nicht ein grosser Dichter vor langer Zeit gefordert" edel sei der Mensch, hilfreich und gut "? Da stellen sich heute viele Zeitgenossen die Frage , was diese Tugenden ihnen denn unter dem Strich einbringen. Materiell gesehen , nichts. Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, sehr viel.

CESHA
22. Januar 2021 - 7.43

"Es gibt für jeden Hilfe" - theoretisch! Aber wer sich schon mal mit Behörden wie dem Arbeitsamt oder der Pflegeversicherung herumschlagen musste, der kann gut nachvollziehen, dass viele Menschen mit diesem Papierkrieg völlig überfordert sind und lieber einfach aufgeben.