Gedanken in Zeiten der PandemieEine Herausforderung für das Gesundheitssystem

Gedanken in Zeiten der Pandemie / Eine Herausforderung für das Gesundheitssystem
 Foto: Cole Burston/Getty Images/AFP

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„Je länger die soziale Distanzierung und Isolation anhält, desto eher treten bei einem größeren Personenkreis schwerwiegende Symptome und Verhaltensauffälligkeiten auf“, betont Georges Steffgen, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Luxemburg.

„Nach Auftreten des Coronavirus wurde zügig von medizinischer Seite belegt, dass dieser Erreger sich direkt von Mensch zu Mensch überträgt. Dies bereits bevor ein Infizierter Symptome wie Fieber oder Husten entwickelt. Ob der Erreger nur über eine Tröpfcheninfektion oder auch durch eine Schmierinfektion übertragen werden kann, ist dabei noch nicht abschließend geklärt. Ausgegangen wird jedoch davon, dass die Übertragung primär über Sekrete der Atemwege erfolgt.

Eine nachvollziehbare Entscheidung von politischer Seite war es dann, eine unkontrollierte, explosionsartige Weiterreichung des Erregers möglichst zu verhindern, um das bestehende Gesundheitssystem vor einer nicht zu bewältigenden Überlastung zu bewahren und dadurch Menschenleben zu schützen und zu retten.

Entscheidungsträger aus unterschiedlichen Ländern haben zur Erreichung dieses Ziels divergierende Strategien entwickelt. Die gewählten politischen Eingriffe variieren dabei hinsichtlich des Grades, in dem direkte physische bzw. soziale Kontakte zwischen Menschen noch ermöglicht werden. Die Vorgehensweisen reichen hierbei von einfachen politischen Aufforderungen, Abstand zueinander zu wahren, z.B. durch Social Distancing wie in Schweden, bis hin zu gesetzlichen Vorgaben zu Ausgangssperren und Massenquarantäne wie in Frankreich oder China.

Die politischen Entscheidungsträger in Luxemburg haben sich dabei sukzessive dazu entschieden, fast alle gesellschaftlichen, kulturellen, bildungsrelevanten und wirtschaftlichen Aktivitäten, soweit sie zu einer Ansammlung von mehreren Menschen führen, zu untersagen. Durch Social Distancing und Quarantänemaßnahmen, insbesondere bei vulnerablen Personen, Verdachtsfällen, Infizierten und schwer Erkrankten, wurden die direkten sozialen Kontakte zwischen Menschen verringert bzw. verhindert. Insgesamt wurden die Einwohner und Grenzgänger zu einem ,Bléift doheem!’ aufgefordert, soweit eine Mobilität berufsbedingt nicht zwingend erforderlich ist.

Für fast jeden in Luxemburg Lebenden bedeuten diese Maßnahmen eine Verstärkung der sozialen Ausgeschlossenheit. Weshalb ist diese Zunahme an sozialer Isolation nun als ein gesundheitsrelevantes Problem anzusehen?

Konsequenzen der sozialen Isolation 

Menschen bedürfen per se – unabhängig davon, ob genetisch oder sozialisationsbedingt begründet – eines befriedigenden sozialen Kontaktes. Wenn jedoch durch die verminderte Häufigkeit und/oder die geringere Qualität der persönlichen Kontakte die eigenen Beziehungsbedürfnisse nicht erfüllt werden, erleben sich Menschen als sozial isoliert.

Für Menschen, die sich isoliert oder ausgeschlossen fühlen, kann dies wiederum weitreichende gesundheitsrelevante Konsequenzen aufweisen. Eine Vielzahl an empirischen Studien belegt, dass anhaltende Gefühle der Isolation nicht nur zu akuten Stressreaktionen und zu Depressionen, sondern auch zu gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie schwere Erschöpfung, zu Ärger und Aggressionen wie häusliche Gewalt sowie zu einer erhöhten Suizidgefährdung führen können. Zudem kann Ausgeschlossenheit und Isolation altruistisches Verhalten verringern, z.B. durch weiteren sozialen Rückzug, und dadurch insgesamt den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft gefährden.

Erschwerend ist, wenn diese soziale Isolation nicht selbstgewählt ist, sondern durch eine andere Instanz vorgegeben wird. Der damit einhergehende Kontrollverlust über das eigene Handeln erweist sich dann häufig als zusätzlicher Belastungsfaktor. Das derzeit verstärkte Auftreten solidarischen Verhaltens sowie soziale Unterstützungsmaßnahmen von Menschen können dabei auch als eine Bewältigungsreaktion auf den erlebten Kontrollverlust gedeutet werden. Diese Verhaltensweisen erlauben es Menschen, wieder Kontrolle über ihre Lebenssituation zurückzugewinnen.

Das derzeit verstärkte Auftreten solidarischen Verhaltens sowie soziale Unterstützungsmaßnahmen von Menschen können dabei auch als eine Bewältigungsreaktion auf den erlebten Kontrollverlust gedeutet werden

Georges Steffgen, Professor für Sozialpsychologie

Hervorzuheben ist, dass vergleichbar zu den individuell unterschiedlichen körperlichen Reaktionen bei den Virus-Infizierten auch bei sozial Isolierten die psychischen Reaktionen unterschiedlich sein können. Spielt bei Covid-19 das Immunsystem des Menschen eine wesentliche Rolle, ob jemand erkrankt, so sind es bei der sozialen Isolation die Ressourcen und Kompetenzen, über die ein Mensch verfügt, die die Psyche mit beeinflussen. Dies bedeutet, dass nicht jeder, der sozial isoliert lebt, zwangsläufig die beschriebenen Symptome aufweisen wird.

Basierend auf den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ist jedoch davon auszugehen, dass je länger die soziale Distanzierung und Isolation anhält, desto eher treten bei einem größeren Personenkreis schwerwiegende Symptome und Verhaltensauffälligkeiten auf. Daher erscheint es zum einen erforderlich, darüber nachzudenken, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Form und in welcher Häufigkeit direkte soziale Kontakte wieder ermöglicht werden können. Zum anderen ist zu überlegen, wie eine über die Phase der sozialen Isolation hinausreichende systematische psychologische Unterstützung gestaltet werden kann. Das Ganze unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die aufgeführten negativen Auswirkungen der sozialen Isolation zum Teil zeitverzögert auftreten können und stark mit den sozioökonomischen Lebensbedingungen wie z.B. geringer Wohnraum, alleinerziehend oder geringes Einkommen zusammenhängen.

Neben der Physis auch die Psyche des Menschen stärken 

Angesichts der negativen Folgen, die eine soziale Isolation auslösen kann, haben sich die luxemburgischen Entscheidungsträger dazu entschlossen, der Bevölkerung Verhaltensweisen zu vermitteln, anhand derer auch unter erschwerten Bedingungen der soziale Kontakt aufrechterhalten bleiben kann, z.B. durch das Nutzen moderner Kommunikationstechnologien. Die zusätzlich eingerichteten Hotlines ermöglichen sozial isolierten Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind oder unter akuten Stressreaktionen wie Angstattacken leiden bzw. Suizidgedanken entwickeln, sich an unterstützende Fachkräfte zu wenden.

Aufgrund der aufgeführten längerfristigen Konsequenzen einer sozialen Isolation wie posttraumatische Stressreaktionen erscheint es jedoch unerlässlich, dass an angemessenen, nachhaltig ausgerichteten Lösungen zur Behandlung der zu erwartenden psychischen Belastungen gearbeitet wird.

Entsprechend der medizinischen Herausforderung, das Auftreten und die Verbreitung des Erregers zu verhindern, gilt es ebenso, die psychologische Herausforderung zu berücksichtigen. Hier ist die erforderliche psychologische Gesundheitsversorgung so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Wesentliche Schritte könnten hier darin bestehen, a) die derzeit vorhandenen institutionell getragenen psychologisch-psychotherapeutischen Behandlungsangebote so auszubauen, dass sie dem zusätzlichen Behandlungsbedarf gerecht werden sowie b) basierend auf dem bereits 2015 gestimmten Psychotherapeutengesetz eine angemessene kassenärztliche Kostenerstattung für zu erbringende psychotherapeutische Dienstleistungen zu gewährleisten. Dies würde insbesondere den sozioökonomisch benachteiligten Menschen zugutekommen.

Haben in Luxemburg die politischen Entscheidungsträger in dieser Gesundheitskrise – auch aus psychologischer Sicht – eine Vielzahl angemessener Entscheidungen getroffen und umgesetzt, so ist zu wünschen, dass der eingeschlagene gesundheitsorientierte Weg auch in Zukunft konsequent fortgesetzt wird.“