ReportageEine Reise in den Ural in einem Russland vor den Wahlen

Reportage / Eine Reise in den Ural in einem Russland vor den Wahlen
Russlands Außenminister Sergej Lawrow ruft in einer Straße von Tscheljabinsk zur Wahl auf: „Wir sind ein einiges Russland.“ Foto: Inna Hartwich

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Russland wählt in diesen Tagen sein Parlament. In Tscheljabinsk, der Schwermetall-Industriestadt im Südural, kämpfen manche für ordentliche Bürgersteige, sauberes Wasser, den Einzug in die Duma. Die Menschen gehen beharrlich dagegen an, dass ihnen die Luft abgeschnürt wird. Im wirklichen wie im politischen Sinne.

In einem kurzen Moment strahlt sie gelöst. „Hach“, sagt sie in die Abendsonne hinein, „da bin ja ich“. Auf einem Plakat am Straßenrand blickt eine Frau mit dunklen Haaren, hellen Ohrsteckern und einem rosafarbenen Blazer in die Landschaft. „Wachtina Jelena, Wahlkreis 189, Nummer 2 auf dem Wahlzettel“, steht darauf. Es ist ein seltener Anblick im Wahlplakate-Dickicht in Tscheljabinsk, dieser Millionenmetropole knapp 1.500 Kilometer östlich von Moskau. Einer Stadt, die in Russland für ihre Schwerindustrie bekannt ist und in der Welt für den Meteoriten, der vor acht Jahren in einen See in der Nähe stürzte.

Nur vier solcher Schilder stehen in der Gegend, für mehr fehlt Jelena Wachtina das Geld. Die 45-Jährige tritt gegen die Regierungspartei „Einiges Russland“ an, sie hat sich dem Umweltschutz verschrieben und sich mit ihrer Losung „Für saubere Luft“ auf die Liste der „Kommunisten Russlands“ setzen lassen, weil „ich an Leute glaube, nicht an Parteien“, wie sie sagt. Und weil sie als Einzelkämpferin nicht weit käme. Wahlkampf braucht finanzielle Mittel. Der linke Populismus der von der Kommunistischen Partei abgespaltenen „Kommunisten Russlands“ stört sie wenig.

Jelena Wachtina (im blauen Mantel) lässt sich von den Dorfbewohnern von Sadowy berichten, wie auf der illegalen Mülldeponie hinter ihren Häusern Abfall verbrannt wird
Jelena Wachtina (im blauen Mantel) lässt sich von den Dorfbewohnern von Sadowy berichten, wie auf der illegalen Mülldeponie hinter ihren Häusern Abfall verbrannt wird Foto: Inna Hartwich

Von Freitag an wählt Russland an drei Tagen sein Parlament. Es ist eine inhaltsleere Wahl, eine, bei der die Menschen eine Handbewegung machen, als wollten sie eine lästige Fliege wegscheuchen. Für die Machtelite aber gilt es, den Status quo zu erhalten. Nervös verteilt sie Geldgeschenke an Rentner und Soldaten, preist die Familie oder lässt noch kurz hübsche Promenaden herrichten. Die Menschen sagen weiterhin: „Wir haben nichts zu entscheiden.“ Jelena Wachtina in Tscheljabinsk hat vor fünf Jahren, als ihr damals achtjähriger Sohn mit kaputtem Schädel in einer Klinik lag, entschieden, dass sie etwas zu entscheiden hat. Dass sie raus will aus der „jahrzehntelang antrainierten Hilflosigkeit“, wie sie die Apathie vieler Russen bezeichnet.

So steuert sie an einem Mittwochabend ihren dunklen Subaru durch die Dorfstraße von Sadowy, einem einstigen Agrartestgelände der örtlichen Universität. Auch hier will sie ihr Gesicht zeigen, will sagen: „Ich bin da, ich stelle Fragen, ich fordere Antworten.“ Ein paar Dutzend Dorfbewohner wussten sich nicht anders zu helfen, als sie, die lokale Abgeordnete, zu sich zu rufen, damit sie sich ein Bild von der illegalen Mülldeponie, wie sie sagen, unweit ihrer Häuser machen könne. „Uns hört sonst niemand“, sagen sie und zeigen Wachtina und der von ihr mitgebrachten YouTuberin Walentina Wolkowa den Industrieschrott auf den Feldern, den gestapelten Plastikmüll in offenen Säcken, die aufgewühlte Erde. „Wir können kaum atmen, wenn hier der Müll brennt“, klagen sie. Wachtina weiß, wie es ist, wenn die Luft zum Atmen fehlt. Alle in Tscheljabinsk wissen es.

Einst war die Stadt Hauptumschlagplatz für Tee und Getreide. Ein kleiner Ort am Fuße des Uralgebirges, reich an Rohstoffen drumherum. In den 1930er Jahren folgte die Industrialisierung. Auch Gulag-Häftlinge und deutsche Kriegsgefangene bauten am Hüttenwerk, förderten Bodenschätze, errichteten Stadtteile rund um die Werke. Tscheljabinsk, dem baschkirischen Wortursprung nach „die Edle“, wurde zur „Fabrikstadt“, einem Ort, der nur existiert, weil es die Kombinate gibt.

Man könnte hier Filme über den Weltuntergang drehen

Eine Viertelstunde dauert es mit dem Auto, um das Metallurgische Viertel – noch auf Stadtgebiet – zu durchfahren. Schlote ragen in den schwarzen Himmel, weißer Rauch steigt aus einem Rohr hinauf, Kühltürme stehen hie und da, in der Ferne verfallen die alten Werksgebäude, die Erde ist rostbraun verfärbt, auf den Dächern der fensterlosen, aufgegebenen Bauten wächst Gras. Die Abraumhalden sind zuweilen so hoch wie fünfstöckige Gebäude. „Es ist eine Gegend, in der sich gut Filme über den Weltuntergang drehen ließen“, sagen sie hier. Die Werke – Metallurgie, Kohle, Zink, Eisenerz, Chrom, Stahl, Farben, Lacke, Maschinenbau – sichern der Stadt das Überleben und machen die Menschen krank. Bis heute.

Wenn der Westwind kommt, ist die Stadt eingehüllt in einen dichten, grauen Nebel. Die Sonne schimmert da als unscharfer gelblicher Ball in der Ferne. Die Augen tränen, der Hals kratzt, auf der Zunge breitet sich ein süßlich-metallischer Geschmack aus, die Hände jucken, im Kopf pocht es. „Ungünstige meteorologische Bedingungen“ nennen sie hier, im Kessel am Fuße des Gebirges, die Lage. In manchen Nächten seien die Ausstöße gut sichtbar. Halte man die Hand aus dem Fenster, werde sie ganz staubig, erzählen die Menschen. Viele Kinder litten an Asthma. Die Konzentration von Formaldehyd habe im vergangenen Monat den zulässigen monatlichen Standard um das 2,5-fache überschritten, heißt es beim Hydrometeorologischen Zentrum der Stadt. Auch die Werte von Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Ammoniak, Fluorwasserstoff, Stickstoffdioxid und selbst Schwefelwasserstoff seien erhöht. Hochgiftige Gase, die die Tscheljabinsker täglich einatmen.

„Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen, bin wahrscheinlich so an diesen Dreck gewöhnt, dass ich ihn nicht spüre“, sagt Lew Wladow, als er durch die Fußgängerzone seiner Stadt läuft. Manchmal ertönt hier Vogelgezwitscher durch die Lautsprecher, die echten Vögel haben sich längst verzogen. „Unsere Stadt baut auf Raubbau der Natur und schöpft aus dem Wert der Bodenschätze. Die Metallurgie steht über dem Menschen. Und wir als Tscheljabinsker verstehen nicht, was wir sein wollen“, sagt der 29-Jährige. Wenn er in seinem hellen, wehenden Mantel durch die Straßen läuft, wird er immer wieder von jungen Menschen gegrüßt, manche fragen schon einmal nach einem Autogramm. Wladow ist bekannt in der Stadt, weil er sich nicht scheut, in den sozialen Netzwerken die Machtelite Tscheljabinsks scharf anzugehen. Er will die Stadt verändern, die Bürger darüber aufklären, in was für einem Ort sie leben und wie diese – nicht sonderlich für Menschen gemachte – Gegend doch an Lebensqualität gewinnen könnte. Durch Projekte, die woanders auf der Welt längst zum gängigen Stadtbild gehören: städtische Erholungszonen, Radverkehr, Elektromobilität.

Der Urbanist Lew Wladow in der Fußgängerzone von Tscheljabinsk. Aus den Lautsprechern ertönt künstliches Vogelgezwitscher.
Der Urbanist Lew Wladow in der Fußgängerzone von Tscheljabinsk. Aus den Lautsprechern ertönt künstliches Vogelgezwitscher.

Der gelernte Bauingenieur nennt sich „Tscheljabinsker Urbanist“ und erklärt mit Fotos und Videos, was es mit dem Städtebau auf sich hat. Er kritisiert die neu eröffnete Uferpromenade, die ins Nichts führt, er prangert etliche Treppenstufen in den Straßen an, fordert immer wieder eine Stadt für Fußgänger. „Das Ziel jedes jungen Menschen hier ist es, ein eigenes Auto zu haben. Das kann es doch nicht sein“, sagt er. Zum Schmutz aus den Fabriken kommt die Verschmutzung durch die Autos.

„Ein ungemütlicher Ort, wo gearbeitet und gelitten wird“

Anfang der 2000er Jahre hatte der damalige Bürgermeister Michail Jurewitsch dem Stau in der Stadt den Garaus machen wollen. Mit der sogenannten „Straßenrevolution“ ließ er gnadenlos Bäume abholzen, Bürgersteige machten Autostraßen Platz. Die Verkehrsachsen der Stadt sehen bis heute aus, als würden hier Flugzeuge starten und landen. Die Stadt ist langgezogen, der öffentliche Nahverkehr liegt brach. Über die breiten Straßen und Prospekte fahren klapprige Trolleybusse und noch klapprigere Straßenbähnchen. „Wir sehen die Zerstörung, machen aber nichts dagegen. Unsere Beamten sehen keine Nachfrage an eine Stadt als Stadt an sich“, sagt der junge Urbanist und meint, viele in der Stadt sähen in Tscheljabinsk einen „ungemütlichen Ort, wo gearbeitet und gelitten wird“.

Nachfragen aber, sinniert er, entstünden erst durchs Reisen, durchs Sehen dessen, was man zuvor nicht gesehen habe. Lew Wladow war 23, als er sein wenige Jahre zuvor gegründetes Unternehmen für die Reparatur von Elektronik verkaufte und sich in die Welt aufmachte: nach Frankreich, Italien, Deutschland. „Das war mein Schlüsselmoment. Ich begann, mich umzuschauen, und verstand: Hier in Tscheljabinsk stimmt etwas nicht.“ Er durchwanderte seine Stadt zu Fuß, stolperte über kaputte Bordsteine, regte sich über Zäune auf, die entlang der Straßen, manchmal auch in zweifacher Ausführung, aufgestellt werden und gewann Zehntausende Abonnenten in den sozialen Netzwerken. Mittlerweile hat er ein kleines Architekturbüro, realisiert mit Gleichgesinnten Mini-Städtebauprojekte und widmet sich der Geschichte. „Wir schwelgen immer noch in den Erinnerungen an den Krieg, setzen auf Militarisierung und Patriotismus. Dabei müssten wir lernen zu leben.“ Atmen sei ein erster Schritt dafür.